Die Heldentaten des Nicholas Winton: „One Life“ mit Anthony Hopkins
Biopic Mein Vater war eines der knapp 700 Kinder, die Nicholas Winton nach 1938 vor den Nazis rettete. Der Film „One Life“ ist hochkarätig besetzt und sehr bewegend, dennoch wird er der Geschichte nicht gerecht
Anthony Hopkins (li.) ist Nicolaus Winton als alter Mann, Johnny Flynn (re.) als junger
Fotos: Square One Entertainment, Landmark Media/Imago Images (rechts)
Als Nicholas Winton 2015 im Alter von 106 Jahren starb, galt er in Großbritannien als eine Art weltlicher Heiliger. Die Grundzüge seiner Geschichte sind schon oft erzählt worden: Zum Jahresende 1938, als man sich in Prag auf die unmittelbar bevorstehende Invasion durch die Deutschen vorbereitete, lud ein tschechischer Freund den Briten Nicholas Winton (selbst Nachkomme von bereits 1907 nach Großbritannien ausgewanderten deutschen Juden, Anm. d. Red.) dazu ein, sich vor Ort ein Bild der sich anbahnenden humanitären Krise zu machen. Winton begann daraufhin, eine Reihe von Kindertransporten zu organisieren, mit denen in acht Fahrten schließlich insgesamt 669 tschechisch-jüdische Kinder nach Großbritannien in Sicherheit gebracht werden konnten.
Fast ein h
n.Fast ein halbes Jahrhundert lang sprach Winton selbst so gut wie nie über diese Rettungsaktion. Dennoch wurde er 1988 in Esther Rantzens TV-Sendung That‘s Life! „geoutet“. In einem heute berühmten Moment der Fernsehgeschichte stellte er, der bis dahin nichtsahnend als einer von vielen unter den Zuschauern im Studio gesessen hatte, zu seiner Verblüffung fest, dass er von lauter Menschen umgeben war, die ihm alle ihr Leben verdankten.Da mein Vater eines von Wintons „Kindern“ war, gäbe es ohne ihn auch mich nicht. Und auch nicht meine beiden Brüder und unsere fünf Kinder und drei Enkel. Meine Hoffnungen und Erwartungen in das neue Biopic von James Hawes mit dem Titel One Life waren dementsprechend groß. Hocherfreut und gespannt nahm ich die Einladung zur Premiere an. Umso mehr bedauere ich, dass das Ergebnis ein so weichgespültes ist.Ein großer Teil des Problems besteht meiner Ansicht nach darin, dass der Film auf den eher schwachen Memoiren von Wintons Tochter Barbara, If It‘s Not Impossible...: The Life of Sir Nicholas Winton, von 2014 basiert, die bis zu ihrem eigenen Tod im September 2022 mit knapp 69 Jahren auch als ausführende Produzentin von One Life fungierte.Die Rettung an sich rekonstruiert der Film dabei auf sehr bewegende Art und Weise. Gleichzeitig räumt er verdienstvoll mit ein paar gängigen Mythen auf. Im Gegensatz nämlich zur schmeichlerischen Illusion, dass die Kindertransporte ein leuchtendes Beispiel für britischen Anstand in Sachen Aufnahme verfolgter Flüchtlinge darstellten, erfährt man, wie schwer es für Winton war, die Einwanderungsbehörden zu einer raschen Erteilung von Visa zu bewegen und Pflegefamilien und Sponsoren zu finden, die bereit waren, für jedes Kind 50 Pfund zu zahlen, um sicherzustellen, dass durch die Rettung dieser Kinder auch ja keine öffentlichen Kassen belastet wurden. Genauso deutlich wird auch, dass Winton keine Ein-Mann-Band war, sondern ganz wesentlich von Leuten wie Doreen Warriner und Trevor Chadwick unterstützt wurde, die den tschechischen Teil der Operation leiteten und währenddessen weitaus größeren physischen Gefahren ausgesetzt waren.Diese fesselnden Szenen von den Ereignissen der Jahre 1938 und 1939 wechseln sich jedoch ab mit solchen, die den mürrischen, alternden Winton (brillant gespielt von Anthony Hopkins) zeigen, wie er sich über die anschwellenden Berge von Papierkram aufregt und sich darüber Sorgen macht, was er mit seinem Album mit gesammelten Fotos von den Kindertransporten anstellen soll. Auf dieses bemerkenswerte Dokument wird schließlich Elisabeth Maxwell, die Frau des Zeitungsmagnaten Robert Maxwell, aufmerksam, die zuerst für einen Artikel im Sunday Mirror sorgt und dann Wintons Auftritt in That‘s Life! bewerkstelligt. Sein Moment im Rampenlicht des Showbusiness bildet dann auch den Höhepunkt des Films.Mein Vater Karel Reisz, der selbst ein bekannter