Als die islamistische, mit al-Qaida kooperierende Miliz am 1. April 2012 in Timbuktu einfällt, beginnt für Ibrahim Maiga ein Albtraum. Die neuen Herrscher in Westafrikas berühmtestem Zentrum für islamische Gelehrsamkeit machen sich sofort daran, dessen Geschichte zu zerstören. Sie verbrennen Tausende antiker Manuskripte, zerstören uralte Mausoleen und zwingen Musiker ins Exil. Den Invasoren, von denen viele aus Algerien stammen, gelten „Heiligenverehrung“ und Musik als unislamisch. Das neue Scharia-Gericht zögert nicht lange, Todesurteile gegen jeden zu verhängen, der gegen die Überzeugungen der neuen Herren verstößt.
Während die Regierungsvertreter vor den Islamisten in panischer Angst fliehen, wird Ibrahim Maiga zum obersten Mediziner Timbuktus. Über Nacht trägt er auf einmal die Verantwortung für die Gesundheitsversorgung von 60.000 Menschen. „Die obersten Pflichten einer Regierung sind Verwaltung und Sicherheit“, sagt er. „Doch der Staat hat sich davongemacht. Alle sind sie weggerannt.“ Der Aufstand hatte im Januar begonnen. Tuareg-Nationalisten, die in der Armee von Muammar Gaddafi gedient hatten, waren im Sommer 2011 zurückgekehrt, ausgerüstet mit schweren Waffen aus den Arsenalen des kollabierenden Regimes. Sie wollten im Norden Malis eine unabhängige Heimat für die Tuareg errichten. Die Regierung reagiert chaotisch und hilflos. Im März 2012 putscht die Armeeführung und übernimmt in der Hauptstadt Bamako, Hunderte von Kilometern weiter südlich, die Regierungsgeschäfte. Angesichts dieser Auflösungserscheinungen schließen die Tuareg sich mit islamistischen Gruppen zusammen. Gemeinsam vertreiben sie die Armee aus dem Norden – einem Gebiet von der Größe Spaniens. Doch schon bald drängen die Dschihadisten die Tuareg beiseite und zwingen den Menschen in den nördlichen Regionen Gao, Kidal und Timbuktu ihr eigenes brutales Regime auf.
Die Besatzung dauert zehn Monate. Am 28. Januar 2013 nehmen französische und malische Truppen Timbuktu wieder ein. Die Stadt wird unter den Schutz von UN-Blauhelmen gestellt. Gepanzerte Fahrzeuge patrouillieren bis heute durch die Stadt. Sie beschützen die Menschen vor den Milizen, die immer wieder die Dörfer in der Umgebung überfallen. Doch während die UNO die Grundversorgung sicherstellt, ist der malische Staat im Norden noch immer nicht präsent. Die wenigen offiziellen Vertreter, die sich in den Norden trauten, wurden bedroht und einige sogar ermordet.
Blauhelme im Einsatz
Malis Norden ist so zu einem weiten gesetzlosen Raum im Zentrum Westafrikas geworden, zu einem Drehkreuz für Drogen-, Menschen- und Waffenschmuggel. Im Süden kontrolliert die Terrorgruppe Boko Haram große Teile von Niger und Nigeria. Im Norden halten Dschihadisten einige Regionen in Libyen und Algerien besetzt. Für Europa, das die Entstehung eines weiteren Rückzugsgebietes für den internationalen Terrorismus fürchtet, entwickelt sich die Lage in Mali sicherheitspolitisch zu einem immer größeren Albtraum.
