Den Tätern die Hysterie verweigern

Großbritannien Der Terror hätte sich nicht mehr sensationslüsterne Aufmerksamkeit wünschen können als ihm Politiker und Journalisten nach dem Mord in Woolwich zukommen lassen
Blumen an der Stelle in London, an der Lee Rigby getötet wurde
Blumen an der Stelle in London, an der Lee Rigby getötet wurde

Foto: Dan Kitwood/ AFP/ Getty Images

Wir werden nicht vor dem Terrorismus einknicken, meinte Premier Cameron nach dem Mord an einem Soldaten in Woolwich, um dann genau das zu tun. Er knickte ein. Alle knickten ein. Der Innenminister, der Verteidigungsminister, der Londoner Bürgermeister, der Polizeichef, die Presse ...

In jedem Krieg – und mit dem Terrorismus befinden wir uns ja angeblich im Krieg – stellt sich zuallererst die Frage, was sich der Feind von uns am meisten wünscht oder was er beabsichtigt. Die Woolwich-Mörder wünschten sich die größtmögliche öffentliche Aufmerksamkeit für ihr Verbrechen. Dafür genügt es heute, die Taste eines Mobiltelefons zu drücken.

Heutzutage wird jeder Vorfall von einem in der Nähe stehenden „Bürgerjournalisten“ in die ganze Welt hinaus getragen. Die Verwirrten aller Herren Länder können diese Bühne erklimmen und die Freiheit des Cyberspace genießen. Du brauchst nur jemanden auf der Straße zu zerhacken, und es wird sich ein willfähriger Passant finden, der diese „Nachricht“ an Millionen weiterleitet. Die Polizei, die sich aus den raueren Vierteln Londons so gut wie zurückgezogen hat, wird dir eine Viertelstunde für deine Pressekonferenz einräumen.

In einen Wirbelsturm gespuckt

Es gibt wenig, was eine moderne Regierung unternehmen kann, um zu verhindern, dass terroristische Akte unmittelbar die öffentliche Aufmerksamkeit erfahren, die sich der Terrorismus wünscht. Doch sie hat sehr wohl beträchtliche Kontrolle darüber, wie die anschließende Reaktion ausfällt. Als Sir Bernard Hogan-Howe von der Metropolitan Police darum bat, Ruhe zu bewahren und weiterzumachen wie üblich, spuckte er in einen Wirbelsturm.

Die Mörder von Woolwich bestimmten die Agenda der Nachrichten. Die Titelseiten der Zeitungen dienten ihnen als Plattform, auf denen ihr Manifest in schreienden Schlagzeilen beglaubigt wurde. Der Premier eilte willfährig von einem wichtigen Treffen in Paris zurück, sagte alle Termine ab, stieg in seinen Lieblingsbunker und beorderte die Mächtigsten des Landes herbei, um „eine Reaktion zu koordinieren“. Ich bezweifle, dass Cameron so schnell gesprungen wäre, wenn die beiden Täter den Soldaten lediglich erschossen hätten.

Es waren die mittelalterliche Rohheit der Waffen, das unverfrorene Hacken und Stechen und das Blut, das sich über das Internet ergoss, was alle Politiker mit ihren Pressesprechern im Schlepptau in die Cobra-Bunker eilen ließ.

Stunde der Experten

In Reaktion auf den Schrecken von Terroranschlägen Erklärungen abzugeben gehört zu den Ritualen moderner Politik. Der Berg der Adjektive türmt sich immer höher auf: verwerflich, abscheulich, entsetzlich, barbarisch, unaussprechlich. Die Verurteilung wird durch Plattitüden geadelt. Religiöse Führer äußern sich salbungsvoll. Wo Blut fließt, lassen sich nicht nur die besten Schlagzeilen machen, hier finden sich auch die abgeschmacktesten Analysen.

Sogenannte Terrorismusexperten werden eiligst in die Fernsehstudios gekarrt, um uns alle aufzufordern, „auf der Hut“ zu sein. Sicherheitsfanatiker lehnen sich aus dem Fenster, um ein weiteres Gesetz zum Ausschnüffeln der Bürger zu verlangen. Nachahmer werden zur Nachahmung und Rassisten zur Vergeltung eingeladen. Jedes Gefühl für die Verhältnismäßigkeit ist dahin. Schnell haben wir dem Terror die Apotheose geliefert und die Gewalt auf dem Altar der Bekanntheit geadelt.