Filmregisseur war, hat sich seinerzeit geweigert, an der Show teilzunehmen, weil er befürchtete, dass sie schnulzig und manipulativ werden könnte – und musste sich dafür von seinen Produzenten, die ihn umstimmen wollten, einiges an emotionaler Erpressung gefallen lassen. Nachdem ich nun gesehen habe, wie die Show auf der Leinwand rekonstruiert wird, kann ich seinen Standpunkt jedoch nachvollziehen.Was der neue Film dagegen nicht zeigt, ist, dass Elisabeth Maxwell 1988 auch eine Holocaust-Konferenz mit dem Titel Remembering for the Future (Erinnern für die Zukunft) organisierte. Dazu gehörte auch eine halbprivate Veranstaltung, bei der Winton die Gelegenheit hatte, die durch die Transporte geretteten Kinder samt Angehörigen auf einer viel informelleren Basis zu treffen. Es war ein außerordentlich denkwürdiges Ereignis und tatsächlich ein Wendepunkt in meiner eigenen, eher schwierigen Beziehung zu meinem Vater, der im Anschluss zum ersten Mal über seine schmerzhafte Vergangenheit zu sprechen begann.Erfolgreiche LebenDie ehemaligen Flüchtlingskinder waren froh darüber, Winton persönlich danken zu können und ihm gegenüber die Freude über ihr Leben und auch ihren Stolz auf das, was sie persönlich und beruflich erreicht hatten, zum Ausdruck zu bringen. Doch viele waren auch sichtlich noch immer traumatisiert. Vor meinen Augen verwandelten sich gestandene, erfolgreiche Berufstätige mittleren Alters in verängstigte Kinder. Andere erinnerten sich an ergreifende Momente auf ihren Zugfahrten quer durch Europa, wie zum Beispiel an die Tasse heißer Schokolade, mit der man sie begrüßte, nachdem sie die niederländische Grenze in sicheres Gebiet überquert hatten. Die aufrichtige Freude dieses Wiedersehens wurde durch das starke Gefühl geschmälert für das, was die Geretteten verloren hatten, als sie ihre Familien in der Tschechoslowakei zurückließen. Das Treffen war, mit anderen Worten, ein Ereignis, das die tatsächliche emotionale Komplexität des Kindertransports einfing, und nicht die Art von kitschigem Feelgood, wie ihn That‘s Life! und jetzt das Biopic One Life rekonstruieren. Überhaupt mutet es seltsam an, dass sich ein Film zu diesem Thema so ausschließlich auf Winton als Person konzentriert und sich so wenig für das spätere Leben der geretteten Kinder interessiert.So wird am Ende auch versäumt, das zu erfassen, was an Winton tatsächlich so inspirierend war. Er scheint ein seltenes Beispiel für ein englisches Stereotyp gewesen zu sein, das man heute nur noch aus dem britischen Nachkriegskino kennt: nüchtern, pragmatisch und emotional zurückhaltend, aber von Grund auf anständig. Unter enormem Zeit- und Ressourcendruck konzentrierte er sich voll und ganz darauf, so viele Kinder wie möglich zu retten, selbst wenn damit einherging, dass man einige Regeln brechen oder umgehen musste. Gleichzeitig war er auffallend unsentimental und behandelte die ganze Operation fast wie einen reinen Geschäftsvorgang. Einem Interviewer erzählte er einmal: „Ich war nur daran interessiert, die Kinder nach England zu bringen; was danach mit ihnen geschah, kümmerte mich nicht, denn das Schlimmste, was ihnen in England passieren könnte, war immer noch besser, als verbrannt zu werden.“Winton war, mit anderen Worten, der wohl am wenigsten fürs Showbusiness geeignete Mensch, den man sich vorstellen kann: völlig uninteressiert an oberflächlicher Selbstdarstellung und dem Demonstrieren von Tugendhaftigkeit. Am Premierenabend von One Life forderten die Organisatoren, genau wie damals in der Fernsehshow bei That‘s Life!, jene Zuschauer zum Aufstehen auf, die ihre Existenz Nicholas Winton verdankten. Und, ja, es war schwer, nicht gerührt zu sein. Aber der Moment offenbarte auch die Unangemessenheit, die darin liegt, dass hier ein Wohlfühlfilm über jemanden gemacht wurde, dessen Leben uns nicht nur mit Wärme erfüllen, sondern zum Nachdenken darüber anregen sollte, wie wir selbst aktiv etwas verändern könnten.Placeholder infobox-1Placeholder authorbio-1Eingebetteter Medieninhalt
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