Online-Dating Wie zuverlässig funktionieren die bestehenden Algorithmen für die Partnersuche? Ein unzufriedener Mathematikstudent programmierte sich kurzerhand einen eigenen
Im Sommer 2012 befand sich Chris McKinlays Dissertation im Fach Mathematik an der University of California in Los Angeles in ihrer Endphase. Das bedeutete, dass er viele Nächte an der Uni zubrachte, um komplexe Kalkulationen durch einen gewaltigen Supercomputer laufen zu lassen – nachts war die Zeit am Computer billiger. Während die Maschine ihre Arbeit erledigte, trieb McKinlay sich auf Partnerportalen herum. Lange hatte er dabei allerdings wenig Glück – bis er eines Nachts einen Zusammenhang zwischen den beiden Aktivitäten bemerkte.
OkCupid, eine seiner Lieblingsseiten, bewertet die Kompatibilität von Nutzern anhand ihrer Antworten auf eine Auswahl von tausenden Fragen, die die Nutzer der Seite selbst gepostet haben.
„Eines Nachts begann mir zu d&
begann mir zu dämmern, dass die Art, wie die Leute die Fragen bei OkCupid beantworten, ein hochdimensionales Datenset generiert, das dem sehr nahe kam, das ich gerade studierte,“ erklärt McKinlay. Das veränderte sein Verständnis von der Funktionsweise des Systems.McKinlay begann, falsche Profile bei OkCupid anzulegen. Er schrieb Programme, die die Fragen des OkCupid-Fragenpools willkürlich beantworteten, um herauszufinden, wie die Frauen seiner Zielgruppe die Fragen beantwortet hatten – bei OkCupid kann man die Antworten anderer Nutzer zwar einsehen, aber nur, wenn man die Fragen auch selbst beantwortet hat. Auf diese Weise fand er heraus, wie das System die Nutzer zusammenbringt. Es gelang ihm, an die 20.00 Frauen zu sieben Gruppen zusammenzufassen. Zwei dieser Gruppen schienen ihm besonders attraktiv. Also veränderte er sein echtes Profil so, dass es zu diesen Gruppen passte. Und auf einmal begann sein Posteingang sich zu füllen.Vorsprung durch TechnikWas McKinlays gelang, war möglich, weil OkCupid und viele andere ähnliche Seiten weitaus mehr sind als einfache soziale Netzwerke, auf denen Leute ihre Profile einstellen, sich mit Freunden unterhalten und auf Grundlage gemeinsamer Interessen neue Bekanntschaften schließen. Stattdessen versuchen diese Portale, die Nutzer mithilfe einer Reihe von Techniken, die über Jahrzehnte hinweg entwickelt wurden, aktiv zusammenzubringen.Mittlerweile bewirbt jede Seite ihre Dienste mit der Behauptung, sie bediene sich einer besonders „intelligenten“ Technologie. Doch für McKinlay funktionierten die bestehenden Algorithmen nicht gut genug. Also schrieb er seinen eigenen.Was aber mit uns übrigen, die des Programmierens nicht mächtig sind? Die heutigen Online-Dating-Seiten basieren auf jahrelanger Forschung sowie Vermutungen moralisch-philosophischer Natur. Aber funktionieren sie wirklich für uns? Die Vorstellung, die Technik könne schwierige, teils gar schmerzhafte Aufgaben wie die Suche nach der großen Liebe für uns übernehmen, ist verführerisch. Aber werden ihre diesbezüglichen Fähigkeiten möglicherweise überschätzt?Im Sommer 1965 wurde dem Harvard-Studenten Jeff Tarr klar, dass ihm der begrenzte gesellschaftliche Zirkel der Uni nicht mehr reichte. Als Mathestudent kannte sich Tarr etwas mit Computern aus. Selbst programmieren konnte er sie zwar nicht, dennoch war er sich aber sicher, dass sie ihm für sein größtes Hobby nützlich sein könnten: Mädchen treffen. Gemeinsam mit einem Freund schrieb er einen Persönlichkeitstest, der Studenten und Studentinnen zu ihrem „idealen Rendezvous“ befragte und die er an Universitäten in ganz Boston verteilte. Die Fragen lauteten etwa: „Gehört es als Vorbereitung auf die Ehe zum Erwachsenwerden, sich sexuell auszuleben?“ oder „Glaubst du an einen Gott, der auf Gebete antwortet?