Major Mgxaji, ein pensionierter Gewerkschaftsfunktionär im armen Township Khayelitsha nahe Kapstadt wurde von den Behörden der Apartheid wiederholt inhaftiert und gefoltert. Er war in den 1970ern und 1980ern für den ANC aktiv. „Es ist nicht mehr die gleiche Partei wie damals“, sagt der heute 67-Jährige in einem Interview in Khayelitsha, wo die Korruption nationaler Stromversorger von vielen für die immer wiederkehrenden Energieausfälle verantwortlich gemacht wird. „Die Leute vom ANC kämpfen mittlerweile mehr für ihre Bäuche als verbesserte Lebensbedingungen unseres Volkes. Das ist sehr gefährlich.“
Nachdem vor 25 Jahre ein Sieg des ANC bei Südafrikas ersten freien Wahlen für die „Regenbogennation“ eine neue demokratische Ära eingeläutet hat, ruft die Partei ihre Wähler nun dazu auf, sie aus einer „moralischen Krise“ zu führen. Der ANC wird von immer neuen Korruptionsskandalen heimgesucht, er hat die kriselnde Wirtschaft, den Kollaps des öffentlichen Dienstes, die steigende Arbeitslosigkeit und hohe Gewaltkriminalität nicht im Griff. Für viele wurden die Hoffnungen, die sie nach dem Zusammenbruch des repressiven Apartheid-Regimes hegten, enttäuscht. Selbst führende ANC-Funktionäre, die seit 1994 ohne Unterbrechung im Amt sind, sagen, dass die Parlamentswahlen am 8. Mai "ein Referendum über die Rettung Südafrikas und seine Zukunft“ sein werden.
Mandat für Reformen
Viele Wähler sprechen davon, dass der ANC nicht mehr verstehe, wie sich die Gesellschaft in den vergangenen Jahren verändert habe; das Vokabular vom „anti-imperialistischen Kampf“ sei aus der Zeit gefallen. Die gewaltige Ungleichheit im Land hat die Wut zusätzlich angefacht. „Diese Typen begreifen es nicht. Nichts hat sich verändert. Mandela hat uns an die Weißen verkauft, und diese ANCler mit ihren dicken Autos und ihren Häusern werden daran nichts ändern“, schimpft Lucy Sithole, eine 23 Jahre alte Studentin aus Kapstadt.
Esethu Plaatje (26), die an einer Demonstration gegen Versuche des ANC teilgenommen hat, den Verkauf eines Buches zu verhindern, in dem Einzelheiten über die mutmaßliche Korruption führender Funktionäre ausgebreitet werden: „Es wäre zu einfach, heute Mandela zu kritisieren. Aber der ANC hat sich gewaltig verändert. Es ist nicht mehr der ANC, den wir einmal gekannt haben.“
Die Strategie der Partei für die anstehenden Wahlen besteht darin, Fehler einzuräumen und die 27 Millionen registrierten Wähler zu bitten, seinem Führungspersonal ein Mandat für interne Reformen zu erteilen. „Wir sollten die grundlegenden Werte, für die Mandela und andere gelitten haben, eigentlich nicht retten müssen ….., aber zum ersten Mal benötigt ein ANC-Präsident eine Unterstützung, die über seine Parteibasis hinausgeht, um mit denen fertig zu werden, die für das Problem in unserer Partei gesorgt haben“, sagt der hochrangige Parteifunktionär Ebrahim Rasool. Es ist kaum denkbar, dass der ANC seine erste Wahlniederlage erleiden wird, aber schlechte Ergebnisse könnten seine Dominanz in der südafrikanischen Politik dramatisch schwächen und möglicherweise den weiteren Verfall beschleunigen. Die Partei ist zwischen Reformern aus dem Umfeld von Präsident Cyril Ramaphosa, der nach einem erbitten innerparteilichen Wahlkampf 2018 die Führung übernommen hat, und Fraktionen, die unter der fast ein Jahrzehnt dauernden Regierungszeit seines Vorgängers Jacob Zuma an Einfluss gewonnen haben, gespalten.
Rasool ist sich sicher, dass Ramaphosa im Amt bleiben wird, denn selbst die pessimistischsten Prognosen geben dem ANC noch eine Mehrheit. Jeder Versuch, mit der „tiefen moralischen Krise innerhalb der Partei“ umzugehen, würde noch weiter erschwert, wenn offenbar werde, dass es Ramaphosa an öffentlichem Beistand fehlt.
