Demoralisiert und verbittert

Großbritannien Der 20-jährige Khalid Ahmed wohnte im ausgebrannten Grenfell Tower. Nach dem Inferno versucht er, den gerissenen Faden des Lebens wieder aufzunehmen
„Ich glaube nicht, dass die Leute das Hochhaus mochten oder es ihnen gefiel, dass sogenannte arme Leute in solch einem hübschen Viertel lebten.“
„Ich glaube nicht, dass die Leute das Hochhaus mochten oder es ihnen gefiel, dass sogenannte arme Leute in solch einem hübschen Viertel lebten.“

Foto: Niklas Halle'n/AFP/Getty Images

In den Straßen rund um den Grenfell Tower sind die Opfer der Brandkatastrophe an den bunten Armbändern zu erkennen. Diese verschaffen ihnen Zugang zu Unterstützungsleistungen in einem Hilfszentrum, das in einem Fitnessstudio unter einer nahegelegenen Autobahn eingerichtet ist. Der 20jährige Khalid Ahmed, der im Moment des Infernos aus seiner Wohnung im achten Stockwerk des Hochhauses entkommen konnte, hat sein Armband abgenommen und in die Hosentasche gesteckt. „Jeder konnte es sehen. Ich wurde auf der Straße von Leuten angehalten, die immer wieder die gleichen Fragen stellten: ‚Wo hast du gewohnt? In welchem Stock? Wie bist du rausgekommen?' Das ermüdet einen irgendwann.“

Familien, die noch unter Schock stehen und trauern, müssen ihr Leben von Null an neu aufbauen. Einige bereiten Trauerfeiern vor und versuchen herauszufinden, wie sie Einreisegenehmigungen und Flüge für Verwandte aus dem Ausland bekommen. Doch auch für diejenigen, die keine Angehörigen verloren haben, ist die Liste der unmittelbar zu bewältigenden Aufgaben lang: Neue Kleidung, neue Pässe, neue Dauerkarten für öffentliche Verkehrsmittel, neue Führerscheine müssen beschafft werden. Mit dem Arbeitgeber müssen Urlaubstage oder Freistellungen vereinbart werden. Vor allem aber muss eine neue Bleibe her.

Die Tante lehnt ab

Fürs Erste sind die Überlebenden auf Hotels in ganz London verteilt worden. Viele erzählen, sie seien zu erschöpft, um zu Einwohnertreffen zu fahren, die in einem Stadtteilzentrum in der Nähe des Grenfell Towers anberaumt sind. Die Menschen sind ausgelaugt, desorientiert, wütend.

Ahmed wohnt im 16. Stockwerk eines Hotels in knapp fünf Kilometern Entfernung von seinem alten Zuhause. Er ist nicht begeistert davon, so weit oben zu wohnen, will aber nicht weiter klagen. Seine Tante Amina Mohamed sei im vierten Stock gelandet. „Sie hat sich geweigert, in eine höhere Etage zu ziehen. Uns beiden ist bereits eine neue dauerhafte Wohnung im benachbarten Stadtteil Westminster angeboten worden.“ Da aber das Viertel, in dem das Appartement liegt, wegen Bandenkriminalität verrufen sei, habe die Tante abgelehnt.

Er stehe noch immer unter Schock, meint Ahmed, vor einem Fernsehgerät in einem Opferzentrum, das Freiwillige in einem Rugbyclub eingerichtet haben. Die Regierungen hätten dem „sozialen Wohnungsbau einfach nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt“. Er verfolge deshalb mit Skepsis, was Theresa May derzeit so alles verkündet. Dass nun Dämmplatten von so vielen anderen Hochhäusern entfernt würden, das stimme ihn bitter.

Gefühlt ist es zu spät. Wie viele Menschen mussten sterben, damit sie erkennen, dass es nicht sicher war, entflammbare Dämmplatten an einem 23stöckigen Gebäude mit nur einem Treppenhaus, keinen Alarmanlagen in den Fluren und keiner Sprinkleranlage anzubringen? Jetzt wollen sie die Sachen in Ordnung bringen. Vorher wollten sie dafür einfach kein Geld ausgeben“, flucht er. „Warum haben sie gewartet, bis all diese Menschen gestorben sind, um simple Maßnahmen zu ergreifen? Davon kann man nur demoralisiert sein.“

Lebensretter Playstation

Das Geräusch der vom Gebäude abfallenden Dämmplatten ist eine der Erinnerungen an jene Nacht, die Ahmed immer wieder heimsuchen. Er hofft, dass die Verantwortlichen strafrechtlich belangt werden.

