Obwohl die Stimme Großbritanniens im Nahen Osten für gewöhnlich nicht viel zählt, könnte sie dieses Mal den entscheidenden Ausschlag geben. Eine Laune in der diplomatischen Algebra versetzt die ehemalige Kolonialmacht in die Lage, bei dem palästinensischen Antrag auf Anerkennung staatlicher Souveränität vor den Vereinten Nationen die entscheidende Rolle zu spielen und damit eine Sache zu Ende zu bringen, die vor 60 Jahren ihren Anfang nahm.
Barack Obama hat bereits erklärt, die USA würden das Ersuchen der Palästinenser bei der sich in New York konstituierenden UN-Vollversammlung zurückweisen. Weite Teile Lateinamerikas, Afrikas und des Nahen Ostens planen hingegen eine Unterstützung der Palästinenser. Dies macht Europa zum diplomatischen Schlachtfeld. Wenn sich die führenden europäischen Mächte den USA anschließen, wird die palästinensische Initiative als gescheitert gelten. Sollte eine Mehrheit der EU-Länder die Anerkennung in irgendeiner Form unterstützen, können die Palästinenser dies als einen symbolischen Sieg verbuchen.
Sowohl unter den Europäern als auch zwischen EU und Palästinensern sind Verhandlungen im Gange, um zu einer Kompromissposition zu gelangen. Frankreich und Spanien wollen zustimmen, Deutschland und Italien sind skeptisch. Deshalb kommt Großbritannien gewissermaßen die entscheidende Stimme im „Quintett“ der führenden europäischen Nationen zu. Wie David Cameron sich entscheidet, wird die europäische Haltung mit bestimmen. Damit wird sie auch für die palästinensische Bemühungen von überragender Bedeutung sein. Jahrzehntelang erweckte die Diskussion in Großbritannien den Anschein, als habe man Einfluss. Nun ist dem wirklich so.
Vollversammlung oder Sicherheitsrat
Das Gefeilsche in den Hinterzimmern konzentriert sich darauf, welches UN-Gremium die Entscheidung treffen wird – die Generalversammlung oder der Sicherheitsrat – und worüber genau abgestimmt werden soll. Wenn die Palästinenser hoch hinaus wollen, dann werden sie beim Sicherheitsrat einen Antrag auf Vollmitgliedschaft stellen - trotz des von Obama angekündigten Vetos. Sie könnten sich aber auch an die Vollversammlung wenden, in der ungefähr 140 Länder bereit sind, ihnen die Aufwertung ihres UN-Status von Beobachter zu „Nichtmitgliedsstaat“ zuteil werden zu lassen, was ihnen zumindest Zugang zu den großen internationalen Institutionen verschaffen würde.
Großbritannien sollte sich festlegen und die Sache der Palästinenser unterstützen. Nur die Anerkennung eines palästinensischen Staates in den Gebieten, die Israel seit 1967 besetzt hält, kann der dahinsiechenden Idee einer Zwei-Staaten-Lösung – der letzte Hoffnung für einen palästinensisch-israelischen Frieden – neues Leben einhauchen. Der einzige Weg, diesen hartnäckigsten aller Konflikte zu lösen, besteht darin, das Land zwischen beiden aufzuteilen.
Seit Jahren wird an der Idee einer Zwei-Staaten-Lösung festgehalten, obwohl sie seit der Rückkehr von Benjamin Netanjahu ins Amt des Premierministers zunehmend an Substanz verlor. Offiziell bekennt er sich zu einem palästinensischen Staat. Doch macht seine Politik, unaufhörlich neue Siedlungen in der West Bank zu bauen, das Erreichen dieses Ziels immer unwahrscheinlicher. Ein deutliches Ja der UN würde diesen Trend umkehren und erneuern, was schon lange internationaler Konsens ist: dass das historische Land Palästina unter den beiden Bevölkerungsgruppen aufgeteilt werden muss, die auf ihm leben.
Die Alternative ist keine
An diesem Punkt können Großbritannien und Europa ein wenig zusätzliche Unterstützung leisten. Ein aufschlussreiches neues Dokument des EU-Thinktanks European Council on Foreign Relations (ECFR) mit dem Titel "Why Europeans Should Vote Yes" vertritt die Ansicht, eine neue UN-Resolution könnte die Idee „Israels neben einem palästinensischen Staat“ ausdrücklich unterstützen, „und dabei gleichzeitig Israels Legitimität und Bestand“ festigen. Wenn die Vollversammlung mit ihren arabischen und islamischen Mitgliedsstaaten für eine solche Resolution stimmen würde, käme dies de facto einer Anerkennung Israels gleich und könnte diejenigen beruhigen, die eine „Delegitimierung“ des Landes befürchten. Der Text könnte sogar eine Bekräftigung der UN Resolution 181 umfassen, in der 1947 die Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat beschlossen wurde.
Wir sollten uns aber die Alternative vor Augen führen, insbesondere den Tag nach einem von den USA und Europa angeführten Nein. Die öffentliche palästinensische Meinung würde sicherlich zu dem Schluss kommen, dass der Weg der Gewaltfreiheit und Diplomatie gescheitert ist, gemieden von eben jenen Ländern, die sie immer wieder dazu gedrängt hatten. In der darauffolgenden Diskussion innerhalb der palästinensischen Gesellschaft würde der Eindruck vorherrschen, als hätten die Befürworter des bewaffneten Widerstandes Recht gehabt.
Netanjahu könnte dagegen triumphieren. Daniel Levy, der Mitautor des ECFR-Papiers, sagt voraus, dass ein Nein der Europäer den israelischen Premierminister für seine Starrköpfigkeit belohnen würde: „Er wird die EU noch weniger respektieren und seine ablehnende Haltung sogar noch verstärken.“ Bibi hätte also Rückenwind und die Fatah würde diskreditiert.
Sorge um die Reputation Europas
Die europäischen Regierungen sollten an ihre Reputation denken, wenn sie die Palästinenser ausbremsen. Während sie die Menschen loben, die in den arabischen Revolutionen ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen, hätten sie den Palästinensern den gleichen Weg, wenn auch nur symbolisch, verweigert. Obama läuft wegen seines angekündigten Vetos Gefahr, in der arabischen Welt als Heuchler dazustehen. Sollten die Europäer den gleichen Fehler begehen, verlören sie ihren Einfluss im Nahen Osten. Niemand wird mehr auf sie hören.
Ein positives UN-Votum allein wird das Leben der Palästinenser nicht verändern. Eine Ablehnung ihres Antrages wäre aber dennoch eine Katastrophe. Sie würde den Hardlinern in Israel Aufwind geben, die friedlichen Kräfte unter den Palästinensern schwächen und der kurz vor dem Aus stehenden Zwei-Staaten-Lösung vollends die Luft abdrücken. Diese drei Argumente sollten in den europäischen Hauptstädten Nachhall finden, die letzten beiden sollten aber auch in Israel selbst auf Resonanz stoßen. Aus diesen Gründen wäre es klug, wenn Großbritannien bei der UNO mit Ja stimmen würde. Und eine schlaue israelische Regierung, die versteht, dass Sicherheit am besten durch Frieden erreicht werden kann, würde ebenso handeln.
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