Neulich führte ich ein Bewerbungsgespräch für einen Job beim Guardian und fragte den Kandidaten, der bis dahin nur im Printjournalismus gearbeitet hatte, wie er wohl in einer digitalen Redaktion zurechtkommen werde. „Ich habe einen Computer“, antwortete er. „Ich arbeite seit Jahren mit Computern.“
Das war lustig, aber auch bezeichnend: Offenbar war „digital“ für ihn nur ein Wort für eine technologische Entwicklung, eine neue Form von Textverarbeitung. Dabei handelt es sich um eine gewaltige konzeptionelle und soziologische Umwälzung, um eine Bombe, die alles sprengt, was wir bisher gewesen sind – wie wir uns selbst sehen, wie wir leben, wie wir unsere Welt ordnen. Und gerade, weil wir uns inmitten dieser Umwälzung befinden, sehen wir sie oft gar nicht. Dabei greift sie nicht nur sehr tief, sondern vollzieht sich zugleich rasend schnell.
Ich möchte darüber reden, was dieser Wandel mit dem Journalismus anrichtet – und welche Chancen sich bieten, wenn man wirklich offen für das Internet ist. Ich möchte auch zeigen, wie sich viele Journalisten durch ihren Widerstand gegen diesen Wandel selbst schaden. Und nicht nur sich, sondern auch dem Anliegen des guten Journalismus. Und warum Journalisten heute nötiger denn je sind: als Wahrheitsager, Sinnstifter, Erklärer.
Information: von fest zu flüssig
Das Internet hat unsere Art, Informationen zu organisieren, stark verändert: statt der begrenzten, festen Formate von Buch, Magazin und Zeitung nehmen sie flüssige, frei fließende Formen an. Eine Zeitung ist vollständig. Sie ist fertig und kann sich ihrer selbst sicher sein. Digitale Nachrichten hingegen werden ständig aktualisiert, bearbeitet, verändert, verschoben, weiterentwickelt. Diese Bewegung ist lebendig und unermüdlich.
Manche glauben, diese Verflüssigung von Information sei nicht wirklich neu, sondern eher eine Rückkehr zu den mündlichen Kulturen früherer Zeiten. So vertritt der dänische Wissenschaftler Thomas Pettitt die These, die gesamten 500 Jahre nach der Erfindung der Druckerpresse – die Jahrhunderte des Textes, des in festen Formaten enthaltenen Wissens – seien nur eine Unterbrechung im üblichen Fluss der menschlichen Kommunikation gewesen. Diese Unterbrechung nennt er die „Gutenberg-Parenthese“. Nun aber versetze uns das Netz in einen Zustand, in dem unser Denken, wie bei den Bauern im Mittelalter, auf Klatsch, Gerüchten und Gesprächen beruhe: „In mancher Hinsicht ist die neue Welt die alte, die Welt vor dem Buchdruck“.
Ähnliche Gedanken äußert Dick Costolo, Geschäftsführer bei Twitter: „Im alten Griechenland wurden Nachrichten und Informationen verbreitet, indem man nach dem Mittagessen auf die Agora ging. Das war ein ungefilterter Austausch in alle Richtungen.“
Und schon im Cluetrain-Manifest aus dem Jahr 2000, einem der einflussreichsten Texte zu Geschäftsmodellen im Internet, hieß es: „Was, wenn die eigentliche Anziehungskraft des Netzes nicht in innovativem Schnickschnack liegt, nicht in knalligen Auftritten oder irgendwelcher beeindruckenden Technologie – sondern darin, dass es uns zur prähistorischen menschlichen Faszination fürs Geschichtenerzählen zurückführt? Mittelalterlich, altgriechisch oder prähistorisch: Suchen Sie sich was aus."
Die freifließende Welt
Was heißt es also für den Journalismus, wenn Informationen nicht mehr nur in eine Richtung verbreitet und nicht mehr in über Jahrhunderte eingeschliffenen redaktionellen Prozessen aufbereitet werden? Welche neuen Möglichkeiten hat das Netz dem Journalismus eröffnet, und welche Fallstricke und Gefahren drohen?
