Die Kinderschutz-Gesellschaft

Großbritannien Die Angst um das Wohl von Minderjährigen führt auf der britischen Insel zu skurrilen Gesetzen, Verboten und Auflagen, etwa einer Pädophilie-Prüfung

Eine Frau steht vor den Toren eines Abenteuerspielplatzes in Watford. Es ist kalt und dunkel und sie hält die Schultaschen ihrer beiden Kinder in der Hand. Der Abenteuerspielplatz ist einer von zwei Spielplätzen in der Stadt, die kürzlich eine neue Regel eingeführt haben: Eltern müssen draußen warten, wenn sie ihre Kinder abholen. „Es ist eine Schande“, sagt die Frau, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will. „Ich verstehe immer noch nicht, weshalb sie das getan haben. Jetzt kann ich meinen Kindern nicht mehr beim Spielen zusehen, ich weiß nicht, mit wem sie spielen oder ob sie vielleicht drangsaliert werden.“

Die Reaktion der britischen Medien fiel weniger beherrscht aus: „Eltern werden von Spielplätzen verbannt ... für den Fall, dass sie Perverse sind“, tönte der Express. „Beweisen Sie, dass Sie kein Pädo sind, oder Sie können ihre Kinder auf dem Spielplatz nicht mehr beaufsichtigen“, kreischte die Sun.

Gesundheit und Sicherheit sind eigentlich die Lieblingsthemen der Kolumnisten vom rechten Rand, vorzugsweise in Verbindung mit Formulierungen wie „außer Rand und Band“. Kaum eine Woche vergeht, ohne dass Richard Littlejohn in der Daily Mail darüber schäumt. Er schäumt so sehr, dass die Leser ihm ihre eigenen Erfahrungen mitteilen, damit er sich dann noch mehr empören kann. Doch Anfang Dezember appellierte David Cameron, der Vorsitzende der Konservativen Partei, mit einer Rede gegen die „übertriebenen“ Gesundheits- und Sicherheits-Vorstöße der Labour-Partei und an die Wut auf die Auswüchse des überfürsorglichen Staates. Sie würden zu „einer lähmenden Stimmung der Bürokratie, der Verdächtigung und der Angst führen“, so Cameron. Er kündigte an, dass die Tories gegen die Gesetze in Revision gehen werden.

Zurück in Watford erklärt Bürgermeisterin Dorothy Thornhill, die für das Abenteuerspielplatzgesetz zuständig ist, sie habe Verständnis für die Aufregung einiger Eltern, jedoch habe die Presse die Geschichte falsch wiedergegeben. „In der Presse entstand der Eindruck, wir würden die Eltern von den traditionellen Spielplätzen verbannen. Es wundert mich nicht, dass die Öffentlichkeit dachte, dass das Gesetz unsinnig ist.“

Tatsächlich jedoch, so Thornhill, würden diese Spielplätze und Freizeitzentren von ausgebildeten Fachkräften beaufsichtigt. „Wir haben es mit 400 Eltern zu tun, die ihre Kinder dort sehr gerne alleine lassen und mit ein paar wenigen, die dableiben wollen. Diese Eltern wurden von den Erziehern als störend empfunden. Die Angestellten haben die Aufgabe sich auf die Kinder zu konzentrieren, und nicht darauf, was die Eltern mit ihrem eigenen Kind oder mit anderen Kindern tun. Die Einrichtung ist dafür gedacht, dass Kinder dort abgeliefert werden. Wenn die Eltern mitkommen, wird sie ein ganz anderer Ort.“ Trotzdem werde sich der Stadtrat noch einmal mit dem Thema befassen, um herauszufinden, was die Eltern wirklich wollen: Kinderbetreuung oder einen Ort, den sie mit ihren Kinder besuchen können.

Drachenverbot

und Pädophilenangst

In den vergangenen Monaten hörte man unzählige Geschichten über neue Gesetze und Richtlinien, die das Leben unserer Kinder einschränken. Da war der Fall der beiden Polizistinnen Leanne Shepherd and Lucy Jarrett, denen verboten wurde, gegenseitig auf ihre Kinder aufzupassen. Da sie sich keiner Überprüfung durch die Regierungsorganisation Ofsted (Office for Standards in Education) unterzogen, galten sie als „illegale Tagesmütter“. In einer Grundschule in Macclesfield mussten die Kinder Schutzbrillen tragen, wenn sie Conkers spielten [ein Spiel mit Rosskastanien, bei dem man die Kastanien des Gegners mit der eigenen Kastanie abschießen muss, Anm. der Übers.]. Die Rektorin der Schule, Polly Broadhurst, fühlte sich durch die Kritik so verletzt, dass sie sich weigerte, mit mir zu sprechen. Sie erklärte nur, dass die Geschichte aufgeblasen worden sei und dass es ihr allein um die Sicherheit ihrer Schüler ging.