Haben wir die Wahl? Doch wir haben sie! Solche Akte werden von Fanatikern verübt. Wir sollten sie behandeln wie Verbrechen. Auch wenn der aktuelle Fall sich von Fehden rivalisierender Gangs, Raubüberfällen, häuslicher Gewalt oder geistiger Verwirrung unterscheiden mag, so ist das Ergebnis doch das gleiche: ein Mensch kommt gewaltsam zu Tode. So etwas zu vermeiden ist Sache von Polizei und Sicherheitsdiensten, nicht der Politik. Gewalttäter behaupten oft, ihre abscheulichen Taten seien politisch motiviert und fordern für sich einen entsprechenden Status. Wenn die Politiker offenbar mit ihnen übereinstimmen, werden sie darin noch weiter bestärkt. Bei den Riots vor zwei Jahren wurden die Plünderer von vielen Linken geradezu dazu eingeladen, ihre Taten politisch zu rechtfertigen.

Bürgerjournalismus in Afghanistan?

Es war daher dumm von den Sicherheitsexperten, einen Mord mit vager Motivation mit zusätzlicher Bedeutung aufzuladen, indem man ihn mit einem „möglichen Al-Qaida-Netzwerk in Übersee“ in Verbindung brachte. Die Mörder behaupten, sie hätten eine politische Botschaft: Ihre Tat stehe mit den Kriegen Großbritanniens im Irak und in Afghanistan in Verbindung. Sie sagten, der Mord an einem Soldaten in London sei die legitime Rache für die von britischen Soldaten in Asien getöteten Muslime. Dafür müssen sie keinem internationalen Netzwerk angehören. Es reicht, irgendwelche Propagandaseiten im Internet gelesen zu haben.

Es stimmt, dass britische und amerikanische Soldaten durch den Einsatz von Drohnen auf den Straßen Afghanistans, Pakistans und Jemens muslimische Soldaten töten und dass dabei auch Zivilisten ums Leben kommen. Sie gebrauchen eine entsetzliche luftgestützte Gewalt in Ländern, mit denen sie sich in keinem Krieg befinden. Es mag sein, dass die Vergeltung solcher Tötungen in unseren Begriffen nicht „zu rechtfertigen“ ist, aber da Dschihadisten nicht über Drohnen verfügen, müssen sie auf Autobomben, Nagelbomben, Macheten und Hackmesser zurückgreifen.

Das Ergebnis mag die Londoner entsetzen, aber es gibt keinen Bürgerjournalismus, der die entsetzlichen Auswirkungen eines Drohnen-Angriff auf ein paschtunisches Dorf bezeugt. Kann es uns überraschen, wenn die andere Seite – oder ihre Sympathisanten – in London Vergeltung üben, wo ihre Tat so viel mehr Aufmerksamkeit erhält als in Bagdad oder Kabul? Selbstverständlich sollten die Menschen in London unbeschadet die Straße entlang gehen können. Das sollte aber auch für die Menschen in Kandahar, im Jemen und in Baluchistan gelten.

Wenn wir Akte alltäglicher Gewalt auf eine globale Bühne heben, politisieren wir sie nicht nur, sondern riskieren auch noch, die Furien aufzuwerten, die sie antreiben. Es ist nicht möglich, das Internet abzuschalten, um Terrorakten die Aufmerksamkeit zu nehmen. Aber wir haben die Möglichkeit, uns selbst nach einem Anschlag Beschränkung aufzuerlegen und den Impuls zur Übertreibung zu kontrollieren. Wir können den Terroristen den Lautsprecher der Übertreibung und Hysterie verweigern. Cameron hatte recht, als er sagte, unsere Reaktion auf den Terror sollte darin bestehen, dass wir weiter ganz normal unseren Geschäften nachgehen. Aber warum hat er das nicht getan?

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Übersetzung Holger Hutt
Geschrieben von

Simon Jenkins | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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