Digital bedeutet nicht, eine Geschichte ins Netz zu stellen. Es geht um einen grundlegend neuen Entwurf unseres Verhältnisses zum Publikum und unserer Rolle in der Gesellschaft. Wir haben nicht mehr den Status der Neunmalklugen, die von oben ihre Texte liefern, an Empfänger, die passiv bleiben, außer wenn sie einen Leserbrief schreiben. In der digitalen Welt kann jeder sofort reagieren, und es ist gut möglich, dass manche Leser über ein Thema mehr wissen oder an einer Geschichte dichter dran sind als die Schreibenden selbst. Jay Rosen spricht deshalb von „den Leuten, die früher Publikum genannt wurden“. In der Ära der Zeitung gab es wenige Schreiber und viele Leser. Heute sind sie manchmal kaum noch zu unterscheiden. Die Leute, die früher Publikum genannt wurden, sitzen nicht still. Wenn du ihnen nicht zuhörst, nicht für sie und mit ihnen arbeitest, ihnen nicht gibst, was sie wollen, dann können sie jederzeit woandershin gehen. Das offene Netz macht es möglich, mit diesem Publikum zu interagieren wie nie zuvor: gemeinsam Geschichten zu finden, zu verbreiten und zu diskutieren.
Wenn deine Leser mehr wissen als du
Im April 2010 geriet das Leck der Bohrinsel Deepwater Horizon außer Kontrolle: Niemand wusste die Ölpest im Golf von Mexiko aufzuhalten. BP, der für die Katastrophe verantwortliche Konzern, sah sich zu einem öffentlichen Aufruf nach Lösungsvorschlägen gezwungen. Der Guardian reagierte mit einem eigenen Aufruf an seine Leserschaft und richtete eine Online-Plattform für Vorschläge ein. Ehe wir es uns versahen, hatten dort professionelle Taucher, Schiffsingenieure, Physiker, Biochemiker, Maschinenbauer, Bohrinselarbeiter, Bergleute und Verrohrungsexperten ihre Ideen hinterlassen. Die besten davon schickten wir gesammelt weiter. Es handelte sich um ein unglaublich reichhaltiges Arsenal, das wir allein den Leuten, die früher Publikum genannt wurden, zu verdanken hatten.
Transparenz und Verantwortung
In einer Welt, in der wir mit Informationen überflutet werden, möchten die Leser auch wissen, wie du zu einer Geschichte gekommen bist und wie du für mögliche Fehler darin einstehst. Darum ist es so wichtig, die eigenen Arbeitsweisen offenzulegen. Nehmen wir als Beispiel ein Interview in der australischen Ausgabe des Guardian. Darin sagte die spätere Außenministerin Julie Bishop, die indonesische Regierung habe erklärt, sie werde Australien bei der Abschiebung von Bootsflüchtlingen unterstützen. Das war ein starkes Stück: Eine Außenministerin in spe plaudert öffentlich darüber, dass Politiker eines anderen Landes ihr private Zusicherungen gegeben hätten, die im Widerspruch zur offiziellen Haltung dieses anderen Landes stehen. Schon für sich wäre das eine Geschichte, und als diplomatischer Fauxpas von Julie Bishop erst recht.
Leider machten wir den Fehler, in der Überschrift zu dem Artikel zu suggerieren, Bishop habe von einer schon getroffenen Absprache geredet. Das stimmte so nicht, zumal eine solche Absprache nur von Regierungsseite getroffen werden kann und Bishop damals noch nicht der Regierung angehörte. Auf ihre Beschwerde hin änderten wir die Überschrift und fügten einen erklärenden Absatz in den Text ein. Wir dachten, damit wäre die Sache erledigt. Doch eine Stunde später schickte Bishop eine Presseerklärung aus, sie sei vom Guardian verleumdet worden: Wir hätten die Geschichte aufgebauscht und Zitate aus dem Zusammenhang gerissen, auch noch in der korrigierten Version.
Das war schlicht falsch, also erklärten wir in einem Blog unsere redaktionellen Entscheidungen und veröffentlichten das komplette Transkript des Interviews. Viele Leser lobten uns für diese offene Herangehensweise. Unsere Transparenz, so hieß es immer wieder, mache uns vertrauenswürdig.
