Man steigt ein, setzt sich hin und schlägt sein neues Lieblingsbuch auf. Ein Paar unterhält sich, der Schaffner kündigt eine Verspätung an, aber man ist so vertieft, dass sich die Umgebung dem Bewusstsein enzieht – und bemerkt daher auch nicht, wann sich der Zug der Haltestelle nähert. Am Ende der Seite schaut man auf und sieht, wie der Zug den Bahnhof verlässt.
Alltägliche Erlebnisse wie dieses zeigen, dass der Fokus der Aufmerksamkeit einen erheblichen Einfluss darauf hat, wie Menschen ihre Welt wahrnehmen. Besonders eindrucksvoll belegen diesen Effekt die „Gorillas in unserer Mitte“, ein Experiment, das die US-Psychologen Dan Simons und Chris Chabris erstmals 1999 durchführten. (Die Versuchspersonen sehen ein Video. Es zeigt zwei Teams in schwarzen und weißen T-Shirts, in jedem Team wird ein Ball geworfen. Der Zuschauer soll die Pässe eines bestimmten Teams zählen. Gegen Ende des Versuchs geht plötzlich eine als Gorilla verkleidete Frau über das Spielfeld.)
Der Versuch veranschaulicht das Phänomen der so genannten Unaufmerksamkeitsblindheit: Der Fokus auf den Ball führt dazu, dass der Betrachter komplett übersieht, was eigentlich gar nicht zu übersehen ist. „Wir haben einen Gorilla gewählt, weil wir etwas Dramatisches wollten, sodass die Leute überrascht sein würden. Wir waren allerdings unsicher, ob das unerwartete Objekt nicht eher unauffällig sein muss.“ Doch obwohl der „Gorilla“ im Video sogar kurz stehen bleibt, in die Kamera blickt und auf seine Brust trommelt, wird er von mehr als der Hälfte der Betrachter nicht registriert.
Folgen für den Alltag
Simons und Chabris haben die Unaufmerksamkeitsblindheit jüngst auch im realen Leben untersucht – inspiriert vom Fall des Bostoner Polizeibeamten Kenneth Conley, der, während er einen Verdächtigen verfolgt hatte, direkt an einer üblen Schlägerei vorbeigerannt war und später behauptete, sie nicht bemerkt zu haben. Niemand glaubte ihm. Er wurde wegen Meineids und Behinderung der Justiz verurteilt.
Simons und Chabris haben das Szenario nachgestellt, um Conleys Behauptung zu überprüfen. Sie ließen ihre Versuchspersonen einem Jogger durch einen Park folgen und inszenierten an der Strecke eine Schlägerei. Einige Teilnehmer sollten den Jogger außerdem genau beobachten und zählen, wie oft er nach seiner Mütze fasst. Die Ergebnisse waren genauso bemerkenswert wie im Experiment mit dem unsichtbaren Gorilla: Während am Tag jeder zweite Teilnehmer die Prügelei übersah, waren es nachts sogar zwei von drei Probanden. Die Forscher fanden außerdem heraus, dass Teilnehmer, die ihre Aufmerksamkeit auf die Mütze des Joggers richteten, den Kampf noch viel seltener registrierten.
Es existieren mittlerweile viele Nachweise dieser Art, die meisten beziehen sich allein aufs Visuelle. Das auditiv gekoppelte Äquivalent, Unaufmerksamkeitstaubheit genannt, hat erst kürzlich eine Studie nachgewiesen. Die Arbeit von Nillie Lavie vom Institute of Cognitive Neuroscience in London und James MacDonald von der Universität Oxford zeigt: Wenn man seine Aufmerksamkeit mit den Augen auf eine anspruchsvolle Aufgabe richtet, hört man bisweilen die offenkundigsten Laute nicht mehr.
Lavie und MacDonald zeigten ihren Studienteilnehmern Kreuzformen auf einem Monitor. Jedes Kreuz hatte einen grünen und einen blauen Zweig, und ein Zweig war ein wenig länger als der andere. Die Teilnehmer wurden gebeten, per Tastatur zu zeigen, welcher Zweig blau oder welcher Zweig der längere war. Die zweite Aufgabe war etwas schwieriger als die erste, weil die Teilnehmer besonders aufpassen mussten, um den feinen Unterschied in der Länge der Zweige zu erkennen. Alle Probanden trugen Kopfhörer, die, so sagte man ihnen, die Konzentration auf die Aufgabe erleichtern würden. Während der Tests wurde ein hörbarer Ton auf die Kopfhörer geschickt, entweder über weißem Rauschen oder allein. Später wurden die Teilnehmer gefragt, ob sie den Ton bemerkt hätten. Tatsächlich hatten die Befragten den Ton während der schwierigeren Aufgabe seltener gehört, selbst wenn er allein gespielt wurde.