Ahmed, der bei seiner Tante wohnt, seit er im Alter von sechs Jahren aus Somalia nach London kam, war nach Mitternacht noch wach. Er hörte Musik über Kopfhörer und spielte auf seiner Playstation. „Meine Tante schimpft immer, weil ich so lange wach bleibe. Sie meint, ich würde deshalb irgendwann nicht mehr einschlafen können. Jetzt sage ich ihr: ‚Die Playstation hat dein Leben gerettet‘. “

Als es gegen ein Uhr nachts nach Rauch roch, weckte er seine Tante. Während die sich anzog, ging er in den menschenleeren Flur. Als ihm klar wurde, dass alle schliefen, klopfte er an die Türen der anderen fünf Wohnungen und weckte deren Bewohner. Wenn er diesen nun begegnet, danken sie ihm immer wieder dafür, dass er sie gewarnt und so ihr Leben gerettet hat. „Im Treppenhaus war kein Rauch, als ich mit den Nachbarn runter bin. Das war etwa zehn Minuten nach eins ...“ berichtet Ahmet. Er vermutet, dass die Bewohner der oberen Stockwerke zu diesem Zeitpunkt noch von nichts wussten. Die Feuermelder habe er erst gehört, als er fast unten war.

Lichter der Mobiltelefone

Stundenlang habe er dann vor dem Gebäude gestanden und gesehen, wie das Feuer um loderte, sich aber vor allem um ein Mädchen aus Somalia gekümmert, das er nicht kannte und seither nicht wiedergesehen habe. „Sie weinte, weil ihr Vater noch im Gebäude festsaß. Das war sehr hart“, sagt Ahmed nur. „Man konnte die Lichter der Mobiltelefone sehen, mit denen Menschen, die sich noch ganz oben befanden, den Feuerwehrleuten zu signalisieren versuchten, dass sie Hilfe brauchten. „Da war ein Mann im 16. Stock, der immer wieder ans Fenster kam. Man konnte zusehen, wie das Feuer immer stärker loderte. Und dann war er nicht mehr da.“

Ahmed ist dankbar für die 500 Pfund, die er und seine Tante erhalten haben, um die unmittelbaren Kosten der Tragödie zu decken. Die ersten Tag seien nicht einfach gewesen ohne Geld und ohne Kontozugang. Dennoch ist er wütend darüber, dass Premierministerin May so lange gebraucht hat, um die Opfer zu treffen. „In jedes andere Viertel wäre sie sofort gekommen, hätte sich mit den Leuten zusammengesetzt und bei ihnen Tee getrunken. Aber bei uns – das war nicht ihre Gegend.“

Die späteren Bemühungen der Regierungschefin, ihr Mitgefühl für die Opfer zum Ausdruck zu bringen, hat die Anwohner nicht zufrieden stellen können. Sie fühlen sich im Stich gelassen durch die chaotischen Reaktionen auf die Katastrophe. „Die Leute denken: Ihr steckt uns in dieses Gebäude, und es kümmert euch nicht. Und ihr kümmert auch auch hinterher nicht.“

Ahmed hat einem Treffen zu diesem Gespräch im Avondale Park zugestimmt, der nur fünf Gehminuten vom Grenfell Tower entfernt. Trotzdem ist er noch nie hier gewesen, im reicheren, grüneren Teil des Viertels. Es ist ruhig hier, nur die Geräusche eines Tennisspiels irgendwo jenseits einer Hecke dringen sanft zu uns hinüber. Später läuft Ahmed zur U-Bahnstation Holland Park, die er eigentlich nie benutzt („seine Haltestelle“ ist noch gesperrt).

Die Leute arbeiten

Als dem Schacht steigt ein Mann mit grauem Zylinder und einem Anzug aus, an dem ein Anstecker des Pferderennens von Ascot steckt. „So etwas gibt es an der Haltestelle Latimer Road nicht“, sagt Ahmed. „Ich glaube nicht, dass diese Leute das Hochhaus mochten oder es ihnen gefiel, dass sogenannte arme Leute in solch einem hübschen Viertel lebten.“ Es ärgert ihn, dass der Grenfell Tower in den Medien als Zentrum der Verwahrlosung behandelt wurde. Und ihn ärgert die Darstellung als „eine Person mit geringem Status“, des „großen Wohnblocks, einem Ort, den die Regierung angeschafft hat, damit dort Arme in elenden Zuständen leben. Ich würde nicht sagen, dass dort Armut herrschte. Ich würde auch nicht sagen, dass es edel war dort. Aber die Leute arbeiten. Meine Tante arbeitet, meine Nachbarn arbeiten.“

Obwohl es mit den Hilfsleistungen voran ginge, bleibe vieles konfus, berichtet er. „Alles ist noch durcheinander: Man kriegt einen Anruf von jemandem, der sagt, er sei vom Wohnungsamt und ein paar Minuten später ruft noch einer an, der sagt, er sei vom Wohnungsamt. Keiner weiß, was der andere macht.“ Ahmed sagt, es sei ihm egal, wo er letztendlich wohnen werde: „Solange es kein Hochhaus ist.“

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Zilla Hofman
Geschrieben von

Amelia Gentleman | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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