Scoops im offenen Netz
Offen zu sein kann einem auch große Scoops einbringen. Mein Lieblingsbeispiel dafür sind die Proteste gegen den G20-Gipfel 2009 in London. Damals recherchierten wir über den Tod des Zeitungsverkäufers Ian Tomlinson, der kollabiert war, während er eine Kundgebung durchquerte. Dem Rechtsmediziner zufolge war er an einem Herzinfarkt gestorben. Wir suchten nach Augenzeugen und starteten dafür Aufrufe auf unserer Website und über Twitter. Binnen Stunden meldete sich ein Guardian-Leser aus den USA. Als Investment-Fonds-Manager war er geschäftlich in London gewesen, hatte sich aus seinem Meeting geschlichen, um sich die Demonstration anzusehen, und mit seinem Smartphone gefilmt. Als er zu Hause in New York unseren Aufruf las, sah er sich die Bilder noch einmal an: Sie zeigten, wie ein Polizist Ian Tomlinson zu Boden stieß. Das war zweifellos ein Scoop. Zwar wurde der Polizist vom Vorwurf des Totschlags freigesprochen, jedoch wegen groben Fehlverhaltens entlassen. Dem Rechtsmediziner wurde die Zulassung entzogen. Auf eine Zivilklage von Tomlinsons Familie hin willigte die Polizei in eine Entschädigungszahlung ein und veröffentliche eine förmliche Entschuldigung.
Und nichts von alldem wäre geschehen, hätte der Guardian nicht das offene Netz genutzt.
Kommerzialisierung
Der Tomlinson-Scoop ist auch ein gutes Beispiel für das, was Journalisten heute dringender tun müssen denn je: Geschichten aufspüren.
Viele Zeitungsverlage haben auf das Internet mit einer Kommerzialisierung von Nachrichten reagiert und einen Journalismus hervorgebracht, der im bloßen Umschreiben von Verlautbarungen, Presseerklärungen und Texten der Konkurrenz besteht. In seinem Buch Flat Earth News von 2008 zeigte Nick Davies, das 80 Prozent der Beiträge in der britischen Qualitätspresse nicht original waren und nur 12 Prozent von Reportern stammten. Zum Teil erklärt sich das mit wirtschaftlichem Druck, aber nicht ausschließlich. Die Branche leidet an der Sucht, dass alle immer den gleichen Dingen nachjagen. Als in England der kleine Prinz George geboren wurde und aus dem Krankenhaus kam, lauerten vor dem Eingang hunderte Reporter und Fotografen. Was wäre geschehen, wenn wenigstens drei von ihnen an dem Tag etwas anderes gemacht hätten? Welche Fülle an Geschichten haben wir da verpasst? Wenn wir nicht aufpassen, werden Fotos wie das vom Babyprinzen den Grabstein unserer Branche zieren.
Die große Chance aber liegt im Gegenteil: nicht mit der Meute zu rennen, sondern etwas anderes zu tun. Die Worte des legendären Zeitungsmagnaten Lord Northcliffe sollten uns immer in den Ohren klingen: „Nachrichten sind das, was jemand irgendwo nicht veröffentlicht haben will. Alles andere ist Reklame.“
Die australische Guardian-Ausgabe, vor zwei Jahren gestartet, gibt es nur digital. Das heißt, wir können alles ausprobieren, was digital zu bieten hat. Statt eine Zeitung zu planen, beginnen wir mit einem Ereignis oder einer Idee und fragen uns: Wie erzählen wir das am besten? Als Artikel? Als Liveblog, als Twitter-Serie, als Video, als Hörstück, als Bildergalerie, als Datenblog, als interaktives Schaubild, als Palette kurzer Blogeinträge, als offenen Thread, den wir anlegen, aber dann den Lesern überlassen? Fangen wir bei den Lesern an oder bei den Daten?
Anhand solcher Fragen haben wir Formen wie die interaktive Geschichte „Firestorm“ entwickelt. Sie stellte die verheerenden tasmanischen Buschfeuer von 2012/2013 in den Zusammenhang des Klimawandels und verband dafür Text, Fotos, Videos, Hörstücke und Schaubilder. Hinzu kommen unsere Politik, für die Meinungssektion Comment is Free neue und vielfältige Stimmen zu finden und uns von der Dominanz des weißen, männlichen Kommentators in mittleren Jahren wegzubewegen. Und unser enger Austausch mit der Leserschaft auf unserer Website und in den sozialen Medien.
Dabei setzen wir auf eine entschlossen progressive journalistische Stimme. Gerade in Australien, wo ein stramm rechter Medienmogul mit seinen Publikationen den Markt dominiert, scheint uns das besonders wichtig. Und bisher können wir von einer Erfolgsgeschichte sprechen. Das Publikum ist froh, eine Alternative zu den kommerzialisierten Nachrichten zu haben.