Obwohl UN-Blauhelme vor Ort sind und die französischen Truppen laufend Operationen zur Aufstandsbekämpfung durchführen, sind Islamisten jederzeit in der Lage, in ganz Mali zivile Ziele anzugreifen. Allein in diesem Jahr kamen bei solchen Angriffen 342 Menschen ums Leben. Sie kommen auf Motorrädern angefahren, setzen Gebäude in Brand und ermorden lokale Funktionsträger. Der bisher schlimmste Angriff fand am 20. November statt, als 170 Menschen im Radisson Blu, einem Luxushotel der Hauptstadt, als Geiseln genommen wurden. Bevor sie befreit werden konnten, wurden 19 von ihnen ermordet. Zwei ausländische Dschihadistengruppen, „al-Mourabitoun“ und „al-Qaida des Islamischen Maghreb“, bekannten sich zu dem Blutbad.
Am Tag darauf gab Präsident Ibrahim Boubacar Keïta vor dem Hotel eine kämpferische Erklärung ab. Doch der Angriff machte nur einmal mehr die chronische Schwäche des malischen Staates deutlich: Die Vertreibung der Armee aus dem Norden, das politische Durcheinander in Bamako und die Ausbreitung von Bandenkriminalität und Terrorismus sind Indikatoren, die anzeigen, dass das System in Mali auf nahezu allen Ebenen korrupt und ineffektiv ist. Da die Regierung nicht in der Lage ist, die Grundversorgung der Bevölkerung zu gewährleisten, wenden sich viele auf der Suche nach sozialer und materieller Unterstützung an ihre Imame.
Drei Jahre nach der Besetzung von Timbuktu durch die Dschihadisten ist Daouda Ali Maiga der prominenteste religiöse Führer in der Stadt. Er steht einer großen Moschee am Stadtrand vor. Vor einiger Zeit habe ich ihn getroffen. Um ihn herum sitzen seine Schüler und lauschen seinen Worten. Wie Ibrahim Maiga blieb auch er während der gesamten Zeit der Besatzung und leitete als Direktor eine der größten Schulen der Stadt. Es gibt noch andere Schulen in Timbuktu, aber die von Daouda ist etwas Besonderes: wegen der schlechten Wirtschaftslage beschloss er, keine Gebühren zu erheben. Um die finanzielle Lücke zu schließen, aktivierte er seine Kontakte aus der Zeit, die er in Saudi-Arabien verbracht hatte. Mit Erfolg: Als er seine neue Schule einweiht, schickt der Imam der Heiligen Moschee in Mekka seinen Sohn, um der Zeremonie beizuwohnen.
Doch in der Stadt hat Daoudas Renommee Schaden genommen, weil er während der Besatzung mit den Dschihadisten kooperiert hat. Einmal wird ein 25-jähriger Mann beschuldigt, einen Sack Reis gestohlen zu haben. Er kommt vor ein Scharia-Gericht. Es urteilt: Ihm soll die Hand amputiert werden. Nachdem die Strafe vollstreckt ist, muss Ibrahim Maiga den Stumpf versorgen. Daouda war einer der Richter.
Daouda beharrt darauf, man habe Druck auf ihn ausgeübt. Während der Besatzung seien immer wieder bewaffnete Dschihadisten zu den Freitagsgebeten in seine Moschee gekommen. Es gab allerdings noch einen anderen Grund, warum die Dschihadisten ihn zum Richter ernannten. Daouda ist Salafist, ein in Saudi-Arabien ausgebildeter Gelehrter. Nach wie vor hält er an einem zutiefst konservativen Glauben fest. Dieser steht in krassem Widerspruch zu dem viele verschiedene religiöse Gebräuche vermischenden Islam, der traditionell in Mali praktiziert wird.
Obwohl er während der Besatzung mit den Milizen gemeinsame Sache gemacht hat, ist Daouda eine einflussreiche Persönlichkeit geblieben. Da es in der Region keine staatlichen Strukturen mehr gibt, wurde die Untersuchung seiner Kollaboration mit den Dschihadisten fallengelassen. Seine Schule ist nach wie vor eine der größten Bildungsanstalten der Stadt. Die Spaltung, die Timbuktu seit der dschihadistischen Besatzung durchzieht, spiegelt einen Kampf wider, von dem ganz Mali betroffen ist. Ein Kampf, den der Islam gegen die Regierung für sich entschieden hat.
