David Eagleman: Unser Gehirn ist uns fremd, und doch hängen an seiner Integrität all unsere Hoffnungen, Ängste, Sehnsüchte – Persönlichkeiten. Woher wir das wissen? Weil wir uns ändern, wenn das Gehirn sich ändert. Unser Wesen, unsere Entscheidungen, die Fähigkeit, Tiere zu benennen – all das wandelt sich, wenn unser Hirn durch Tumore, Schlaganfälle, Drogen Schaden erleidet. So gerne wir uns den Körper und den Geist als unabhängig voneinander vorstellen: Das Mentale ist nicht vom Physischen trennbar, und das verschafft uns Klarheit über einige Seiten unserer Existenz. Nehmen wir die vielfältigen unbewussten Vorgänge, die ablaufen, wenn wir von „bewusster Wahrnehmung“ sprechen. Heute ist klar, dass der größte Teil der Hirnaktivität auf dem unbewussten Level stattfindet. Der bewusste Teil – das „Ich“ – ist nur ein winziger Teil des operativen Ganzen. Ein Mensch ergibt sich daher aus vielen Teilen, die miteinander wetteifern. Mit dem Ergebnis, dass wir differenziert, kompliziert, widersprüchlich sind. Wenn wir uns besser verstehen wollen, müssen wir das neuronale Substrat, aus dem unser Wesen aufgebaut ist, sorgfältig untersuchen.
Raymond Tallis: Sicher, nimm das Hirn raus und weg ist der IQ. Daraus folgt aber weder, dass das Gehirn die ganze Geschichte des Menschseins ist, noch, dass wir auf unser „neuronales Substrat“ starren müssen, wenn wir uns verstehen wollen. Wir sind keine autonomen Hirne. Wir sind Teil eines Gemeinschaftsverstandes, einer menschlichen Welt, die in vielerlei Hinsicht jenseits dessen existiert, was man in einem einzelnen Gehirn beobachten kann. Und selbst wenn sich diese Gemeinschaft aus Hirnen entwickelt hat, ist sie das Werk von Billionen von Gehirnen – über Hunderte, Tausende von Jahren: Das individuelle Gehirn von heute ist nur die Eintrittskarte zum Drama sozialen Miteinanders. Es ist nicht das Drama selbst. Und wenn man das Drama verstehen will, indem man neuronales Gewebe ab- bildet, ist das, als wolle man das Rauschen im Wald verstehen, indem man sein Stethoskop an eine Haselnuss hält.
Natürlich ist Hirnaktivität automatisiert, aber das heißt nicht, dass wir Automaten sind oder uns der Gründe für unser Tun nicht bewusst. Wenn „das bewusste Ich ein Nebendarsteller im Gehirn“ ist, wie Sie schreiben, und unsere wichtigsten Entscheidungen – wen wir heiraten, wo wir leben, was wir arbeiten – von unbewussten Mechanismen gesteuert sind: Wie konnten Sie sich dieser Unbewusstheit bewusst werden, um darüber ein Buch zu schreiben (das übrigens nicht den Eindruck erweckt, als habe es ein Automat geschrieben)?
Eagleman: Der Nutzen der Neurowissenschaft hängt von den Fragestellungen ab. Für Fragen zur Ökonomie oder Religion muss man untersuchen, was zwischen den Geistern stattfindet, nicht in einem einzelnen Gehirn. Trotzdem hinterlässt Kultur eine Signatur in den Schaltkreisen jedes einzelnen Gehirns. Und wenn sie eine Haselnuss untersuchen, können Sie von ihr vermutlich sehr viel über ihre Umgebung lernen – über die Luft, die Mikroben, die Lichtverhältnisse dieses Waldes. Auf analoge Weise spiegelt ein Gehirn seine Kultur. Unsere Ansichten über Normalität, Sitte, Kleidung und Aberglauben, werden aus dem sozialen Wald vom Gehirn absorbiert. Zu einem erstaunlichen Maße kann man Kultur entdecken, wenn man ein Gehirn untersucht. Unsere Einstellung gegenüber Kühen, Kreuzen und Burkas lässt sich an den physiologischen Reaktionen der Nervenzellen ablesen.
Die Erfahrung, ein Mensch zu sein – von Gedanken über Handlungen und Krankheiten bis hin zu Sinneswahrnehmungen – kann an einzelnen Gehirnen mit Gewinn untersucht werden: Wir können verstehen lernen, wie wir die Welt sehen, warum wir mit uns hadern, warum wir uns Dinge einbilden, wie unterbewusste Informationen unsere Auffassungen beeinflussen.
Wie wurde mir die Unbewusstheit bewusst? Es war eine unwahrscheinliche Sache, die Jahrtausende wissenschaftlicher Beobachtung durch meine Vorfahren bedurfte. Ein Verständnis von den Grenzen unseres Bewusstseins ist schwer zu erreichen, wenn man nur seiner Intuiton folgt. Es wird erst durch Studien offenbar.
Tallis: Manches, was Sie jetzt sagen, klingt fast vernünftig. Aber sie zitieren da ja überraschende Studien, die zeigen sollen, wie viele Entscheidungen von einem impliziten Egoismus getroffen werden, der dem Gehirn innewohnt, zum Beispiel, dass man, wenn der eigene Name mit D beginnt, eher jemanden mit D heiratet, in einer Stadt mit D wohnt und einen Beruf mit D ergreift. Ich denke, dass diese Statistiken fragwürdig sind – aber sie illustrieren die Position, von der Sie jetzt Abstand nehmen.
