Die Akten der Anderen

Salil Shetty Der neue Generalsekretär von Amnesty International legt sich mit den Enthüllern von WikiLeaks an

Radikalität ist für den Inder Salil Shetty als Sohn eines engagierten Journalisten und einer feministischen Aktivistin kein Fremdwort. Erst recht nicht, wenn er als neuer Generalsekretär von Amnesty International (AI) für die größte unabhängige Menschenrechtsorganisation der Welt verantwortlich zeichnet. Shetty erzählt über seine Kindheit: „In Mumbai wurde das Telefon meiner Eltern ständig abgehört und mein Vater mehrere Male in Haft genommen und das aus fadenscheinigen Gründen.“

Salil Shetty wuchs in den turbulenten siebziger Jahren auf. Er erlebte 1976, wie in seiner Geburtsstadt der Notstand ausgerufen wurde, was dazu führte, dass von Menschenrechten nicht viel übrig blieb. „Als Vorsitzender der lokalen Studentenvereinigung habe ich damals gelernt, dass Menschen, die ihre Macht missbrauchen, zur Verantwortung gezogen werden müssen. Darum geht es bei Amnesty.“ Mit ihm steht der erste Inder an der Spitze der Organisation. Zuvor leitete Shetty sieben Jahre lang die Millennium-Kampagne der UNO. Fünf Jahre war er Vorsitzender von ActionAid. Kontroversen mit anderen Organisationen des Metiers sind ihm vertraut.

Vor einer Woche schrieb Amnesty gemeinsam mit vier anderen Menschenrechtsverbänden an die Enthüller-Website WikiLeaks, um darauf zu drängen, dass mehrere tausend Namen in den veröffentlichten US-Afghanistan-Protokollen unkenntlich gemacht werden. Es könne zu einer Welle von Hinrichtungen durch die Taliban kommen, sollte WikiLeaks diesem Ersuchen nicht folgen. WikiLeaks-Sprecher Julian Assange antwortete, ohne fremde Hilfe könne man diesem Ansinnen nicht nachkommen. Er drohte, Amnesty International bloßzustellen, sollte sich dessen Führung weigern, Personal zur Verfügung zu stellen.

Shettys Reaktion: „Die digitalen Medien haben so viel Potenzial, um Menschenrechtsverletzungen aufzudecken, doch muss immer gelten, dass niemand zu Schaden kommt. Unsere Priorität wird immer der Schutz von Betroffenen sein.“ Die Debatte mit WikiLeaks bezeugt, wie die Zahl der Menschenrechtsaktivisten durch die digitalen Medien wächst. Sie ist nicht minder ein Indiz dafür, vor welchen Herausforderungen Amnesty als Mediator in dieser neuen Welt steht. Shetty vertritt die Ansicht, die Präsenz von WikiLeaks bringe zu Bewusstsein, mit welcher Verantwortung Rohdaten behandelt werden müssten.

Er feiert mit Amnesty Geburtstag

Streit muss der neue Amnesty-Generalsekretär auch aushalten, wenn es um die Schließung des Gefangenenlagers Guantánamo geht, die von Barack Obama versprochen und noch immer nicht vollzogen wurde. Man werde natürlich weiter Druck machen, so Shetty, damit Häftlinge endlich freikämen. Nur bescheren die Kontakte von Amnesty zu anderen Gruppen, die sich gleichfalls für ein Ende der Guantánamo-Internierungen einsetzen, weiteren Konfliktstoff. Gita Sahgal, Vorsitzende der Gender Unit von Amnesty, trat zurück, nachdem sie der Organisation ideologischen Bankrott und Frauenfeindlichkeit vorgeworfen hatte. Sahgal störte die Verbindung von AI zu Mozzam Begg, einem Ex-Häftling aus Guantánamo, und zu seiner Organisation Cageprisoners. Die zu unterstützen, so Sahgal, unterlaufe die Amnesty-Kampagne für die Rechte der Frauen.

Die Affäre Begg bringt negative Schlagzeilen, doch Shetty verteidigt sich: „Wir können nicht zu sortieren beginnen, welche politischen Häftlinge wir unterstützen und welche nicht. Wenn wir erst fragen, wie es der Betreffende mit den Taliban hält, unsere Hilfe also von einem Weltbild abhängig machen, dann widerspricht das dem Prinzip, dass es sich beim Recht auf Leben um ein grundlegendes Menschenrecht handelt.“

Seine indische Herkunft könne ihm helfen, glaubt Shetty, Amnesty ein authentischer Generalsekretär zu sein. „Wenn man die Armen in einem Staat wie Indien fragt, ob die Menschenrechte ein Import aus dem Westen seien, verstehen sie die Frage nicht. Es ist ein verbreiteter Irrglaube, die Menschenrechte seien ein Geschenk an die Entwicklungsländer. Nach meiner Auffassung sind die grundlegenden Menschenrechte – auf Bildung, auf freie Meinungsäußerung, auf Nahrung und ein Obdach – etwas tief Verwurzeltes und das überall.“ Um so mehr müsse man die Präsenz von Amnesty in den Entwicklungsländern ausweiten. „Ob in Indien oder Brasilien – wir brauchen Leute, die dort recherchieren und Kampagnen leiten, anstelle von Leuten, die in London sitzen.“ Als Amnesty International 1961 gegründet wurde, lag dem die Idee zugrunde, dass jedes einzelne AI-Mitglied anders sein und dadurch den Unterschied machen könne. „Woraus sich für mich der Reiz unserer Organisation ergibt, und was mich dazu bewegt hat, für Amnesty zu arbeiten, das sind die 2,8 Millionen Mitglieder, die von unten Druck ausüben können“, sagt Salil Shetty. „Dadurch besitzt Amnesty eine einzigartige Fähigkeit, den Mächtigen die Wahrheit zu sagen.“

Nächstes Jahr feiern sowohl Amnesty als auch Shetty ihren 50. Geburtstag, er resümiert: „Das Vertrauen in das politische Führungspersonal hat weltweit nachgelassen. Das gilt in letzter Zeit ebenso für das Vertrauen in wirtschaftliche Elitekader. Vor diesem Hintergrund werden Organisationen wie unsere noch wichtiger. Uns vertrauen die Menschen, da sie wissen, dass wir keine eigennützigen Zwecke verfolgen. Die Aufgabe, Licht auf Ungerechtigkeiten und Menschenrechtsverletzungen zu werfen, war deshalb noch nie so wichtig wie heute.

Salil Shetty (49) wuchs in Mumbai auf und studierte in London Management und Sozialpolitik. Er führte ab 2004 die UN-Millenniumskampagne gegen Armut und zuvor die NGO ActionAid

Sarfraz Manzoor ist Berichterstatter und Kommentator des Guardian in Indien

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Übersetzung: Christine Käppeler
Geschrieben von

Sarfraz Manzoor | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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