Als die malische Regierung sich im Juli 2012 entschließt, mit den Dschihadisten, die Timbuktu besetzt halten, Kontakt aufzunehmen, schickt sie keinen Diplomaten, sondern Mahmoud Dicko den Präsidenten des Hohen Islamischen Rates Malis. Als das Land sich wegen der anhaltenden Krise im Norden verzweifelt um ausländische Hilfe bemüht, tourt nicht der Außenminister durch Europa, sondern Dicko, sowie sein Stellvertreter, Chérif Ousmane Madani Haïdara, und der römisch-katholische Erzbischof von Bamako, Jean Zerbo. Wenn eine Gemeinde eine neue Moschee braucht, ruft sie nicht im Ministerium für religiöse Angelegenheiten an, sondern bei Dicko. Weder Dicko noch Haïdara bekleiden Regierungsämter, aber sie verfügen über die Macht, Gesetze zu verhindern.

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Obwohl sie zusammenarbeiten, sind beide erbitterte Rivalen. Dicko steht offiziell nur einer kleinen salafistischen Gemeinde vor, ist aber einer der mächtigsten Imame im Land. Und Haïdara, der seine Wurzeln in der Maliki-Tradition hat, die in Mali seit dem 13. Jahrhundert dominiert, ist einer der einflussreichsten heiligen Männer Westafrikas. Im Malikismus, einer Schule der islamischen Rechtslehre, werden regionale Bräuche mit der Auslegung des Korans vermengt, die die buchstabengläubigen Salafisten strikt ablehnen. Der Einfluss und die Rolle, die diese beiden Männer spielen, zeigen, wie sehr die Religion inwischen die staatlichen Institutionen ersetzt.
Dicko wächst als Sohn eines konservativen religiösen Richters auf und lernt mit 15 Jahren den Koran auswendig. Die Familie ist Anhänger des Wahhabismus, einer strengen Form des Islams, die in Saudi-Arabien praktiziert wird, und von Maliern ins Land gebracht wurde die zur Hadsch nach Mekka gepilgert waren. Ursprünglich gab es in Mali nur wenige Anhänger. Doch nach und nach beginnen saudische Wohltätigkeitsorganisationen damit, malische Schulen und Moscheen zu finanzieren und junge Leute zu fördern. Dicko ist einer von ihnen, er studiert in Medina islamische Theologie.
Als er nach Mali zurückkommt, arbeitet er kurz als Arabischlehrer und wird dann, wie viele der am Golf ausgebildeten Absolventen, zum Prediger. Er ist in der Gegend um Bamako aktiv. Schnell kann er eine Anhängerschaft aufbauen. 1983 lädt ihn eine Salafisten-Gemeinde ein, Imam einer Moschee in Badalabougou zu werden, einem Vorort von Bamako.
Haïdara beginnt bereits als Teenager in den 70er Jahren auf Bamana zu predigen – eine Sprache, die in Mali, Guinea, Burkina Faso und dem Senegal gesprochen wird. Er setzt seine religiöse Ausbildung bei einem örtlichen Gelehrten fort, der in den Maliki-Traditionen verwurzelt ist. Haïdara geht nach Bamako und verteilt Kassetten mit seinen Predigten. Als 1991 der damalige Diktator Moussa Traoré von der Armee gestürzt wird, hat Haïdara eine große Anhängerschaft hinter sich versammelt.
Erbe des Kolonialismus
Traorés Regierung hat die Zivilgesellschaft lange unterdrückt. Die neue Verfassung von 1991 schafft Raum für kulturelle und religiöse Betätigung. Schnell machen religiöse Organisationen sich dies zunutze. Hunderte islamische Vereine werden gegründet. Nur wenige sind so einflussreich wie Haïdaras „Ansar Dine“ (Verteidiger des Glaubens). Im Laufe der 1990er Jahre wächst die Mitgliederzahl in die Zehntausende. Mithilfe privater Spenden etabliert Haïdara ein landesweites Netzwerk von Schulen, Krankenhäusern und Moscheen.