Teil des Ökosystems sein
Die Offenheit hat für Journalisten viele Vorteile. Voraussetzung ist aber, dass man ein Teil des Ökosystems Internet ist und nicht bloß versucht, sich daraufzusetzen. Dass man sich also der Architektur, der Psychologie, den Gepflogenheiten des Netzes anpasst, anstatt ihm die Struktur einer Zeitung überzustülpen.
Stellt man die Leser in den Mittelpunkt dessen, was man tut, so lernt man von ihnen, wie das Internet gerade funktioniert. In dieser Phase des Übergangs schaffen wir das neue Ökosystem alle zusammen – und oft sind uns die Nutzer dabei einen Schritt voraus.
Auf vier Probleme, die sich dabei stellen, möchte ich kurz eingehen: Bezahlschranken, Quellenverlinkung, Leserkommentare und Traffic-Daten.
Wer soll uns bezahlen?
Das Thema Bezahlschranken führt uns mitten ins Eingemachte: Woher soll für Medien im digitalen Zeitalter das Geld kommen? Guter Journalismus ist kostspielig, und mit dem Zusammenbruch des Geschäftsmodells Zeitung fehlt ihm die finanzielle Basis. Die Bezahlschranke ist darauf eine im alten Denken verhaftete Reaktion – die Leser haben doch früher auch für unsere Texte gezahlt, also bitten wir sie wieder zur Kasse. Noch ist ungewiss, ob Bezahlschranken wirklich das nötige Geld einbringen; einiges deutet darauf hin, dass sie sich eher für spezialisierte Inhalte eignen. Ökonomisch sollte man sie jedoch noch nicht vom Tisch wischen, wo wir doch alle ums Überleben kämpfen.
Journalistisch gesehen aber stehen sie in krassem Widerspruch zum offenen Netz. Eine Website mit Bezahlschranke ist bloß Print in neuer Gestalt und macht die Zusammenarbeit mit den Leuten, die früher Publikum genannt wurden, schwierig. Du kannst die Vorteile des offenen Netzes nicht nutzen, wenn du dich selbst einmauerst.
Für guten Journalismus, so lautet das Gegenargument, muss man bezahlen. Doch um den Autor Bronwen Clune zu zitieren: „Hinter der Bezahlschranke steht die Theorie, dass die Leute für gute, investigative Stücke im allgemeinen Interesse bezahlen werden. Wenn aber Informationen im allgemeinen Interesse sind, wie kann der Journalismus dann seine Aufgabe erfüllen, indem er sie hinter eine Schranke stellt?“ Oder umgekehrt: Wenn guter Journalismus bezahlt werden muss, warum verzichten Medienhäuser dann gerade bei besonders wichtigen Geschichten oft auf die Bezahlschranke?
Clune fährt fort: „Wir müssen die Debatte um Bezahlschranken als ein Dilemma unserer Zunft begreifen. Dass solche Schranken die Zukunft des Journalismus sichern, ist eine Illusion.“
Journalisten wollen bezahlt werden, und wir suchen nach Geschäftsmodellen, die das ermöglichen – durch Werbung, Kooperationen, Spenden, Quersubventionierung. Doch wie sollen Bezahlschranken die Zukunft des Journalismus sichern, wenn sich diese Zukunft außerhalb ihrer abspielt?
Verlinke deine Quellen
Drei Monate nach ihrer Amtsenthebung im Juni 2013 brach Australiens Ex-Premierministerin Julia Gillard ihr Schweigen und verhalf damit dem Guardian zu einem ausführlichen und sehr aufschlussreichen Exklusivartikel. Sprich: ein weiterer großer Scoop, und alle australischen Nachrichtenmedien sowie viele weitere rund um die Welt griffen ihn auf. Aber nur die wenigsten verlinkten dabei den Originaltext aus dem Guardian.
Aus der alten Zeitungsmacherperspektive scheint der Gedanke absurd, eine externe Quelle zu verlinken – das ist doch Konkurrenz, warum sollen wir denen Traffic verschaffen?
Nach der Logik der neuen Medien aber ist die Quellenverlinkung unerlässlich. Wer selbst das Internet nutzt, weiß, wie lästig es ist, wenn eine Website zu einem Thema, das sie aufgreift, keinen Link bietet. Nicht zu verlinken, heißt den Lesern zu verweigern, was ihnen in der digitalen Welt ein Hauptbedürfnis ist: Vielfalt und Anschlussfähigkeit.