„Dieses Mal haben wir es nicht mit einem äußeren Feind zu tun, den man an seiner Hautfarbe erkennt, sondern mit unseren eigenen Genossen“, sagt Rasool, der den Wahlkampf des ANC in der Provinz Western Cape leitet. ANC-Funktionäre argumentieren, sie hätten noch immer damit zu tun, die Jahrzehnte zu bewältigen, in denen das Gros der Bevölkerung durch die Politik der Apartheid verarmt sei, und verweisen auf Errungenschaften wie den Bau von 2,8 Millionen Häusern seit Mitte der 1990er Jahre.
Renommee verloren
Schon bei den Kommunalwahlen 2016 hatte der ANC an Boden verloren und musste in wichtigen Städten wie der Handelsmetropole Johannesburg und der Hauptstadt Pretoria an die konservative Oppositionspartei Demokratische Allianz (DA) übergeben. Jonathan Moakes, der den DA-Wahlkampf in Western Cape dirigiert, weist den Eindruck zurück, seine Partei repräsentiere nur die weiße Minderheit Südafrikas. „Die DA hat sich ganz grundsätzlich verändert. Mit Mmusi Maimane haben wir einen schwarzen Vorsitzenden, der unserer Partei einen anderen Charakter gegeben hat. Wir sind eine Regierungspartei. Die Wähler denken weniger an die Vergangenheit und mehr an aktuelle Probleme.“
Glauben die Wähler auch, dass Cyril Ramaphosa, ein früherer Gewerkschaftsaktivist, der unter der Apartheid zweimal im Gefängnis saß und Vizepräsident unter Jacob Zuma war, die großen Veränderungen bewirkt, die dem ANC ihr Regierungsmandat erhalten? Jedenfalls sehen die langfristigen Trends für die Partei nicht gut aus. „Es gibt eine Führungskrise im Land. Es herrscht der Eindruck eines Vakuums, der Orientierungslosigkeit. Wir wissen nicht, wohin wir gehen, und das schafft große Unsicherheit“, sagt William Gumede, ein Analyst und Präsident der Democracy Works Foundation.
Einer jüngsten Untersuchung zufolge hat sich Südafrikas Performance in Bezug auf soziale, wirtschaftliche und administrative Maßnahmen in den vergangenen zwölf Jahren so sehr verschlechtert wie in keinem anderen afrikanischen Land, das kriegerischen Erschütterungen ausgesetzt ist.
Großes Thema im Wahlkampf war die Umsetzung einer Zusage des ANC von 2017, landwirtschaftliche Nutzflächen neu zu verteilen, die sich weiterhin im Besitz von Weißen befinden, die weniger als zehn Prozent der Bevölkerung ausmachen. Eine linke Fraktion innerhalb der Partei sowie die oppositionellen Economic Freedom Fighters hatten stets auf radikalere Maßnahmen zur Neuverteilung der Ressourcen gedrängt. Ohne Erfolg, das Verhalten der Regierung blieb ambivalent.
Einige Analysten sind der Ansicht, der ANC leide an den gleichen Problemen wie andere Befreiungsbewegungen, die auf dem afrikanischen Kontinent zu Regierungsparteien wurden. Als Beispiele kommen Angola, Simbabwe und Algerien in Betracht. Dort tut man sich ebeno schwer, Rückhalt bei jüngeren Wähler zu finden, denen der Kampf gegen Korruption und das Ringen um mehr Lebensstandard wichtiger sind als die Errungenschaften vergangener Zeiten.
Wie ein Entwicklungsland
Man dürfe nicht vergessen, dass der ANC eine Situation bewältigt habe, „die zu einem potenziellen ethnischen Konflikt hätte führen können. Er hat zudem möglicherweise katastrophale wirtschaftliche Entscheidungen vermieden. Und manche der getroffenen Entscheidungen waren vielleicht nicht großartig, haben aber dazu geführt, dass wir nicht wie Venezuela enden“, sagt Anthony Butler, Professor für Politikwissenschaften an der Universität Kapstadt. „Südafrika steht nun wie ein typisches Entwicklungsland mit mittlerem Einkommen da, mit ungefähr dem Maß an Korruption, Kriminalität und Vertrauen in die Regierung, das zu erwarten war.“
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