Angesichts der säkularen Verfassung des Landes haben diese Vereine allerdings wenig politischen Einfluss. Mali ist seit seiner Unabhängigkeit offiziell säkular, ein Erbe des französischen Kolonialismus. Aber 2002 tritt eine Gruppe einflussreicher Imame an, die dies ändern. Sie rufen den Hohen Islamischen Rat ins Leben, den viele seitdem mit seinem französischen Akronym abkürzen: HCIM. Der Rat hat ungefähr 400 islamische Vereine zusammengebracht, um ihnen eine Plattform zu geben. Dicko und Haïdara werden ins Exekutivkomitee berufen, schließlich wird Dicko zum Präsidenten ernannt. Die Salafisten sind auf dem Vormarsch und der Rat entwickelt sich zu einem entscheidenden Faktor in der malischen Politik.
Im August 2009 drängen die kanadische Regierung und andere Geldgeber das malische Parlament, die äußerst konservativen Familiengesetze zu ändern. Nach dem neuen Gesetz sollen nur noch säkulare Eheschließungen anerkannt werden. Dicko und seine Kollegen organisieren Proteste, Zehntausende demonstrieren auf den Straßen von Bamako. Unter dem Druck des HCIM weigert sich der damalige Präsident Amadou Toumani Touré schließlich, das Gesetz zu unterschreiben. Das ist ein Wendepunkt in der bis dahin säkularen Politik Malis: Eine religiöse Organisation hat gezeigt, dass sie Entscheidungen der Regierung revidieren kann.
Die Ereignisse des Jahres 2012 vergrößern den Einfluss des HCIM noch mehr. Der schnelle Rückzug der Armee aus dem Norden offenbart auch, wie weit die Korruption verbreitet ist, und lässt das Vertrauen in die politische Klasse zusammenbrechen. Die Imame werden zur einzig verbleibenden moralischen Autorität. Anders als alle Politiker des Landes werden Dicko und Haïdara von ihren Anhängern wie Rockstars verehrt. Die Politik kann diese Popularität nicht einfach ignorieren. Heutzutage ruft Präsident Keïta zweimal die Woche bei Dicko an.
Dicko hat zwar nichts mit dem politischen Alltagsgeschäft zu tun, übt aber hinter den Kulissen großen Einfluss aus. Obwohl sie nur einen kleinen Teil der Bevölkerung ausmachen, dominieren die Salafisten mittlerweile das Exekutivkomitee des HCIM. Dies verleiht ihnen gewaltigen Einfluss, vom Präsidentenpalast bis in die ärmsten Dörfer des Landes.
Die Politisierung der Religion hat die malische Gesellschaft tief verändert und das Sektierertum extrem befördert. Wo die Leute sich früher gegenseitig einfach als Muslime bezeichnet haben, wird heute zwischen Wahhabiten, Sufisten und Schiiten unterschieden – und diese Labels deuten Verbindungen zur politischen Agenda ausländischer Mächte an. Oft folgen auf diese Andeutungen schwere Anschuldigungen.
Unter der Mehrheit der Maliki ist die Übernahme der gewählten Führung des Islamischen Rates durch die Salafisten ein Gegenstand endloser Spekulationen. Imam Diallo, ein Maliki-Führer und Mitglied des Initiativkomitees des HCIM, wirft Dicko vor, er verhalte sich „wie ein Schiedsrichter, der selbst gegen den Ball tritt. Wie kann es sein, dass sie in einem Land, in dem nur 15 Prozent Salafisten sind, so viel Einfluss haben? Mit Geld aus Saudi-Arabien. Dicko versucht, das Land unter seine Kontrolle zu bringen.“ Es scheint, dass diese Entwicklung nicht mehr aufzuhalten ist.
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