Wenn einem die BBC in einer Schlagzeile erklärt, Libidoprobleme spielten sich im Gehirn ab und nicht im geistigen Empfinden, kann man sich schon fragen, worin denn erstens der Unterschied zwischen beidem bestehen soll und ob ein Wissenschaftsartikel sich im Jahr 2010 wirklich darauf verlassen kann, dass seine Leser sich auf einen merkwürdigen cartesischen Dualismus einlassen, in dem das Selbst von einer lustigen kleinen Geisteseinheit in Schach gehalten wird, die in ständiger pneumatischer Verbindung zu ihrer körperlichen Umgebung steht. Lassen Sie uns aber zunächst einen Blick auf das Experiment werfen, über das die BBC uns berichtet.
So weit wir wissen (dieses Experiment wurde noch nicht veröffentlicht, sondern nur auf einer Konferenz präsentiert), wählten die Forscher sieben Frauen mit „normalem“ Sexualtrieb und 19 Frauen aus, denen eine „hypoaktive sexuelle Luststörung“ diagnostiziert worden war, die auch unter dem Namen Frigidität bekannt ist. Während sich die Probandinnen in einem Scanner eine Reihe erotischer Filme ansahen, machte ein Kernspintomograph Aufnahmen der Durchblutug ihrer Gehirne: Bei den Frauen mit normalem Sexualtrieb wurden bestimmte Bereiche des Gehirns, die für den Gefühlshaushalt verantwortlich sind, stärker durchblutet, bei denen mit geringer Libido nicht.
Dr. Michael Diamond, der an der Untersuchung beteiligt war, erklärte gegenüber der britischen Tagezeitung Daily Mail: „Dass ich physiologische Veränderungen nachweisen kann, ist mir Beleg genug, dass es sich um eine wirkliche Störung handelt und nicht nur um eine gesellschaftliche Konstruktion.“ In der britischen Gratiszeitung Metro geht er sogar noch weiter: „Wissenschaftler Michael Diamond sagte, die Ergebnisse lieferten „ausreichende Beweise“ dafür, dass es sich bei einem kontinuierlich schwachen Geschlechtstrieb, der als Vermindertes sexuelles Verlagen mit Leidensdruck (HSDD) bekannt ist, um eine genuin physiologische Störung handle und nicht um Einbildung.“
Diese Sicht der Dinge kommt mir recht ungewöhnlich vor. Alle psychischen Zustände haben ihre physiologischen Entsprechungen, wenn man davon ausgeht, dass die physische Aktivität des Gehirns unseren Gefühlen, Überzeugungen und Erfahrungen zugrunde liegt. Wenn also verschiedene Gemütsverfassungen mit verschiedenen physiologischen Zuständen korrelieren, sagt dies noch nichts darüber aus, was von beidem das andere verursacht hat.
Noch schräger erscheint mir die Vorstellung, eine subjektive Erfahrung müsse erst eine messbare physische Entsprechung im Gehirn aufweisen, bevor wir sie als real akzeptieren. Wenn jemand über einen beständig schwachen Geschlechtstrieb klagt, dann hat er einen beständig schwachen Geschlechtstrieb. Selbst wenn man hierfür keine Entsprechung auf physiologischer Ebene finden könnte, würde dies nichts an der Tatsache ändern, dass er einen beständig schwachen Geschlechtstrieb hat.
Interessanterweise ist diese schräge Interpretation alles andere als neu, sondern Teil einer ganzen Reihe immer wiederkehrender neurowissenschaftlicher Fehlinterpretationen, die zum ersten Mal in einem Paper der Nature Reviews Neuroscience mit dem Titel fMRI in the public eye veröffentlicht wurde.
Um zu untersuchen, wie Hirnforschung mittels funktioneller Magnetresonanztomographie in den Mainstreammedien dargestellt wurde, suchten die Autoren systematisch nach allen Geschichten, die in den vergangenen 12 Jahren zu dem Thema veröffentlicht worden waren und untersuchten diese dann in Hinblick auf die Wiederholung bestimmter Motive.
Das erste Motiv bestand in der Vorstellung, dass ein Brain-Imaging-Experiment einem Phänomen in den Augen der Öffentlichkeit eine „unkritische Realität, Objektivität und Wirklichkeit“ verleihe. Dieses Phänomen bezeichneten sie mit dem Begriff „Neuro-Realismus“. Die Vorstellung kann am besten anhand ihrer Beispiele erläutert werden, denn sie spiegeln die neuen Behauptungen bezüglich der Objektivierbarkeit der Libido perfekt wider.
So nimmt ein Artikel der Washington Post den Schmerz in den Blick und fragt, ob die subjektive Erfahrung hier ausreiche: „Schon seit langem berichten Patienten, dass Akupunktur ihre Schmerzen lindert, ohne dass die Wissenschaftler dies erklären könnten. Könnte es sich um eine Illusion handeln?“ Die Antwort der Zeitung lautet: „Die Brain-Imaging-Technologie hat nun ergeben, dass die Wahrnehmung, der Schmerz lasse nach, zutreffend ist.“
Ein anderer Text behauptet, Brain-Imaging halte den „visuellen Beweis darüber parat, dass Akupunktur Schmerzen lindert“. Die Realität ist aber natürlich wesentlich einfacher: Alles, was zählt, ist die subjektive Wahrnehmung des Schmerzes und wenn Sie sagen, Ihr Schmerz wurde gelindert, dann wurde er gelindert. (Und ich wünsche jedem Arzt viel Glück, der Patienten erzählt, ihre Schmerzen seien weg, wenn dies gar nicht der Fall ist, nur weil irgendein magischer Scanner dies behauptet.)
Die New York Times pflegt einen ähnlich merkwürdigen Umgang mit einer Brain-Imaging-Studie über Angst: „Nun nennen Wissenschaftler das Gefühl nicht nur real, sondern sie können auch zeigen, was bei seiner Entstehung im Gehirn vor sich geht.“ Viele Leute mögen fettiges Essen wegen seines Geschmacks, der Kalorien und einer Reihe andere Gründe. Als eine BI-Studie zeigte, dass die Belohnungszentren im Gehirn bei Probanden, die in einem Experiment fetthaltige Nahrungsmittel zu sich nahmen, stärker durchblutet wurden, erklärte der Boston Globe dies mit dem Satz: „Fett macht wirklich glücklich.“
Und sie haben recht. Das tut es. Aber wie verrückt ist eine Welt, in der eine Durchblutungsmessung im Gehirn als Beleg für eine subjektive Gemütsverfassung herangezogen wird und unsere Erfahrungen für gültig erklären muss.
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