Die Frauen von Copiapó

Beziehungen Vor einem Jahr wurden 33 chilenische Bergleute in der San José-Mine 69 Tage lang verschüttet. Für die Frauen ist seither nichts mehr wie zuvor

Das Wunder geschah an Tag 17. Die Retter hörten, wie jemand gegen ihren Suchbohrer schlug. Einige Zeit später las der Präsident Chiles einen Zettel vor, den die verschütteten Bergleute am Bohrkopf befestigt hatten: „Uns geht es im Schutzraum gut – die 33.“ Die Fernsehbilder dieses Moments gingen um die Welt. Lilly Ramírez ist auf keinem zu sehen. „Ich erinnere mich, dass ich aufstand und vor Freude schrie... Dann wurde alles schwarz.“

Lilly Ramírez’ Geschichte beginnt wie der Albtraum aller Bergmannsfrauen. Als es am 5. August 2010 an ihrer Tür klopfte, kochte sie gerade für Mario Gómez, ihren Lebensgefährten, das Abendessen. Draußen stand ein Manager aus der Mine. Lilly erinnert sich, wie er sagte, es habe einen Unfall gegeben, aber bis zum Morgengrauen seien alle befreit. „Ich sagte ihm, er könne mir nichts vormachen. Ich kannte die Mine und wusste, dass die Männer bei einem Einsturz auf keinen Fall schon am nächsten Tag wieder oben wären.“

Lilly ließ alles stehen und liegen. Sie zwang den Manager, mit ihr zum Zecheneinstieg zu fahren, der aus nicht mehr als einem großen Loch in einem felsigen Hang bestand. Hier, inmitten der Atacama-Wüste, an einem der trockensten Orte der Welt, würde Lilly die nächsten 69 Tage bleiben. Sie würde erst dann wieder nach Hause fahren, wenn man Mario und die anderen Männer gerettet hatte.

„Die sind keine Helden. Wir sind keine Helden. Wir alle sind Opfer“, murmelt Lilly Ramírez, eine sonst eher resolute Frau vor sich hin. Mario war mit 63 Jahren der älteste der 33 Bergleute, die eine halbe Meile unter der Erde eingeschlossen wurden. Aber Lilly täuscht sich. Die Frauen waren sicherlich auch Opfer. So wie ihre Männer. Aber eines sind sie noch viel mehr: Sie sind Heldinnen. Erst jetzt, ein Jahr nach dem Unglück, kann man ermessen, wie sehr sie unter dem, was ihren Familien widerfahren ist, gelitten haben und wie sie nach wie vor leiden. Sie versuchen noch immer zu verstehen, was eigentlich mit ihnen passiert ist.

Als Lilly am Abend die Mine erreichte, sah sie, wie das erste Rettungsteam schon wieder herauskam. Es hatte keinen Zugang zu den Verschütteten gefunden. „Überall herrschte Chaos. Niemand konnte mir sagen, was los war.“ Lilly wusste, dass der Stollen riesig und gefährlicher war als die meisten anderen. „Ich habe niemandem vertraut.“ Sie ahnte, dass die Rettungsteams bald schon mit der Begründung wieder abfahren wollen würden, nichts mehr tun zu können.

Die Minenbetreiber hatten seit jeher an den Sicherheitsmaßahmen gespart, nun würden sie wohl kaum eine groß angelegte Rettungsaktion bezahlen. Geschichten von Bergleuten, die einfach dem Tod überlassen werden, hört man in Lateinamerika beinahe jeden Tag. Lilly und die anderen Angehörigen mussten etwas tun: „Wir wussten, wenn die Retter erst einmal weg sind, ist alles vorbei.“ Und so begannen sie, die Straße zu blockieren.

Das war der entscheidende Moment, das bestätigte hinterher selbst der Polizeichef von Copiapó. Denn ohne das Eingreifen der Familien wären die Bergleute wahrscheinlich eingeschlossen geblieben. Lilly erinnert sich: „Die Behörden haben versucht, uns zu verjagen. Sie sagten uns, dass unsere Kinder krank werden würden, dass sie eigentlich in der Schule sein sollten… Dass wir an der Mine nichts zu schaffen hätten… Dass wir im Weg wären.“ Ihre Stimme klingt verächtlich, wenn sie über die Welt des Bergbaus spricht. Es ist eine Welt der Männer, in der es Frauen nicht einmal erlaubt ist, eine Mine zu betreten. Denn das bringt Unglück.

