Toni Morrison war mehr als fünf Jahrzehnte lang die große Chronistin afro-amerikanischer Erfahrungen. Am Montag ist sie im Alter von 88 Jahren (nach einer kurzen Krankheit) in New York gestorben. Geboren wurde sie 1931, während der Großen Depression, in einer Kleinstadt im US-Bundesstaat Ohio, die vor allem von der Stahlproduktion lebte. Als Verlagslektorin und später als Autorin hat sie eine literarische Heimat für die Stimmen der Afro-Amerikanerinnen geschaffen, unter anderem durch ihre Romane The Bluest Eye (dt. Titel: Sehr blaue Augen), Song of Solomon (Solomons Lied) und Beloved (Menschenkind). Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, wie den Pulitzer-Preis, den Nobelpreis, the Légion d’Honneur und eine Presidential Medal of Freedom, die ihr ihr Freund Barack Obama 2012 überreichte. Zunehmend wurde ihr Werk zu einem festen Bestandteil dessen, woraus das US-amerikanische Leben gemacht ist, da ihre Literatur im ganzen Land ihren Weg in die Highschool-Lehrpläne fand.
In einem Statement zu "unserer geliebten Mutter und Großmutter" erklärte Morrisons Familie: "Obwohl ihr Tod einen enormen Verlust bedeutet, sind wir dankbar, dass sie ein langes und ausgefülltes Leben hatte. Wir danken allen, die sie persönlich oder durch ihre Arbeit gekannt und geliebt haben, für die Unterstützung in dieser schwierigen Zeit. Dennoch bitten wir darum, unsere Privatsphäre zu respektieren, während wir um diesen Verlust für unsere Familie trauern."
Bernie Sanders nennt sie eine Legende
Am Dienstag würdigten Schriftsteller, Politiker und Schauspieler die Autorin. Der demokratische Präsidentschaftskandidat Bernie Sanders schrieb auf Twitter: "Heute haben wir eine amerikanische Legende verloren. Möge sie in Frieden ruhen." Die demokratische Kongressabgeordnete Ilhan Omar schrieb tröstend: "Ich bewahre alle in meinem Herzen, die Toni Morrisons Literatur berührt hat".
Margaret Atwood nannte Morrison eine "Gigantin ihrer und unserer Zeit... Dass ihre starke Stimme in diesem Zeitalter, in dem in den USA und anderen Teilen der Welt erneut Minderheiten angegangen werden, fehlt, ist eine Tragödie für diejenigen von uns, die noch da sind."
Das Haus, in dem Morrison 1931 geboren wurde, steht rund eineinhalb Kilometer von der Lorain Stahlfabrik in der gleichnamigen Kleinstadt in Ohio entfernt. Es war die erste von zahlreichen Wohnungen, in denen die Familie lebte. Neben seinen Fabrikschichten machte Morrisons Vater Gelegenheitsjobs, um die Miete zu verdienen. Er widersetzte sich seinem Vorgesetzten und nahm einen zweiten gewerkschaftlich organisierten Job an, damit er seine Tochter aufs College schicken konnte. Nach ihrem Englischstudium an der Howard University und der Cornell University kehrte Morrisson nach Washington DC zurück, um zu unterrichten. Sie heiratete den Architekten Howard Morrison und bekam zwei Söhne.
Als die Ehe nach sechs Jahren geschieden wurde, zog sie 1965 nach Syracuse in Upstate New York und begann als Verlagslektorin zu arbeiten. Dort wurde ihr klar, dass der Roman, den sie gerne gelesen hätte, nicht existierte und begann ihn selbst zu schreiben. “Ich hatte zwei kleine Kinder in einem kleinen Ort“, erzählte sie 1979 der New York Times, „Und ich war sehr einsam. Das Schreiben war etwas, das ich abends tun konnte, wenn die Kinder schliefen.”
Das Buch, das sie vermisste, führte Morrison zurück nach Lorain und zu einem Gespräch, dass sie in der Grundschule geführt hatte. 1993 schrieb sie, wie „wütend sie geworden sei“, als ihre Freundin ihr erzählte, sie wünsche sich blaue Augen. “Ihr Wunsch zeugte implizit von rassistischer Selbst-Verachtung“, schrieb Morrison. “Und zwanzig Jahre später fragte ich mich immer noch, wie man so etwas eigentlich lernt. Wer hat es ihr gesagt? Wer hat ihr das Gefühl vermittelt, dass es besser wäre, ein Freak zu sein, als so, wie sie ist? Wer hatte sie angesehen und befunden, dass ihr etwas fehlt, dass sie so ein kleines Gewicht auf der Schönheitswaage darstellt? Der Roman kratzt an diesem Blick, der sie so verurteilt hat.“
Während der fünf Jahre, die sie an The Bluest Eye schrieb, zog Morrison nach New York City und begann Romane von Angela Davis, Henry Dumas und Mohammed Ali zu veröffentlichen. Von ihrem eigenen Roman erzählte sie ihren Kollegen nichts. In einem Gespräch mit der Paris Review im Jahr 1993 bezeichnete Morrison ihr Schreiben als „private Angelegenheit“. “Ich wollte, dass es ganz mir gehört“, erklärte sie. “Denn sobald man darüber spricht, sind andere Leute darin involviert.”