In der kleinen Gemeinde Maiden Bradley in Wiltshire wurde es verboten, Drachen steigen zu lassen, nachdem Kontrolleure der Royal Society for the Prevention of Accidents (Rospa) zu Besuch waren. Sie stellten fest, dass sich die Schnüre der Drachen in den Oberleitungen im Park verheddern könnten und dass sich Kinder verletzten könnten, falls sie auf die Masten stiegen um ihre Drachen zu befreien. Die Schaukeln auf dem Spielplatz durften stehen bleiben, allerdings nur unter der Bedingung, dass sie ein Gemeinderat einmal in der Woche inspiziert.

Anfang letzten Jahres wurde über eine Schule in Biggleswade in Bedforshire berichtet, die den Eltern verbot am Sportfest der Schule teilzunehmen, für den Fall, dass unter ihnen auch Pädophile seien. Paul Blunt, einer der Zuständigen des East Bedfordshire Schools Sports Partnership, wurde wie folgt zitiert: „Alle Eltern, die nicht überwacht werden können, müssen von den Kindern ferngehalten werden. Eine fragwürdige Gestalt könnte sich unter sie mischen und wir können die Kinder, die an dem Fest beteiligt sind und die Schüler der gastgebenden Schule einem solchen Risiko nicht aussetzen.“

Auch Blunt erzählt mir, dass die Geschichte falsch wiedergegeben worden sei und dass er alles gerne richtig stellen würde, allerdings erst nach Absprache mir dem Gemeinderat von East Bedfordshire. Der Gemeinderat wiederum erklärt, man „würde Eltern und Zuschauer willkommen heißen. In diesem speziellen Fall wären jedoch die Räumlichkeiten und das Personal nicht ausreichend gewesen, so dass der Ansturm der Besucher den Schulalltag empfindlich gestört hätte.“

Neue Gesundheits- und Sicherheitsregeln

In der Zwischenzeit hat eine Umfrage, die im Sommer von dem digitalen Fernsehsender Teachers TV unter 490 Lehrern durchgeführt wurde, weitere Fälle von extremen Gesundheits- und Sicherheitsregeln zutage gefördert: Eine fünfseitig Anleitung zum Gebrauch von Klebestiften, Kinder, die gezwungen werden Schutzbrillen zu tragen, wenn sie die blaue Klebemasse Blue Tack benutzen, ein Verbot, auf dem Spielplatz zu „rennen“. Andere berichteten, dass Dreibein-Rennen bei Schulfesten als zu gefährlich verboten wurden und von Sportunterrichtsstunden, die abgesagt wurden, weil das Gras nass war.

Wo kommen all diese Regeln und Gesetze her? Judith Hackitt, die Vorsitzende der Gesundheits- und Sicherheitsbehörde (HSE), seufzt, als ich den Fall mit dem Rosskastanien-Spiel erwähne. „Wir lesen in den Zeitungen sehr oft „die Gesundheits- und Sicherheitsbehörde ist völlig verrückt“, wenn es darum geht, dass es kein Gesetz gibt, dass Conkers verbietet oder vorschreibt, dass Kinder Schutzbrillen tragen, wenn sie Blue Tack benutzen“, sagt sie. „Ich glaube, dass wir oft fälschlicherweise für solche Geschichten verantwortlich gemacht werden. Tatsache ist, dass man sich gerne hinter uns versteckt.“

Aufgabe der HSE sei es, so Hackitt, sicherzustellen, dass Arbeitgeber ihre Angestellten bei der Arbeit schützen. Es sei nicht ihre Aufgabe, dafür zu garantieren, dass jeder Aspekt unseres Lebens frei von Risiken ist. (Auf der Homepage des HSE gibt es die Rubrik „Mythbuster“. Der Mythos des Monats Dezember ist, dass die Darsteller bei Weihnachtsspielen angeblich laut einer HSE-Regelung keine Süßigkeiten ins Publikum werfen dürfen).

Die Versicherungsbranche

Wenn einzelne Schulen, Gemeinden oder Laienschauspielgruppen ihre eigenen Gesundheits- und Sicherheitsregeln aufstellen, dann sei das Resultat oft eine „Überinterpretation der bestehenden Gesetze“, erläutert Hackitt. Die Labourregierung hat seit 1997, wie Cameron in seiner Rede richtig sagte, tatsächlich eine große Anzahl neuer Gesetze eingebracht, aber diese betreffen die Kontrolle von Asbest und Blei, Gesetze, die Lautstärke-Regelungen am Arbeitsplatz betreffen und den Im- und Export gefährlicher Chemikalien.