Leserkommentare
Seit Jahren bietet der Guardian für viele seiner Texte die Kommentarfunktion an. Vor allem Meinungsbeiträge enden für uns nie mit dem Schlusssatz des Autors. Oft beginnt ein Stück erst zu leben, wenn es kommentiert wird.
Es war allerdings für uns kein einfacher Weg. Lässt man Kommentare zu, bekommt man es immer wieder auch mit Beleidigungen und Drohungen zu tun; vor allem Frauen und nichtweißen Autor/innen wird mitunter übel zugesetzt, selbst wenn ein erfahrenes Moderatorenteam die gröbsten Entgleisungen abfängt.
Wenn es aber gut läuft mit den Kommentaren, ergibt sich eine vielschichtige Debatte, in der Leser und Schreiber gleichermaßen ihre Sichtweisen verfeinern und dazulernen können. Wir haben festgestellt, dass dazu unser eigener Umgang mit den Leser-Kommentatoren entscheidend beiträgt: respektvoll, dialogisch – und behutsam moderierend.
Folge deinem Instinkt – aber schau dir auch die Daten an
Der Guardian hat eine interne Traffic-Messfunktion, nach der ich süchtig bin. Sie sehe ich mir morgens als erstes an, noch vor Twitter. Sie zeigt, was wie oft gelesen wird, woher die Leser kommen – ob von unserer Startseite, von Suchmaschinen, aus sozialen Medien – und wohin sie als nächstes gehen: Haben wir es geschafft, sie für weitere Stücke zu interessieren?
Traffic-Daten sind ein umstrittenes Thema. Wir alle kennen die Horrorgeschichten von „Content-Farmen“, wo die Leute über die Zunge von Miley Cyrus schreiben und dann nach Klicks bezahlt werden, und wir alle haben gesehen, wie Medienhäuser wichtige Themen vernachlässigen zugunsten von Geschichten, die massenhaft Traffic bringen. Journalisten der alten Schule betrachten es oft als unter ihrer Würde, sich mit Klickzahlen zu befassen. Und Redakteure der alten Schule glauben oft, es sei ihr guter Instinkt, der sie hochgebracht habe, und mehr bräuchten sie nicht.
Ich habe andere Erfahrungen gemacht. Wer sich mit dem Traffic beschäftigt, will nicht unbedingt auf Klickfang gehen, sondern wissen, wie sich die Leser verhalten, was sie interessiert und was nicht und warum nicht. Ich verwende unsere Messwerkzeuge um Texten, von denen ich weiß, dass sie gut sind, mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen. Sei es, dass wir so eine Geschichte dann prominenter platzieren, dass wir die Überschrift ändern, damit sie sich besser für Googles rätselhafte Algorithmen eignet, oder dass wir auf Twitter und Facebook dafür trommeln.
Bei Print wusste man nie, was wirklich gelesen wurde, trotz aller Leserumfragen. Und sobald die Zeitung erschienen war, konnte man nichts mehr tun, um mehr Publikum für sie zu gewinnen.
Das heißt nicht, dass der Instinkt keine Rolle mehr spielt. Im Gegenteil: Die besten Journalisten haben immer eine Nase für Geschichten und ein Gespür für den Zeitgeist – bei manchen scheint das angeboren, andere erlernen es. Aber ein paar gezielte Messungen können helfen, den Instinkt noch zu verfeinern.
Hinter den Barrikaden
In dieser neuen, offenen Welt, wo unsere früheren Gewissheiten nichts mehr gelten, igeln viele Journalisten sich ein und verschanzen sich, im wörtlichen wie im übertragenen Sinn, hinter immer höheren Barrikaden. Es macht sie wütend, dass anonyme Niemande ihre Artikel kommentieren dürfen. Zugleich scheint es mehr Preise und Feiern für Journalisten zu geben als je zuvor. Dazu endlose Konferenzen zur Zukunft der Medien, bei denen immer irgendwer, der wie ein besonders innovativer Freidenker auftritt, versichert, Print habe eine glänzende Zukunft. Und ehe sie auch nur versucht haben zu begreifen, worum es bei Twitter geht, fordern Journalisten für ihre Tweets ein blaues Verifizierungs-Häkchen, denn sie seien ja, anders als alle anderen auf Twitter, gewichtige Leute. Sie sind besessen vom Überleben – dem eigenen wie dem ihrer Branche. Und gegen die bedrohliche Zukunft verteidigen sie ihre Traditionen, ihre Titel, ihren Status.