Nicht nur literarisch schreiben
1970 mit einer Erstauflage von 2.000 Exemplaren veröffentlicht machte The Bluest Eye kein Hehl aus seinem schwieriges Thema. Der knallharte erste Satz des Romans wand sich über das Cover: “Wenn auch niemand darüber spricht: es gab im Herbst 1941 keine Ringelblumen. Wir glaubten damals, die Ringelblumen gingen nicht auf, weil Pecola von ihrem Vater ein Baby bekam.“ Die New York Times pries Morrisont dafür, in ihrer Prosa eine "kulturelle Antriebskraft“ zu nutzen, „die speziell dafür geschaffen zu sein scheint, Möglichkeiten zu ermorden", "so präzise, so der Sprache treu und so voller Schmerz und Wunder, dass der Roman zur Poesie wird" - eine Beschreibung, die für den Rest ihrer Karriere an der Autorin haften blieb.
In einem Gespräch mit dem Politikmagazin New Republic erklärte sie 1981 dagegen, dass sie Bücher schreiben wolle, die “nicht nur, nicht einfach literarisch“ sind. Andernfalls würde sie „ihre Absicht ebenso verfehlen wie ihr Publikum”. Deswegen „mag ich es nicht, wenn jemand meine Bücher ‚poetisch’ nennt“, erklärte sie. „Denn das hat eine Konnotation von schwelgender Fülle. Ich wollte der Sprache, die schwarze Menschen sprechen, ihre ursprüngliche Kraft zurückgeben. Das erfordert eine Sprache, die reich, aber nicht verschnörkelt ist.”
Während sie aus der Sprache ihrer Familie und Nachbarn drei weitere Romane schmiedete, fand Morrison zunehmend Anerkennung. 1983 verließ sie ihren langjährigen Arbeitgeber, den Random House-Verlag, um sich ganz dem Schreiben zu widmen. Beloved zementierte ihren Status als nationaler Figur in den USA: Der eindringliche Roman spielt in der Mitte des 19. Jahrhunderts und erzählt von einer Sklavin, die ihr eigenes Baby getötet hat.
Wir erzeugen Sprache
Als der Roman auf der Shortlist für den National Book Award nicht weiter kam, unterzeichneten 48 Schriftstellerinnen und Schriftsteller einen Protestbrief, in dem sie der Verlagsindustrie „einen Fehler und schädliche Willkür“ vorwarfen. “ Trotz Toni Morrisons internationalem Format steht noch die nationale Anerkennung aus, die ihre fünf größeren Romane voll und ganz verdienen“, schrieben sie weiter. “Es fehlen die wichtigen Ehrungen durch den National Book Award oder den Pulitzerpreis.“ Fünf Monate später erhielt Beloved den Pulitzerpreis, der eine Welle von Auszeichnungen auslöste.1 993 wurde sie als erste schwarze Frau mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet.
In Romanen, die vom 17. Jahrhundert bis zum heutigen Tag reichen, blieb die afro-amerikanische Erfahrung Morrisons großes Thema, das sie weiter auslotete – ein Projekt, dass sie 2015 gegenüber der New York Times als „ohne den weißen Blick zu schreiben“ beschrieb. Nie fürchtete sie sich davor, was die USA betraf, ihre Meinung zu äußern. 1998 etwa verteidigte sie Präsident Bill Clinton gegen Kritik und nannte ihn den „ersten schwarzen Präsidenten“ des Landes. Als Reaktion auf den Tod des jungen Schwarzen Travyon Martin, der von einem Nachbarschaftswachtmann erschossen wurde, zählte sie die „zwei Dinge auf, die ich erleben möchte. Das erste ist ein weißer Jugendlicher, der von einem Cop in den Rücken geschossen wird. Ist noch nie passiert. Das zweite, was ich erleben möchte: eine Aufzeichnung über jeden weißen Mann in der ganzen Weltgeschichte, der verurteilt wurde, weil er eine schwarze Frau vergewaltigt hat. Nur einen.” Ihr letztes Buch, die Essaysammlung Mouth Full of Blood wurde 2019 veröffentlicht.
In ihrer Nobelpreisrede 1993 verdeutlichte Toni Morrison die Gefahren von “gewaltsamer Sprache, die mehr als Gewalt repräsentiert; sie ist Gewalt; repräsentiert mehr als die Grenzen von Wissen; sie limitiert Wissen”. Alternativ definierte sie eine positive Vision von „Wort-Arbeit“, eine, die „Bedeutung schafft, die unsere Andersartigkeit sicherstellt, unsere menschliche Andersartigkeit – also, inwiefern wir uns von anderen Lebensformen unterscheiden”. “Wir sterben”, sagte sie. “Das mag die Bedeutung des Lebens sein. Aber wir erzeugen Sprache. Das ist möglicherweise das Maß unserer Lebens.”
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