Die große Depression

Studie Soziale Ungleichheit verursacht Stress und Angst. Was das mit einer Gesellschaft macht, zeigt unser Alltag
Die Leistungsgesellschaft (Symbolbild)
Die Leistungsgesellschaft (Symbolbild)

Foto: Imago/Phototek

Die Lücke zwischen Vorstellung und Realität klafft immer weiter auseinander. Unsere reiche Gesellschaft ist voll von Bildern fröhlich lachender Gesichter, doch als die britische Mental Health Foundation – eine Wohltätigkeitsorganisation, die über Fragen der psychischen Gesundheit informiert – im vergangenen Jahr eine großangelegte Untersuchung in Auftrag gegeben hat, kam diese zu dem Ergebnis, dass 74 Prozent der Erwachsenen so sehr gestresst sind, dass sie das Gefühl haben, damit nicht mehr klarzukommen. Fast ein Drittel hegt Selbstmordgedanken und 16 Prozent der Befragten haben sich irgendwann in ihrem Leben schon einmal selbst verletzt. Die Zahlen liegen bei Frauen höher als bei Männern – und bei jungen Erwachsenen erheblich höher als bei älteren. Die Langzeittrends in Bezug auf Angst und psychische Krankheiten weisen in eine Richtung: nach oben.

Für eine Gesellschaft, die glaubt, man müsse nur genug verdienen und konsumieren, um glücklich und zufrieden zu sein, sind diese Zahlen irritierend. Denn offenbar ist genau das Gegenteil der Fall: Studien über Menschen, die ganz in unserer Konsumkultur aufgehen, haben gezeigt, dass gerade sie am unglücklichsten und unsichersten sind und häufig unter psychischen Problemen leiden.

Um das erklären zu können, spielen die psychologischen Folgen von Ungleichheit eine wichtige Rolle. Je größer die materiellen Unterschiede zwischen den Mitgliedern einer Gesellschaft sind, desto wichtiger werden Status und Geld und gelten zunehmend als Maßstab für den inneren Wert eines Menschen. Das führt dazu, dass die Leute umso größere Angst um ihren Status haben und sich umso mehr darum sorgen, wie sie von anderen gesehen und beurteilt werden, je ungleicher eine Gesellschaft ist. Diese Effekte können quer über alle Einkommensgruppen beobachtet werden – von den ärmsten bis zu den reichsten zehn Prozent der Bevölkerung.

Ungleichheit erhöht unsere Unsicherheit bezüglich unseres Selbstwertgefühls, weil sie den Status betont und die Vorstellung stärkt, manche Menschen seien wesentlich mehr wert als andere. Diejenigen, die ganz oben stehen, scheinen enorm wichtig zu sein, fast schon überlegene Wesen, während anderen das Gefühl vermittelt wird, sie seien nichts oder nur wenig wert. Eine Studie darüber, wie Menschen in unterschiedlichen Ländern geringen gesellschaftlichen Status erfahren, kam wenig überraschend zu dem Ergebnis, dass sie sich als Versager empfinden. Sie schämen sich und verachten sich für ihr „Versagen“. Ob sie in Ländern leben, die so reich sind wie Großbritannien oder Norwegen oder so arm wie Uganda and Pakistan, macht dabei nur einen äußerst geringen Unterschied hinsichtlich der Frage, wie es sich für anfühlt, auf der sozialen Leiter ganz unten zu stehen.

Studien haben gezeigt, dass auffälliger Konsum durch Ungleichheit intensiviert wird. Wer in einer Gegend lebt, die durch größere Ungleichheit geprägt ist, der wird sein Geld mit größerer Wahrscheinlichkeit für ein protziges Auto ausgeben und versuchen, seinen Status durch Konsum zu unterstreichen. Wie stark sich Ungleichheit auf den Konsum auswirkt, kann in der Tendenz beobachtet werden, dass sie das Niveau der persönlichen Schulden in die Höhe treibt, weil die Menschen versuchen, sich größeres Ansehen zu erkaufen.

Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben

Doch Ungleichheit erhöht nicht nur die Statusangst. Für viele wäre es näher an der Wahrheit, zu sagen, dass sie einen Angriff auf ihr Selbstwertgefühl darstellt. Sie vergrößert, was Psychologen den „sozialen Evaluationsdruck“ nennen. Dieser führt dazu, dass soziale Kontakte zunehmend Stress auslösen. Das führt bei manchen zu einem geringen Selbstwertgefühl und einem Verlust des Selbstvertrauens. Gesellige Treffen werden für sie zu einer Tortur, der sie so gut wie möglich aus dem Weg gehen. Dieser Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben führt wiederum häufig dazu, dass Betroffene stärker unter Angstzuständen und Depressionen leiden.