Außerhalb der Barrikaden jedoch …
Unterdessen werden die ganz großen Geschichten oft gar nicht mehr von herkömmlichen Journalisten gemacht. Nehmen wir die Snowden-Enthüllungen als Beispiel. Der Zeitungsmann, dem sich Edward Snowden anvertraute, war Glenn Greenwald – ein amerikanischer Kolumnist beim Guardian, der ausgiebig wie kein anderer über die schleichende Invasion unserer Privatsphäre durch den Staat geschrieben hatte. Snowden übergab den Scoop also einem Journalisten, dem er vertraute, weil er wusste, dass dieser seine Sorgen über die massenhafte Überwachung teilte.
Nun könnte man meinen, für diese erschütternden Enthüllungen wäre Greenwald, vor allem unter Kollegen, hoch gepriesen worden. Stattdessen aber brach ein Sturm der Häme über ihn herein. David Gregory, Moderator der Sendung Meet the Press auf NBC, warf die Frage auf, ob Greenwald überhaupt ein richtiger Journalist sei und ob man ihn nicht „vor Gericht stellen“ müsse wegen „des Ausmaßes, in dem er Edward Snowden geholfen und angestachelt hat“. Jeffrey Toobin, der für den New Yorker und für CNN arbeitet, verglich Greenwalds stundenlang am Londoner Flughafen Heathrow festgehaltenen Partner mit einem Drogenkurier, und Willars Foxton vom britischen Telegraph begann eine Kolumne mit dem Worten: „Manchmal frage ich mich, warum ich Glenn Greenwald nicht mag.“
Verunglimpft wurde auch Snowden selbst, obwohl er für seine Enthüllungen sein ganzes bisheriges Leben aufgeben musste. Ebenso Chelsea Manning, die für ihre Zusammenarbeit mit Wikileaks nun für 35 Jahre im Gefängnis sitzt. Und nicht zuletzt Julian Assange, über den Michael Grunwald, Korrespondent des Time-Magazins, twitterte: „Ich kann es kaum erwarten, eine Rechtfertigung für den Dronenschlag zu schreiben, der Julian Assange ausschaltet.“
Warum lösen gerade die Menschen, die die erschütterndsten Geschichten ans Licht bringen, solche Empörung aus? Es gibt ja verschiedene Arten von Journalisten. Die einen tun immer möglichst neutral, die anderen machen ihre politische Haltung transparent. Doch anstatt sich über solche Vielfalt zu freuen, rennen Journalisten sich gegenseitig die Köpfe ein.
Ganz reale Bedrohungen
Zugleich aber ist der Journalismus ganz realen Bedrohungen ausgesetzt, gegen die solch internes Gekabbel erst recht kleinkariert wirkt. Guardian-Herausgeber Alan Rusbridger formulierte es so: „Regierungen setzen Journalismus mit Terrorismus gleich und nutzen nationale Sicherheitsinteressen als Vorwand für massenhafte Überwachung. Die Folgen für die Ausübung unseres Gewerbes sind immens.“
Was bedeutet es für unsere Quellen, wenn alle Metadaten unserer Kommunikation per E-Mail und Telefon für diese und jede folgende Regierung sowie für unberechenbare Konzerne einsehbar sind? Warum schlagen Journalisten rund um die Welt nicht Alarm angesichts dieser existentiellen Bedrohung unserer Arbeit? Während wir unseren Statusverlust im digitalen Zeitalter bejammern, verpassen wir gerade die ganz große Geschichte: Wie neue Überwachungstechnologie Journalismus so gut wie unmöglich macht.
Was ist ein Journalist?
Margaret Sullivan schrieb in der New York Times: „Ein echter Journalist ist jemand, der die grundsätzliche Gegnerschaft von Regierung und Presse begreift und nicht davor zurückschreckt.“ Ich mag diese Definition, denn sie beschreibt einen Bewusstseinszustand und nicht eine geschlossene Gesellschaft. Journalisten müssen außerhalb jeglicher Macht stehen – der politischen, der institutionellen, der wirtschaftlichen. Unsere Aufgabe ist es, Dinge ans Licht zu bringen, die sonst nicht bekannt würden. Journalistische Erfahrung und Handwerkszeug sind dafür beste Voraussetzungen, aber einen Presseausweis braucht man dafür nicht. Journalismus ist etwas, das man tut, nicht etwas, das man ist. Oder, mit den Worten des Jura-Professors Yochai Benkler, der im Prozess gegen Chelsea Manning als Zeuge auftrat: „Journalismus ist weder eine spezielle Organisation noch eine individuelle Identität. Er ist eine Verhaltensweise.“ Diese Verhaltensweise können Menschen überall an den Tag legen.