Albtraum einer Bergmannsfrau

Die ersten 17 Tage waren die schlimmsten. Niemand wusste, ob noch einer der Bergmänner am Leben war. Lilly kann sich an diese Zeit kaum erinnern. „Ich habe wenig geschlafen und gegessen. Es war, als würde ich mich selbst bestrafen. Ich dachte, es ist falsch, wenn ich etwas esse und er nicht.“ Es zählte jeder Tag, und die Frauen mussten den Druck auf die Retter aufrechterhalten, so lange, bis ihre Männer gerettet waren – und Lilly für acht Minuten das Bewusstsein verlor.

Von da an wurde alles ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt. Aus dem Camp vor der Mine wurde eine Kleinstadt aus Wohnmobilen, Satellitenschüsseln und Fernsehmoderatoren. Nun, wo die Geschichte eigentlich zu Ende war, weil die Bohrer verstummt waren, werden die Frauen und Männer zu Stars. In diesem Moment trug Mario Gómez seiner Lilly die Ehe an.

Elizabeth Segovia wartete, als das Unglück geschah, auf die Geburt ihres dritten Kindes. Als die Medien das herausfanden, war es mit ihrer Privatsphäre vorbei, erzählt sie missmutig, während sie in ihrer Ein-Zimmer-Wohnung sitzt: „Sie kamen sogar einfach hier rein, ohne zu fragen.“ Als dann das Fernsehen berichtete, ihr Ehemann Ariel hätte in der Grube gemeinsam mit den anderen Bergleute beschlossen, das Kind Esperanza zu nennen – „Hoffnung“ –, trug Elizabeth plötzlich sogar so etwas wie ein Symbol in ihrem Bauch.

Auf dem Weg zur Entbindung wurde sie gefilmt, bei ihren ersten Schritten aus dem Krankenhaus mit dem Baby auf dem Arm natürlich auch. Immer wieder wurde sie nach dem „Hoffnungs-Baby“ gefragt. Das Leben der beiden war nicht mehr ihres.

Lilly Ramírez lebt heute auf einer Baustelle. Wie viele andere der Bergleute hat Mario seine Entschädigung dafür genutzt, das kleine Haus ein wenig zu vergrößern. Die Bergbaustadt Copiapó besteht fast nur aus solchen einstöckigen Häusern aus Betonstein wie seinem. Die Häuser erinnern daran, wie bescheiden das Leben hier war und noch immer ist. Viele leben zu fünft in zwei Zimmern. Nur wenige haben bereits fließendes Wasser.

Und so wirkt es ein wenig surreal, dass in Lillys Küche eine rote Kawasaki steht. Mario bekam sie nach der Rettung geschenkt. Seither aber hat er sie kaum benutzt und nie höher als in den zweiten Gang geschaltet. In schlimmen Momenten fragt Lilly sich, ob all die Opfer, die sie im letzten Sommer gebracht hat, die Sache wirklich wert waren.

Das Zusammenleben mit Mario ist nicht leicht. Nur wenige Männer sind einfach so in ihr altes Leben zurückgekehrt, trotz der Therapie, die viele begonnen haben. Plötzlich standen sie im Zentrum der Aufmerksamkeit, sie wurden herumgezeigt und flogen um die Welt. Selbst in New York oder Tel Aviv wurden sie auf der Straße erkannt, jeder wollte plötzlich ein Lächeln, ein Foto, eine Berührung. Ein Stück von ihnen.

Einige der Männer finden gemeinsam Trost. Die Freundschaften, die unter der Erde in der Mine entstanden sind, sind stärker als die Verbindungen zu ihren Familien. Andere wiederum weigern sich, Kollegen zu treffen – der Neid über Auftrittsgelder und Ruhm hat sie auseinandergetrieben.

Bei all dem ist den Frauen nie Hilfe angeboten worden. Sie mussten allein versuchen, mit diesem zerstörten Leben zurechtzukommen. Elizabeth und ihre Kinder schauen noch immer nach, ob vor ihrem Haus Fotografen herumstehen, auch wenn sich ihr Heldenstatus längst abgenutzt hat. Nun aber ist an seine Stelle der Neid getreten. Die Nachbarn haben gesehen, dass die Kameras und Journalisten immer wieder mal zurückkommen.

Das Trauma, das den Männern und ihren Frauen vor einem Jahr widerfuhr, ist für die anderen in weite Ferne gerückt. Es ist für sie zu einer blassen Erinnerung geworden, von der nur der Glamour und die angeblichen Belohnungen übriggeblieben sind. Manchmal scheint es, als wünschten sich die Nachbarn, auch in der Mine eingeschlossen gewesen zu sein.