Erst wenn wir verstanden haben, dass das, was wir Kultur nennen, mindestens genauso wichtig ist wie die Biologie des einzelnen Gehirns, wird die Hirnforschung unsere Sozialpolitik weniger formen. Eine Burka oder ein Kreuz sind keine Stimuli, die automatisierte Reaktionen hervorrufen. Denken Sie einmal an den sehr bewusst geführten Streit um die Gesetze zum Tragen dieser Symbole. Aber Sie möchten die Hirnforschung privilegieren. Die Personifizierung des Gehirns, wenn sie zum Beispiel sagen: „Das Gehirn interessiert sich für soziale Interaktion“, assistiert ihnen dabei.
Aber wir sind noch nicht fertig mit den Widersprüchlichkeiten. Lassen Sie uns über Umwelt und Illusion sprechen.
Eagleman: Wir sollten uns darauf einigen, dass es kein Widerspruch ist, wenn das Unbewusstsein lenkt und zugleich gesellschaftlichen Einflüssen unterliegt. Natürlich ist Kultur wichtig, und die Neurobiologie sollte der Sozialforschung nie das Feld streitig machen. Aber es ist ein bisschen, als ob Sie einem Autor, der über Planeten geschrieben hat, erklären, dass er besser über Galaxien geschrieben hätte. Ich möchte die individuellen Erfahrungen von Menschen verstehen, wo Ideen herkommen, warum wir unseren Arm bewegen können, ohne die Muskulatur zu spüren, warum wir das Gesicht eines Freundes müheloser erkennen als das beste Computerprogramm und warum es so schwer ist, ein Geheimnis für sich zu behalten. Illusionen und die Umwelt sind ein gutes Beispiel dafür: Illusionen zeigen, dass die Wahrnehmungen, die unser Gehirn generiert, nicht zwangsläufig mit der Realität korrelieren. Wir wissen so wenig über die Realität „da draußen“, weil wir nur einen schmalen Streifen erfassen. Dieser Streifen heißt Umwelt, und vermutlich nimmt jedes Lebewesen an, seine Umwelt sei die objektivierbare Realität. Es ist nicht ersichtlich, dass Information auch auf Kanälen gesendet wird, die wir von Natur aus nicht wahrnehmen, wie zum Beispiel UV-Licht. Tatsächlich erfassen unsere Sinne nur ein Zehnbillionstel des elektromagnetischen Spektrums. Unser Sensorium ist gut für unsere Nische, aber nicht mehr.
Tallis: Sie sind nicht so imperialistisch in Sachen Hirnforschung wie viele ihrer Zeitgenossen, aber sie glauben, dass die Studie der Haselnuss (unseres Gehirns) uns weit mehr Aufschluss über unseren sozialen „Wald“ gibt, als tatsächlich möglich ist. Ja, es gibt Illusionen, Träume, Täuschungen und Halluzinationen. Aber wir können sie nur als solche erkennen, weil die meisten unserer Erfahrungen eben gar keine Illusionen, Träume und Täuschungensind . Auch dass wir vom größten Teil der Realität abgeschnitten sein sollen, finde ich widersprüchlich: Weil unsere Aufmerksamkeit durch das entwickelte Gehirn vermittelt wird, ist unser mentales Leben auf ein bestimmtes Territorium gerichtet, sagen Sie. Deshalb sind wir auf eine „Umwelt“ beschränkt, einen winzigen Teil der Realität. Falls das stimmt, woher wissen wir, dass es so ist? Wir hätten von unserer Beschränkung doch genau so wenig Schimmer, wie es bei Tieren der Fall ist.
Eagleman: Es ist kein Widerspruch, wenn man erkennt, dass wir vom größten Teil der Realität abgeschnitten sind und dass wir mehr davon entdecken können. Wir können Radiowellen nicht hören, sehen, oder anfassen, aber wir können Apparate bauen, um sie in unsere Sprache zu übersetzen. Wir können das, weil Wissenschaft immer hinter das zu greifen versucht, was wir schon wissen. Die Neurowissenschaft blickt hinter die Grenzen unserer Wahrnehmung, aber das macht uns nicht hilfloser als zuvor. Die Details unserer Biologie zu verstehen heißt nicht, weniger Ehrfurcht zu haben, im Gegenteil. Wie Blumen sind Gehirne viel schöner, wenn man einen Blick auf ihre exotischen, vielfältigen, komplexen Mechanismen werfen kann.
David Eagleman ist Neurowissenschaftler am Baylor College of Medicine in Houston, Texas. Er leitet dort das Laboratory of Perception and Action. Eagleman hat mehrere Bücher über das Gehirn geschrieben, zuletzt Incognito: The Secret Lives of the Unconscious Brain (Pantheon 2011)
Raymond Tallis ist Arzt und emeritierter Professor der University of Manchester. Er ist Autor mehrerer kulturkritischer und philosophischer Werke. 2004 erschien Why the Mind is not a Computer (Imprint Academic) Übersetzung: Kathrin Zinkant
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.