Zur Verteidigung des Journalismus
Dennoch kommt den professionellen Journalisten weiterhin eine wichtige Rolle in der Gesellschaft zu. Oft wird unterschätzt, wie schwierig eine Recherche sein kann: die monatelange Überzeugungsarbeit, bis ein Informant seine Geschichte erzählt. Die Fähigkeit, eine Geschichte überhaupt zu erkennen. Das Gespür dafür, dass etwas nicht mit rechten Dingen zugeht oder etwas vertuscht wird. Unbequeme Fragen stellen. Einem Zeugen die entscheidenden Informationen entlocken. Wissen, wie man am Telefon reden muss. Wissen, wo man eine bestimmte Akte oder einen Datensatz findet – wissen, wonach man suchen muss. Wissen, wann und wie man einen Geschäftsführer zur Rede stellt und dann bei seinen Erklärungen zwischen den Zeilen lesen. Die Disziplin haben, einen Politiker anzugreifen, den man eigentlich gut findet. Wissen, wann man eine Geschichte lanciert und wann man besser noch wartet. Die Fähigkeit, dem Druck standzuhalten, den Polizisten, Politiker oder konkurrierende Journalisten ausüben können. Das alles ist nicht so einfach, wie es sich Außenstehende oft vorstellen.
Wem kann man im digitalen Zeitalter vertrauen?
Ernsthafte und transparente Berichterstattung ist ein Weg, sich Vertrauen zu erwerben. Und Vertrauen ist im digitalen Zeitalter wichtiger denn je. Schließlich muss es auf der Agora einen geben, dem die Leute glauben, einen, der manche Geschichten bestätigen und andere widerlegen kann. Werden die Journalisten diese Prüfer und Deuter sein?
Während der Unruhen in England 2011 zeigte der Guardian in einer interaktiven Anwendung, wie sich Gerüchte zu den Ausschreitungen über Twitter verbreiteten. Ich liebe Twitter, es hat mein Leben verändert – aber wie weit kann man Twitter vertrauen? Wie weit kann man überhaupt noch auf irgendetwas trauen? Unsere Anwendung zeigte zum Beispiel, wie eine Falschmeldung über Tiger, die angeblich aus dem Londoner Zoo ausgebrochen waren, rasend die Runde machte. Da sehen wir die Prä-Gutenberg-Welt in Aktion. Ein Gerücht kommt auf, breitet sich aus und wird am Ende wieder aufgelöst. Man kann also sagen, die Wahrheit siegt. Allerdings nur für die, die bis zum Ende bleiben. Außerdem werden nicht alle Falschmeldungen wieder korrigiert.
Im April 2013, in den Stunden nach dem Bombenanschlag auf den Bostoner Marathonlauf, wurden Sunil Tripathi und Mike Mulugeta auf Twitter und Reddit als Verdächtige benannt. Die Menge war sich ihrer Sache so sicher, dass ein Tweet umlief: „Wenn Sunil Tripathi wirklich das #BostonBombing verübt hat, bedeutet das einen bahnbrechenden Sieg für Reddit.“
Tripathi war ein als vermisst gemeldeter Student, der mit dem Attentat nichts zu tun hatte. Mulugeta existierte gar nicht. Doch eine ganze Reihe von Medienhäusern griffen den Tweet auf. Reddit entschuldigte sich dann öffentlich – die meisten der Medien taten es nicht.
Beim Klatsch auf dem Marktplatz werden die Falschen beschuldigt: ein schweres Versagen sozialer Medien. Doch noch schwerer wiegt das Versagen der konventionellen Medien. Sie hätten die Pflicht zur Überprüfung gehabt, die Pflicht, nur gesicherte Fakten zu berichten und, wenn sie daran scheitern, zumindest für ihre Irrtümer geradezustehen.
Diese Geschichte ist ein Musterbeispiel für das Chaos, in dem wir stecken. Der einzige Ausweg aus der Vertrauenskrise, in die sich die Medien hineinmanövriert haben, liegt in Offenheit und Transparenz.
Wozu dient Journalismus?