Elizabeth sagt es deutlich: „Ich will nichts Besonderes. Ich will nur meinen Mann zurück. Ich will das Leben, das wir vorher hatten.“ Ariel kann seit dem Unglück nicht mehr richtig schlafen. Am Silvesterabend verschwand er einfach wortlos und verzog sich in den Süden des Landes. Er ließ Elizabeth mit den zwei kleinen Jungen und dem Baby allein. Als er ein paar Tage später zurückkam, konnte er nicht einmal sagen, warum er gegangen war.

Der Teufel hat ihn geholt

Die junge Frau lächelt traurig und schüttelt den Kopf, wenn man sie fragt, ob sie mit Ariel über das gesprochen hat, was ihm in der Mine widerfahren ist. „Ich will ihn nicht noch mehr beunruhigen.“

Ein paar der Bergmänner versuchen noch immer, so viel wie möglich aus ihren 15 Minuten Ruhm herauszuholen. Der Elvis-Presley-Imitator Edison Peña, 34, hat sich ein Entertainer-Image aufgebaut. Er ist in die Hauptstadt Santiago gezogen und tritt dort überall auf, wo er kann. Seine Liebe für Elvis Presley hat ihn sogar nach Graceland geführt, und er spricht heute von „der Reise meines Lebens“.

Seine Freudin Angélica und ihr vierjähriges Kind haben versucht, mit diesem neuen Leben Schritt zu halten. Gelungen ist ihnen das nicht, und Angélica bemüht sich seitdem zu verstehen, wer der Mann ist, mit dem sie zusammenlebt: „Die Mine hat mir einen anderen Edison gegeben. Sein Wesen und alles, was ihm wichtig war, hat er unten zurückgelassen.“

Nun managt sie seine Termine und versucht, die Übersicht über seine Aktivitäten zu behalten. Eigentlich aber will sie, dass er eine Karriere als Motivationstrainer anstrebt. Sie sind in diesem Jahr bereits einmal aufgetreten, im brechend vollen Millenium Dome vor Geschäftsleuten. Angélica weiß genauso wie ihr Mann, dass das Zeitfenster, das sie haben, nur schmal ist und ihnen wenig Zeit bleibt, um sich zu etablieren.

Es ist ein fortwährender Kampf: Edisons Stimmung schwankt sehr. In manchen Momenten gelingt ihm ein rationales Verständnis des Erlebten; manchmal aber versinkt er wieder in jener Dunkelheit, der er unten in der Mine ausgesetzt war. In ihm ist eine Wut, die sich zuweilen in Brüllereien und Saufgelagen zeigt. Einen Großteil des Geldes hat er beim Feiern mit seinem Bruder durchgebracht. Selbst seine Mutter fragt sich, ob ihr Sohn nicht ins Krankenhaus eingewiesen werden sollte. Angélica sagt: „Wenn sowohl Gott als auch der Teufel unten in dieser Mine waren, dann denke ich, dass ihn wohl der Teufel geholt hat.“

Keiner kommt auf den Gedanken, dass auch die Frauen Opfer sein könnten.

Wie geht es weiter? Wie wollen sie in Zukunft überleben? Es gibt keinen Fonds, der die Familien auch weiterhin unterstützt. Und wer denkt, dass so ein Unglück Millionen einbrächte, wurde auch eines Besseren belehrt.

Lilly Ramírez dankt Gott, dass ihr Mann gerettet wurde. Eine Wundergeschichte aber ist das vergangene Jahr alles in allem nicht gewesen. Noch immer streiten die Anwälte der Bergmänner mit den Minenbesitzern und der Regierung vor Gericht. Lilly sagt noch einmal deutlich, dass man aus dem Unglück Lehren ziehen muss. „Das war schlechtes Management“, sagt sie. „Wenn die Eigentümer mal an die Männer gedacht hätten, die für sie arbeiten und nicht nur daran, ein paar Pennies mehr zu verdienen und so die Leute unter fürchterlichen Bedingungen arbeiten ließen…“

Am Grund der Mine versprachen die Männer Gott und sich selbst, dass sie, wenn sie eines Tage auf die Oberfläche der Welt zurückkehren würden, andere Menschen würden. Bessere Ehemänner und Väter als zuvor. Eingesperrt im Bauch der Erde, dachten sie, sie sähen die Welt und ihre Leben dort in einem anderen Licht. Es ist anders gekommen. Und Lilly wartet noch immer auf die Hochzeit. Das Versprechen ihres Mannes blieb unerfüllt.

Angus Macqueen arbeitet als Dokumentarfilmer für die britische BBC. Der hier veröffentlichte Text ist eine überarbeitete Version seiner Reportage aus dem Observer

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Übersetzung: Steffen Vogel
Geschrieben von

Angus Macqueen | The Guardian

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