Seit 160 Jahren setzt die New York Times die Maßstäbe im US-amerikanischen Zeitungsjournalismus. Nur nicht bei der Geschlechtergleichheit. Doch nun hat das Blatt, das paradoxerweise auch als die The Grey Lady bekannt ist, mit der Ernennung der ersten weiblichen Chefredakteurin in dieser Hinsicht für eine Nachricht gesorgt. Jill Abramson wird den Posten am Anfang September übernehmen und dann – in einer Zeit, in der die Branche tiefgreifende Umbrüche erfährt – einem der einflussreichsten und meistgelesensten Medienunternehmen der Welt vorstehen.
Ihre Ernennung wurde als Auftrieb für Frauen in einer Branche begrüßt, deren Spitzenpositionen noch immer von Männern beherrscht wird. Tina Brown, als ehemalige New Yorker- und derzeitige
Yorker- und derzeitige Daily Beast-Chefin selbst ein großer Name der New Yorker Medienszene, pries die Personalie bei Twitter als „Triumph für Frauen in den Medien.“ Sarah Ellison, freie Redakteurin bei der Vanity Fair, meint, Abramson sei für ihren neuen Job hervorragend qualifiziert. Sie sei die Art Journalistin, die keine Furcht zeige und sich „gut macht in einer Branche, die Frauen in Machtpositionen nicht immer willkommen heißt.“Jill Abramson arbeitet seit 1997 für die New York Times und war dort unter anderem als investigative Reporterin und Leiterin des Washingtonbüros tätig. Sie tritt die Nachfolge Bill Kellers an, der nach acht turbulenten Jahren zurücktritt. Als Keller den Job im Jahr 2003 übernahm, stand er vor der Herausforderung, die Redaktion nach einem Skandal um einen Reporter, der Geschichten erfunden hatte, wieder zu festigen. Er lenkte die Zeitung – gerade mit Blick auf das Verhältnis zur Bush-Regierung – durch bewegte Wasser und brachte ihr mit einer Vielzahl von Exklusivberichten über Telefonüberwachungen und Folter durch die US-Regierung den Zorn des damaligen Präsidenten ein. Gemeinsam mit internationalen Partnern wie dem britischen Guardian und dem Spiegel, war er daran beteiligt, die Fülle an von WikiLeaks veröffentlichten US-Staatsgeheimnissen zu entwirren.Hauptaugenmerk: Online Erinnern wird man sich der Keller-Jahre aber vielleicht als derjenigen, in denen die Herausforderungen – und Bedrohungen – des digitalen Zeitalters sich in einer rapide steigenden Zahl von Internetlesern und damit einhergehenden sinkenden Einnahmen und Einsparungen innerhalb der Redaktion manifestierten. Mit diesen Entwicklungen wird sich zweifellos auch seine Nachfolgerin befassen müssen.Abramson übernimmt ein Blatt mit großer und weiter wachsender Internetpräsenz, nytimes.com gehört zu den meistbesuchten im Netz. Laut den neuesten Zahlen der Marktforschungsfirma Comscore wird der NYT-Onlineauftritt monatlich von 46 Millionen Lesern aufgesucht, von denen gerade mal 3 Millionen aus den USA kommen. Im März hatte der Herausgeber Arthur Sulzberger, dessen Familie die Anteilsmehrheit an dem Unternehmen hält, ein System digitaler Abonnements eingeführt, um aus diesem Webtraffic Profit zu schöpfen. Erste Auswertungen deuten allerdings darauf hin, dass die NYT durch die teilweise Errichtung einer Paywall ein Viertel der Seitenaufrufe eingebüßt hat. Abrahmson ist mit der Problematik vertraut, war sie doch einen Großteil des vergangenen Jahres auf Redaktionsseite für die digitale Strategie des Unternehmens mitverantwortlich.„Wie jeder Zeitungschef heutzutage muss sie herausfinden, wie sie die Zeitung für eine breitere Online-Leserschaft attraktiver macht, ohne die Qualität zu verwässern“, so ihr Vor-Vorgänger Howell Raines. Auch wenn die digitale Zukunft sich als die maßgeblich Probe für Abramsons Zeit auf dem heißen Stuhl erweisen dürfte, wird der Ritterschlag, erste weibliche Chefredakteurin der NYT geworden zu sein, noch lange nachhallen. Zwar standen bereits bei wichtigen US-amerikanischen Regionalzeitungen wie dem Portland Oregonian und der Atlanta Journal Constitution sowie bei überregionalen Institutionen wie der Nachrichtenorganisation Associated Press Frauen an der Spitze – die Stellung der New York Times in der US-Zeitungslandschaft allerdings macht Abrahmsons Ernennung zu einem Hieb gegen die der gläsernen Decke in der Branche.Anne Marie Lipinski, die von 2001 bis 2008 Chefredakteurin der Chicago Tribune war, erinnert sich, dass ihr die Tragweite damals zunächst gar nicht bewusst war: „Für mich war das kein besonderer Moment, aber ich bemerkte, dass es für viele andere durchaus Bedeutung hatte – besonders für viele der Frauen, die für mich arbeiteten. Ich wurde als eine Art Vorbild gehandelt.“ Damals sei sie von einem japanischen Reporter bei einem Interview gefragt worden, ob auch bei anderen großen US-amerikanischen Zeitungen Frauen in leitender Stellung befänden. Da die Englischkenntnisse des Journalisten begrenzt waren, lautete der genaue Wortlaut der Frage: „Gibt es noch andere große Frauen?“ Davon angeregt rief Lipinski die "Large Ladies Dinner" ("Große-Frauen-Dinner) ins Leben, bei denen sich jährlich Frauen trafen, die bei amerikanischen Zeitungen Führungspositionen innehatten, um Erfahrungen auszutauschen und sich gegenseitig zu unterstützen: „Es war“, erzählt Lipinski, „eine kleine, aber sehr wackere Gruppe.“