“Hoher Bedarf Die Flut von Antworten, die er erhielt, bestätigten Tarrs Vermutung, dass es bei den Studenten einen Bedarf für einen derartigen Dienste gebe. Operation Match war geboren.Um die Antworten verarbeiten zu können, musste Tarr für 100 Dollar die Stunde einen IBM 1401-Computer mieten und einen Kommilitonen dafür bezahlen, ein spezielles Verfahren zum Abgleichen der Nutzer zu programmieren. Jeder beantwortete Fragebogen wurde auf eine Lochkarte übertragen und in die Maschine eingegeben, die schließlich eine Liste mit sechs potentiellen Verabredungen ausspuckte. Das Programm führte dabei nur Männer und Frauen zusammen, die jeweils den Idealen des anderen entsprachen.Als der Reporter Gene Shalit 1966 über die aufkeimende Computer-Dating-Szene berichtete, vermeldete Operation Match bereits 90.000 Teilnehmer und Einnahmen von 270.000 Dollar. Shalit sprach in seinem Artikel bedeutungsschwer vom "grossen Gottes-Computer".Die damaligen Computer-Dating-Pionieere bedienten nur allzu gern das Bild der allmächtigen Gottesmaschine. Sie waren sich aber auch bereits des potentiellen Stigmas ihres Gewerbes bewusst: "Einige Romantiker finden uns zu kommerziell“, erklärte Tarr gegenüber Journalisten. „Dabei versuchen wir gar nicht, die Liebe aus der Liebe auszutreiben. Wie bemühen uns nur um mehr Effizienz. Wir bieten alles bis auf das Knistern.“Seit Tarr seine ersten Fragebögen ausgab, hat sich viel getan. Vor allem ist das Computer-Dating zu Online-Dating geworden. Mit jeder neuen Entwicklung – dem Internet, dem Home Computer, Breitband, Smartphones und Ortungsdiensten – hat sich auch das turbulente Geschäft und die teilweise dubiose Wissenschaft der computergestützten Paarvermittlung verändert. Die American National Academy of Sciences berichtete im Jahr 2013, mehr als ein Drittel der Menschen, die zwischen 2005 und 2012 in den USA geheiratet haben, hätten sich im Internet kennengelernt – mehr als die Hälfte davon auf Datingseiten. Die jüngsten Zahlen des Online-Marktforschungsunternehmens Comscore zeigen, dass in ganz Europa 49 Millionen Menschen jeden Monat eine Datingwebseite besuchen.Kein Stigma mehrAm bezeichnendsten ist dabei wohl, dass die Bevölkerungsgruppe mit den größten Zuwachsraten die der über 55-Jährigen ist. Die Partnersuche im Internet scheint inzwischen nicht nur das Stigma hinter sich gelassen, sondern auch die „digitale Kluft“ zwischen jüngeren und älteren Internetnutzern überwunden zu haben. Man könnte also sagen, dass sie in der Gesellschaft angekommen ist.Das hat eine Weile gedauert. Die 1993 gegründete Seite match.com war der erste große Kennenlerndienst und ist immer noch der größte der Welt. Match.com steht für das „Online-Kleinanzeigen“-Modell. Den Nutzern werden keine Versprechen über die Menschen gemacht, die sie dort kennenlernen können. Vielmehr setzt man auf eine große Auswahl.Die Seite eHarmony hingegen, die im Jahr 2000 nachzog, wirbt mit dem Versprechen auf Langzeitbeziehungen, gar Ehen. eHarmony-Gründer Neil Clark Warren, ein 76-jähriger Psychologe und Religionswissenschaftler, hatte drei Jahre lang eine Studie unter 5.000 verheirateten Paaren durchgeführt. Seit Einführung der Seite hat das Unternehmen laut seinem Vize-Präsidenten Steve Carter weitere 50.000 Paare aus der ganzen Welt studiert. Die Ergebnisse bilden die Grundlage für eine algorithmische Herangehensweise an die Paarzusammenführung. Verwendet werden dafür die Antworten auf einen zweihundert Fragen umfassenden Test, den Neumitglieder ausfüllen müssen, und die Kommunikationsmuster, die sich ihren Besuchen der Seite offenbaren. Mit dem Aufstieg von Facebook, Twitter und anderen Onlinemedien kamen dann stärker personalisierte und datengetriebenen Seiten wie OkCupid hinzu, mit der für Chris McKinley alles begann. Diese Anbieter arbeiten nicht nur mit den expliziten Angaben der Nutzer, sondern auch einer Vielzahl impliziter Informationen, die aus den Daten und dem Handeln der Nutzer abgeleitet werden. Insgesamt wird bei der Online-Kuppelei immer weniger mit den Präferenzen gearbeitet, die Nutzer angeben, als vielmehr mit Rückschlüssen aus ihrem tatsächlichen Verhalten.Gavin Potter machte 2007 Schlagzeilen für seine erfolgreiche Teilnahme am Netflix-Preis, den die gleichnamige große Online-Videothek