Von der Frage, wozu Journalismus dient, hängt alles ab. Wenn man findet, er soll außerhalb der Macht stehen und den Mächtigen die Wahrheit sagen, wird man für das offene Netz eintreten, den offenen Journalismus, den freien Fluss von Engagement, Kritik und Debatte mit den Leuten, die früher Publikum genannt wurden.
Wenn man aber meint, Journalismus solle dazu dienen, zwischen der Macht und den Bürgern zu vermitteln, Einfluss zu nehmen und Herrschaft zu festigen, so wird man das Netz so weit wie möglich eindämmen und die Debatten auf ein Minimum beschränken.
An dieser Stelle wird die Frage nach den Eigentumsverhältnissen bei Medien besonders dringlich. Der Guardian gehört einer Stiftung namens The Scott Trust, er hat also weder einen Besitzer noch Aktionäre und genießt dadurch echte redaktionelle Freiheit: Alles erwirtschaftete Geld wird wieder in Journalismus investiert. Wenn Menschen mit ihren Geschichten zu uns kommen, dann weil sie wissen, dass wir unabhängig sind. Das gilt für Edward Snowden wie für Julia Gillard. Und die Leser wissen, dass wir uns keinen kommerziellen oder politischen Interessen unterordnen.
Medieneigentümer mögen das offene Netz nicht, weil es ihre Hierarchien über den Haufen wirft. Und so steht dem Gedeihen des digitalen Journalismus eine zunehmende Konzentration der Eigentumsverhältnisse entgegen. In Australien ist dieser Konzentration weltweit am ausgeprägtesten: Hier dominiert Rupert Murdochs News Corp den Markt, und die drei größten Medienhäuser decken 98 Prozent des Tageszeitungsmarktes ab; in den USA sind es 26 Prozent, in Großbritannien 62 Prozent.
Doch die digitale Revolution schafft nun das Potential für einen riesigen demokratischen Raum. Dieser Raum ist der griechischen Agora sogar weit überlegen, denn hier werden die Stimmen von Frauen oder Sklaven nicht unterdrückt. Die Türen stehen allen offen, die Zugang zum Internet haben – Ende 2013 waren es immerhin 39 Prozent der Weltbevölkerung, im Vergleich zu 16 Prozent acht Jahre zuvor.
Vielleicht freuen wir uns aber auch zu früh. Seit einiger Zeit wird das Netz fragmentiert, sodass es anstatt eines Internets diverse Produkte und Plattformen gibt: Desktop, Android, Smartphone, Tablet. Vor allem die Fokussierung auf Smartphones hat die Innovationskraft des Netzes ausgebremst. Online-Anonymität ist kaum noch zu erreichen, wir wissen, dass internationale Geheimdienste jeden unserer Klicks mitverfolgen können. Und im Licht dieser Enthüllungen wird in Ländern wie Brasilien schon ernsthaft die Einführung eines „nationalen Internets“ diskutiert. An die Stelle des World Wide Web würden also ein brasilianisches, ein britisches, ein australisches Internet treten. Was wäre das für ein Rückschlag!
Wenn Technologiekonzerne, Medieneigentümer und gewisse Regierungen gemeinsam danach streben, das aufblühende offene Netz wieder abzuschaffen, könnte es mit der soeben skizzierten demokratischen Utopie schnell aus sein.
Formen eines neuen Journalismus
Aber den Versuch ist es allemal wert. Wir haben das Privileg, in dieser Ära des Umbruchs zu leben, das Privileg, einen neuen Journalismus für ein neues Zeitalter mitentwickeln zu können.
Lasst uns also ein Teil des Ökosystems Internet werden. Lasst uns bewährte journalistische Verfahren mit neuen Wegen kombinieren, um Geschichten zu finden und zu erzählen. Lasst uns offen sein, und lasst uns die Leute, die früher Publikum genannt wurden, in den Mittelpunkt unserer Arbeit stellen. Lasst uns Elite und Straße verbinden.
Nicht Instinkt oder Daten, sondern beides. Nicht Telefon oder Twitter: beides. Nicht neutrale oder politisierte Journalisten: beides. Journalisten oder Blogger oder Aktivisten oder Leser? Die Zukunft des Journalismus sind sie alle zusammen.
Der Text ist die gekürzte Fassung einer Rede, die Katherine Viner 2013 an der Universität Melbourne hielt
Der Text ist die gekürzte Fassung einer Rede, die Katherine Viner 2013 an der Universität Melbourne hielt
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