Populisten erkennt man daran, dass sie behaupten, ihre Lösungen würden niemanden etwas kosten – und alle außer ihnen würden unentwegt lügen
Die populistischen Bewegungen von heute schreiben ihren Gegnern grenzenlose Verschlagenheit und nahezu übernatürliche Kräfte zu. Sie können Märkte und Medien manipulieren, die Regierungen anderer Länder beeinflussen und auf unendliche Ressourcen zurückgreifen, während sie planen, uns, das Volk, zu betrügen.
Das Volk ist in dieser Lesart rechtschaffen und anständig. Alles, was Populisten tun, tun sie in unserem Namen. Gleichzeitig halten sie die Leute aber auch für ein bisschen doof. Denn ohne die unermüdlichen Anstrengungen der populistischen Parteien würden uns die Eliten für die leutseligen Trottel halten, die wir sind, und uns wie Schafe in ihre Pferche treiben.
„Da geht etwas vor sich und das ist nichts Gutes“, sagt Donald Trump in Bezug auf die Terroranschläge in Europa und sein Publikum brummt zufrieden, dass endlich ein Politiker sagt, wie es ist. Das „es“ können die Mexikaner sein, Muslime, der angebliche Zusammenhang zwischen Impfungen und Autismus, Kennedy-Attentäter Lee Harvey Oswalds enge Beziehung mit der Familie Cruz oder die angebliche Ermordung des Richters Antonin Scalia durch Linksradikale.
Bei den seltenen Anlässen, bei denen Trump widersprochen wird und er zugeben muss, dass der beigeordnete Richter am Obersten Gerichtshof der USA nicht von Linken ermordet wurde und der Vater seines Rivalen nicht am Anschlag auf JFK beteiligt war, greift er auf die Ausrede eines jeden Fantasten zurück, der in die Enge getrieben wurde: Dann hat er plötzlich „nur eine Frage gestellt“.
Das britische Unterhaus forderte Dominic Cummings, den Leiter der offiziellen Leave-Kampagne für den Austritt aus der EU, zu einer Erklärung auf. Wie sei es erklärbar, dass so wenige nationale wie internationale, private und öffentliche Institutionen der Ansicht seien, Großbritannien könne außerhalb der Europäischen Union prosperieren? Cummings folgte der Trump’schen Argumentation. Dunkle Mächte würden andere Stimmen zum Schweigen bringen und einschüchtern und so die Debatte manipulieren. Der neutrale öffentliche Dienst sei korrupt. Nichts von dem, was sie erzählen, sei wahr. Nur die wachsamen, einzig wahren Freunde des Volkes seien Willens und in der Lage, das ganze Lügengebäude zu durchschauen.
„Aus dem Kabinettsbüro von Jeremy Heywood gehen Anrufe nach draußen, in denen Leute zu hören bekommen, sie sollten sich besser nicht auf die andere Seite schlagen. Sonst könnten ihnen schlimme Dinge zustoßen“, erklärte Cummings. Von den Wählerinnen könne man nicht erwarten, dass sie die Machenschaften der Regierung durchschauen. Die Anweisungen der Eliten seien „auf sehr englische Art subtil formuliert“. Gegenteilige Meinungen würden durch Drohungen aus dem Regierungsviertel zum Schweigen gebracht, „manche offener“, und der Großteil vermutlich „weniger deutlich sichtbar“.
„Euch könnten schlimme Dinge zustoßen.“ „Da geht etwas vor sich und das ist nichts Gutes.“ Das Abgleiten des Populisten in Paranoia verlangt nach Erklärung, denn die Bewegungen, die sich in den westlichen Demokratien gerade eines mächtigen Zulaufs erfreuen, haben ja zunächst einmal ganz vernünftige Argumente. Und ihre Kritik ist durchaus begründet. Damit will ich nicht sagen, dass ich mit ihnen übereinstimme, sondern lediglich, dass sie nicht von utopischen Fantasien angetrieben werden, zumindest oberflächlich betrachtet nicht.
Großbritannien, oder der größte Teil davon, würde außerhalb der EU zurechtkommen, genauso wie Schottland alleine zurechtgekommen wäre, hätte es das Vereinigte Königreich verlassen. Aus demokratischer Sicht haben der schottische und der britische Nationalismus gute Argumente auf ihrer Seite. Sowohl ein unabhängiges Schottland als auch ein unabhängiges Großbritannien hätten den Effekt, dass Politiker wieder mehr Verantwortung für ihre Entscheidungen übernehmen müssten und der Souverän wieder mehr zu entscheiden hätte.