„Die Wahrnehmungsbelastung entspricht der Menge an Informationen, die während einer Aufgabe verarbeitet werden muss, und dem Ausmaß, in dem die Verarbeitung der Aufgabeninformationen die Sinne füllt“, erklärt Lavie. „Sie entspricht mehr oder weniger der Schwierigkeit der Aufgabe, weil eine schwierigere Aufgabe die Sinne mehr beansprucht.“ Das müsse allerdings nicht immer der Fall sein: „Sie können mit einer Aufgabe am Computer beschäftigt sein, die nicht sehr schwierig ist, aber Ihr Sehen mit zahlreichem unterschiedlichem Bildmate-rial auf dem Bildschirm beansprucht.“
Diese Ergebnisse haben offensichtliche Folgen für das Alltagsleben. Wenn man beispielsweise eine SMS schreibt, während man die Straße überquert, wird das Geräusch eines herankommenden Autos oft ausgeblendet. Oder wenn die Aufmerksamkeit auf das Navi oder eine Werbetafel gerichtet ist: Dann wird die Autohupe oder die Fahrradklingel schnell überhört. In ihrem Paper erwähnen Lavie und MacDonald die Sicherheitskampagne von Transport for London, die vor den Gefahren der Unaufmerksamkeitsblindheit warnt, und schlagen vor, sie zu erweitern, um auch ein Bewusstsein für Unaufmerksamkeitstaubheit zu wecken.
„Die Frage, ob ein bestimmtes Geräusch oder ein bestimmter Anblick wahrgenommen wird, hängt von der Stärke des Signals gegenüber dem umgebenden ‚Lärm’ ab“, sagt Lavie. „Wenn Sie ein grelles Signal inmitten großen Lärms setzen, kann es trotzdem sein, dass die Leute es nicht wahrnehmen, weil ihre Aufmerksamkeit mit einer großen Menge an Informationen befasst ist“. Das lege auch nahe, dass eine Autohupe, die während einer hohen visuellen Beanspruchung neben anderen Geräuschen erklingt, ebenfalls nicht wahrgenommen würde.
Obwohl Unaufmerksamkeitsblindheit und -taubheit ganz ungewollte Konsequenzen konzentrierter Aufmerksamkeit sein können, haben sie auch Vorzüge. Sie können uns beispielsweise befähigen, Ablenkung zu vermeiden, indem wir unwichtige Anblicke und Klänge ignorieren, etwa Pop-Up-Werbung oder Bauarbeiten in der Nähe des Büros. „Ein großer Teil meiner Forschung“, sagt Lavie, „betrifft diese positiven Folgen, die für das Lernen und für eine größere Produktivität am Arbeitsplatz nützlich sein sollten.“ Neben ihren praktischen Folgen liefern die Untersuchungen zu Unaufmerksamkeitsblindheit und -taubheit Erkenntnisse über die der Aufmerksamkeit zugrunde liegenden neurologischen Mechanismen im Gehirn. Ergebnisse wie jene von Lavie und MacDonald legen ganz grundsätzlich nahe, dass die Aufmerksamkeit über eine begrenzte Kapazität verfügt, die auf die Sinne verteilt werden muss.
Die Aufmerksamkeitsillusion
Hinweise dafür liefert auch eine Untersuchung, die das Experiment mit dem Gorilla variiert. Die Probanden sind wieder mit einer komplexen visuellen Suchaufgabe beschäftigt. Sie übersehen dabei nicht nur, dass eine Frau den Raum betritt. Sie hören nicht einmal, wie die Frau mit ihren Fingernägeln über eine Tafel kratzt.
Die Aufmerksamkeitskapazität kann vermutlich auch zwischen anderen Sinnen, wie Geruchs- und Tastsinn, geteilt werden. Dementsprechend müssten auch Aufgaben, für die die Teilnehmer zwischen verschiedenen Gerüchen oder Texturen unterscheiden müssen, zu Unaufmerksamkeitsblindheit oder -taubheit führen. Lavie sieht hier interessante Möglichkeiten für weitere Untersuchungen und weist auf Studien hin, die zeigen, dass gebündelte Aufmerksamkeit für eine komplexe visuelle Aufgabe das Schmerzempfinden verringern kann.
„Ich sehe keinen Grund, warum dieses Prinzip nicht auch für andere [Sinnes-] Modalitäten gelten soll“, sagt Simons. „Sobald man seine kognitive Kapazität ausschöpft, wird man unerwartete Ereignisse nicht bemerken, unabhängig von der Modalität.“ Aber ihm zufolge ist das Nicht-Bemerken von Bildern oder Klängen gar nicht entscheidend. „Das Problem“, sagt er, „liegt in unserer falschen Vorstellung davon, was wir alles wahrnehmen können.“
Als Folge des Gorilla-Experiments haben Chabris und er eine Umfrage unter 1.500 Erwachsenen durchgeführt. Die nun veröffentlichten Ergebnisse zeigen, dass mehr als drei Viertel der Befragten der festen Überzeugung sind, sie würden etwas Unerwartetes immer bemerken – selbst wenn sie ihre Aufmerksamkeit gerade etwas anderem widmen. Die Forschung zeigt, dass diese Überzeugung falsch ist. Sie veranschaulicht, was Simons und Chabris „die Aufmerksamkeitsillusion“ nennen.
Mo Costandi ist Biologe und bloggt auf guardian.co.uk über Neurophilosophie
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