„Keine trivialen Angelegenheiten“, wie ein Sprecher der „Institution of Occupational Health and Safety“, einer Berufsvereinigung, die sich für die Durchsetzung der Gesundheits- und Sicherheitsverordnungen am Arbeitsplatz einsetzt, sagt: „Wir werden extrem unfair behandelt, insbesondere vom eher reaktionären Teil der Presse.“ Hysterische Berichte in den Medien hätten dazu beigetragen, dass eine Kultur der Beschuldigung und der Schadensersatzforderungen gewachsen sei: „Die Versicherungsfirmen erhöhen die Prämien und jeder, der nicht dazu in der Lage ist oder einfach keine Lust hat eine Veranstaltung ordnungsgemäß durchzuführen, schiebt das dann auf die Gesundheits- und Sicherheitsbehörde.“

Der Kinder-Führerschein

Dieses Jahr werden sich etwa neun Millionen Menschen bei der Independent Safeguarding Authority (ISA) melden müssen um zu erfahren, ob sie für Kinder kein Sicherheitsrisiko darstellen. Die ISA wurde im Zuge des Safeguarding Vulnerable Groups Act im Jahr 2006 eingesetzt, der nach der Untersuchung der Morde an zwei Mädchen in Soham verabschiedet wurde. Der Mörder, Ian Huntley, war der Polizei und den Sozialbehörden in Humberside bekannt, er war bereits mehrerer Sexualdelikte beschuldigt worden. Doch diese Informationen drangen nicht durch, als Huntley als Hausmeister in einer Schule eingestellt wurde.

Die ISA hat bereits Menschen untersucht, die von ihrem Arbeitgeber geschickt wurden, weil sie ein verdächtiges Verhalten an den Tag legten und sie hat einige von ihnen bereits auf ihre Ausschlussliste gesetzt. Doch ab Juli nächsten Jahres muss jeder, der einmal in der Woche oder öfters Kontakt zu Kindern (oder schutzbedürftigen Erwachsenen) hat, von der ISA von jedem Verdacht frei gesprochen werden. Das gilt auch für jeden, der freiwillig mit Kindergruppen arbeitet und für Eltern, die anderer Leute Kinder im Auto von Fußballspielen nach Hause fahren. Die ISA überprüft Vorstrafen aber wird auch die „Beweise“ von Arbeitgebern und anderen Personen des öffentlichen Lebens in Betracht ziehen. Sieben Schulrektoren-Vereinigungen haben dem Staatssekretär für Kinder, Schulen und Familien Ed Ball geschrieben, dass sie in Sorge sind, dass die „unangemessene“ Bürokratie dem Schulalltag „die Luft abschnüren wird.“

Der Soziologe und Autor des Buchs „Die Elternparanoia. Warum Kinder mutige Eltern brauchen" target="_blank">Die Elternparanoia“, Frank Furedi, bezeichnet diese schleichenden Maßnahmen als „Kinderschutzindustrie“. Im harmlosesten Fall bedeutet sie, dass Sandkästen aus den Parks verschwinden, weil sie Gesundheitsrisiken bergen könnten. Im schlimmsten Fall verdächtigt sie jeden Erwachsenen der Pädophilie. Ein Bericht, der 2006 von einer Gruppe namens Manifesto Club veröffentlicht wurde, die sich gegen „Hyperregulierungen“ durch den Staat wendet, legte offen, dass Freiwillige bei einer Weihnachtsfeier für Kinder in Bristol farbige T-Shirts tragen mussten, die einem bestimmten Code folgten. Diejenigen, die durch das Criminal Records Bureau überprüft worden waren, trugen braune T-Shirts, diejenigen, die nicht überprüft worden waren, trugen weiß. Die Freiwilligen durften zu keinem Zeitpunkt mit einem Kind alleine sein und es auf keinen Fall zur Toilette begleiten. An den Toilettentüren waren Wächter platziert, die dafür Sorge trugen.

„Das alles hat eine ganze Reihe von negativen Auswirkungen“, meint Furedi. „Das Worst-Case-Szenario wird als der Normalfall angesehen. Kinder aber brauchen eine positive Einstellung gegenüber dem Unbekannten, man darf sie nicht dauernd davor beschützen. Viele Kinder erfahren so keine Eigenständigkeit und keine Unabhängigkeit. Wenn auf allem ein Sicherheitshinweis klebt, lernt man nicht, mit Risiken umzugehen. “Für die Gesellschaft kann das weit gravierendere Auswirkungen haben als die Frage, ob ein Kind ohne Schutzbrille mit Kastanien werfen darf.

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Übersetzung: Christine Käppeler
Geschrieben von

Emine Saner, The Guardian | The Guardian

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