Andere hingegen reagieren völlig anders auf die Bedrohung ihres Egos durch soziale Vergleiche und versuchen, den Eindruck zu verstärken, den sie auf andere machen, indem sie mit persönlichen Leistungen oder Fähigkeiten protzen. Ein zunehmender Narzissmus gehört zu einem immer mehr an Bedeutung gewinnenden Impression-Management – der bewussten oder unbewussten Steuerung des Eindrucks auf andere. Eine Studie über „Selbstüberschätzung“ fragte Menschen in unterschiedlichen Ländern danach, wie sie sich im Verhältnis zu anderen einschätzen. Abgesehen von dem vielsagenden Ergebnis, dass 90 Prozent von sich glauben, sie könnten besser Autofahren als der Durchschnitt, haben sich in Ländern mit einer größeren Ungleichheit mehr Menschen über dem Durchschnitt eingruppiert und hielten sich ebenfalls für schlauer und attraktiver als die meisten anderen.

Doch damit nicht genug. Psychologische Untersuchungen haben gezeigt, dass etliche psychische Erkrankungen und Persönlichkeitsstörungen mit Problemen von Dominanz und Unterordnung zusammenhängen, die durch Ungleichheit verstärkt werden. Einige – wie Depressionen – hängen mit der Akzeptanz der eigenen Minderwertigkeit zusammen. Andere haben mit dem permanenten Versuch zu tun, sich dagegen zu wehren, dass andere auf einen herabsehen und einem den Respekt verweigern. Wiederum andere werden von dem Gefühl ihrer eigenen Überlegenheit getragen oder kämpfen ständig darum, sich und anderen diese zu beweisen. Ein Vergleich der Daten aus verschiedenen Ländern bestätigt dieses Bild, indem er zeigt, dass psychische Erkrankungen wie Depressionen, Schizophrenie und Psychosen in ungleicheren Gesellschaften insgesamt häufiger vorkommen.

Ungleichheit steigert die Angst vor den Mitmenschen

Es hat sich wiederholt gezeigt, dass gute soziale Beziehungen und öffentliches Engagement Gesundheit und Glück stark positiv beeinflussen können. Doch auch hier wirkt sich große Ungleichheit negativ aus. Indem sie Klassen- und Statusunterschiede noch wirkungsmächtiger macht, führt sie zum Niedergang des öffentlichen und nachbarschaftlichen Miteinanders, verringert die soziale Mobilität, verstärkt die soziale Segregation der Wohnviertel und sorgt dafür, dass seltener Menschen über Klassen hinweg heiraten.

Gesellschaften, in denen die Ungleichheit nicht so stark ausgeprägt ist, zeichnen sich dadurch aus, dass sich die Menschen häufiger gesellschaftlich engagieren, sich gegenseitig stärker vertrauen, eher bereit sind, anderen zu helfen und seltener gewalttätig werden. Während die Ungleichheit wächst, entwickeln sich all diese Parameter in die entgegengesetzte Richtung. Das öffentliche Leben verkümmert, die Menschen vertrauen einander nicht mehr, Tötungsdelikte nehmen zu. In den Gesellschaften mit der größten Ungleichheit wie Mexiko oder Südafrika reicht der Schaden sogar noch weiter: Die Menschen haben regelrecht Angst voreinander, verbarrikadieren ihre Häuser mit Schlössern an Fenstern und Türen, Stacheldraht auf Mauern und Zäunen.

Wenn die Ungleichheit zunimmt, ist daher auch eine größere Anzahl der arbeitsfähigen Bevölkerung auf die ein oder andere Art und Weise mit Schutz- und Wacharbeiten beschäftigt – als Sicherheitspersonal, Gefängniswärter, Bürgerwehren, Polizei. Die Ungleichheit zu verstehen bedeutet zu verstehen, dass sie zu mehr Schießereien an Schulen führt, zu mehr Mobbing, Angst, psychischen Störungen und Konsumismus – denn sie bedroht das Selbstwertgefühl.

Richard Wilkinson und Kate Pickett haben The Inner Level: How More Equal Societies Reduce Stress, Restore Sanity and Improve Everyone’s Wellbeing geschrieben

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Kate Pickett, Richard Wilkinson | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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