Die Argumente, die Trump, die rechtspopulistische Partei Ukip und all die anderen populistischen europäischen Parteien gegen Menschen auf der Flucht und Einwanderer anführen, sind rassistisch. Doch es hat auch noch keine Kultur in der Geschichte der Menschheit gegeben, die einen unbegrenzten Zuzug begrüßt hätte. Die Anti-Einwanderungsbewegungen unterscheiden sich in ihrer Funktionsweise nicht so sehr von den nationalistischen Bewegungen. Auch der schottische Nationalismus braucht einen Feind. Für ihn ist das vermeintlich Andere der englische Nationalismus. Die Leave-Kampagne ist unterdessen – trotz gegenteiliger Beteuerungen – zu kaum mehr als einer Kampagne zur Kontrolle der britischen Grenzen verkommen.
Warum also die Paranoia und die Opferrolle? Warum die Schauspielerei, wenn die eigenen Behauptungen infrage gestellt werden? Warum, vor allem, das Beharren darauf, dass diejenigen, die ihnen widersprechen, Lügner sind? Nicht Verirrte oder Verwirrte, sondern bewusste, kaltblütige Betrüger des ausgebeuteten Volkes?
Jede Regierung auf der Welt, die es gut mit uns meint, ist der Ansicht, dass wir in der EU bleiben sollten. Als Barack Obama sich in diese Richtung äußerte, zeigte der derzeitige Londoner Bürgermeister Boris Johnson, dass er die Fantasien der US-amerikanischen Rechten à la Trump kennt und teilt. Der Präsident der Vereinigten Staaten sei nicht mehr länger der engste Verbündete Großbritanniens, ließ Johnson uns wissen. Obama wolle, dass Großbritannien darbt, siecht und zugrunde geht, denn seine „zum Teil kenianische“ Herkunft mache ihn zu einem modernen Mau-Mau, der entschlossen sei, uns für die Sünden des Empires bezahlen zu lassen. Wenn der IWF und alle anderen Finanzinstitutionen erklären, es werde Großbritannien außerhalb der EU schlechter ergehen, wiederholt Vote Leave die Schmähungen der schottischen Nationalisten und wirft seinen Kritikern vor, Großbritannien zu schaden.
Ihr Verhalten versteht nur, wer sich dem Voodooismus verschrieben hat und sich einbildet, seine Feinde kontrollierten eine weltweite Verschwörung von unbegrenzter Reichweite. Oder wie Ukips Douglas Carswell erklärte, als er sich in den David Icke der Rechten verwandelte: „Die Kampagne für den Verbleib in der EU scheint aus dem US-amerikanischen Außenministerium, Investmentbanken, Lobbyisten und Bürokraten des britischen Außenamtes zu bestehen.“
Wenn man sich als Opfer einer Verschwörung des Establishments begreift, fällt es einem natürlich leicht, seine eigenen Lügen zu rechtfertigen. Die Mächte, die sich gegen einen verschworen haben, sind so finster und allgegenwärtig, dass gegen sie jede Taktik legitim erscheint – alles, abgesehen von Selbstkritik.
Populisten werfen anderen Unehrlichkeit vor, weil sie selbst nicht ehrlich sein können. Ich will hier nicht die weißen Arbeiterinnen verunglimpfen, die Trump und Ukip unterstützen. Sie wurden von der neoliberalen Globalisierung abgehängt und müssen sich nun den Spott einer liberalen Kultur anhören, die sich über ihre Sorgen lustig macht. Diese Menschen sitzen der Suggestion auf, in der Demokratie gehe es zu wie in einem Supermarkt, in dem man mitnehmen kann was man will, ohne bezahlen zu müssen. Wir können eine souveräne Verbraucherentscheidung treffen, ob wir die Union mit England oder die EU verlassen oder an der Grenze zu Mexiko eine Mauer errichten wollen, ohne dass wir dafür einen Preis zu bezahlen hätten.
Ein echter Nationalist von dem Format eines Churchill würde erklären, dass der Kampf um die Freiheit Blut, Schweiß und Tränen kosten werde. Wenn er die Unabhängigkeit garantiere, sei dies Leid und die Entbehrungen aber wert. Churchills vermeintliche Nachfolger tun so, als müsse keine einzige Träne verdrückt werden und kein Tropfen Blut fließen. Sie folgen dem Muster, das von den schottischen Nationalisten vorgegeben wurde: Sie tun bis heute so, als würde die Unabhängigkeit keine Opfer abverlangen. Obwohl mittlerweile feststeht, dass ein unabhängiges Schottland in die Knie gehen würde.
Wenn Menschen mit Beleidigungen um sich werfen, meinen sie insgeheim häufig sich selbst. Der pöbelnde Homophobe erweist sich oft als verkappter Schwuler. Der evangelikale Priester wird bei einer Razzia im Bordell aufgegriffen. Egal, ob Donald Trump, Boris Johnson oder Nicola Sturgeon. Diejenigen, die behaupten, alle anderen würden Lügen verbreiten, sind meist die größten Lügner von allen.
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