ausgeschrieben hatte, um ihr System der Film-Empfehlungen verbessern zu können. Der pensionierte Betriebsberater Potter ging davon aus, dass das Verhalten der Nutzer in der Vergangenheit mehr Aufschluss böte, als der Inhalt der Filme, die sie positiv bewertet hatten. Seine Rechnung ging auf. Eines Tages bat ihn Nick Tsinonins, der Gründer der kleinen britischen Dating-Seite yesnomyb, zu untersuchen, ob sein Ansatz – das sogenannte kollaborative Filtern - sich auch auf Menschen anwenden lässt. Kollaboratives Filtern Beim kollaborativen Filtern werden die Präferenzen einer großen Gruppen von Menschen gesammelt und daraus dann Mengen ähnlicher User erstellt. Da dabei Unmengen von Daten von einer großen Anzahl Menschen verarbeitet werden, weiß oft nur der Algorithmus ganz genau, worin eigentlich die Gemeinsamkeit innerhalb der einzelnen Gruppen besteht. Aber es funktioniert. Tsinonis und Potter waren mit ihrem Ansatz so erfolgreich, dass sie eine neue Firma mit dem Namen RecSys gründeten. Die erstellt inzwischen um die zehn Millionen Empfehlungen am Tag für tausende verschiedene Seiten. RecSys passt seinen Algorithmus dabei an die unterschiedlichen Anforderungen jeder Seite an. Obwohl man ursprünglich mit Online-Dating angefangen habe, „funktioniert die Technik für fast alles“, sagt Potter.Jeff Tarr träumte 1966 in Harvard von einer Zukunft, in der ein Partnervermittlungsprogramm in Echtzeit und in der realen Welt funktionieren würde. Ihm schwebten hunderte, auf dem ganzen Campus installierte Schreibmaschinen vor, die alle mit einem zentralen „Muttercomputer“ verbunden wären. Jeder, der an einer dieser Maschinen eine Suche starten würde, sollte binnen „Sekunden“ den Namen einer möglicherweise passenden Person erhalten, die am gleichen Abend ebenfalls Zeit hätte. Mit einer neuen Generation von Partnerportalen, die auf Smartphones laufen, beginnt Tarrs Vision nun Realität zu werden. Plötzlich sind keine schlauen Algorithmen mehr nötig – es reicht, zu wissen, wer sich gerade in er Nähe aufhält. Der 2012 in Los Angeles gegründete Service Tinder ist die am schnellsten wachsende der neuen Smartphone-Dating-Apps. Bei Tinder interessiert man sich sehr viel weniger für die Wissenschaft des Kuppelns als bei älteren Datingdiensten. Auf die Frage danach, was man aus den gesammelten Daten über Menschen gelernt habe, sagt Mitgründer und Marketingchef Justin Mateen, er wolle vor allem wissen, „wie viel Matches es in einem gewissen Zeitraum braucht, bis ein Nutzer nach dem Produkt süchtig ist“. Es sieht ganz so aus, als wolle Tinder auch in andere Bereiche des Internethandels und der Geschäftsbeziehungen vordringen.Zurück an der UCLA scheint Chris McKinlays Strategie sich ausgezahlt zu haben. Nachdem er Daten gesammelt und sein Profil optimiert hatte, bekam er plötzlich zehn bis zwölf spontane Nachrichten von Frauen. Er traf sich mit 87 von ihnen. Diese Begegnungen seien „fast immer wirklich wunderbar“ gewesen, sagt er. Die Frauen teilten seine Interessen, waren „intelligent, kreativ, witzig“. Auch eine gewisse Anziehung war immer spürbar. Doch erst beim beim 88. Date hat es wirklich gefunkt. Ein Jahr später folgte der Heiratsantrag.Der Reiz des Online-Datings bestand schon immer in den Verlockungen und der Einfachheit der Technik – vor allem aber ging es immer darum, die Liebe zu finden. Der Erfolg der Empfehlungssysteme, die sich auf Menschen ebenso anwenden lassen wie auf Waren, sagt dabei viel – McKinlays Algorithmen haben ihm mehr Dates eingebracht, aber nicht die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sich mehr daraus entwickelt.Letztendlich sagt die Entwicklung des Online-Datings uns wohl weniger über unsere Beziehungen untereinander, als über unser Verhältnis zur vernetzten Technik: Vom „großen Gottescomputer“ zu einer uns zu überwältigen drohenden Datenflut, bis hin zu dem Punkt, an dem sie nahtlos und beinahe unsichtbar in jeden Aspekt unseres Lebens integriert ist.
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