Für die Dichterin Elisabeth Alexander muss es schwer gewesen sein, nach der Amtsantrittsrede Barack Obamas ans Podium zu treten. Ich bin ein großer Verehrer der Werke Frau Alexanders, sie selbst hat etwas feinsinnig Zartes, ihre Verse können einen bis ins Mark treffen. Unter den gegebenen Umständen hat sie ihre Sache gut gemacht. Und doch war es Obamas Rede, die in den Ohren der Welt klang, wie sonst nur pure Poesie.
Kann sie aber auch wirklich als Poesie bezeichnet werden? Wenn, wie der englische Lyriker Gerard Manley Hopkins einst sagte, Poesie „the common language heightened“, also eine überhöhte Form der Alltagssprache ist, dann ist Präsident Obama (wie es mir gefiel, diesen Ausdruck das erste Mal in die Tasten zu geben) in seiner Rede zum Poeten geworden. Er brachte die Sprache selbst zum Klingen. Das vollbrachte er nicht mittels schöner Schreibe, vordergründig gehobener Diktion oder selbstbewusster Parallelismen in der Syntax. Wer die Rede noch einmal liest, wird merken, dass Obama nur die schlichtesten Worte gebrauchte: „ neu“, „Nation“, „nun“, „Generation“, „gemeinsam“, „Mut“, „Welt“. Diese aber sprach er in den gewohnt geradlinigen unkomplizierten Kadenzen, denen er genau die richtige Länge verlieh.
Bis heute waren nur zwei der amerikanischen Präsidenten große Redner: Lincoln und Kennedy. Lincoln war unvergleichbar, eine einzigartiges Aufeinandertreffen eines Mannes und einer Zeit. Kennedy hat eine oder zwei berühmte Ausrücke geprägt, der bekannteste ist wohl in seiner eigenen Amtsantrittsrede zu finden, in der er seine Landsleute aufrief: „Frag’ nicht, was dein Land für dich tun kann – Frag’ was du für dein Land tun kannst.“ Kennedy für seinen Teil sah sich nicht mit Problemen konfrontiert, wie sie Obama anzugehen hat, darunter die Katastrophe zweier illegaler Kriege und einer zusammenbrechenden Wirtschaft. Sein Vorgänger Eisenhower hatte nicht mit solcher Hemmungslosigkeit und Ignoranz auf der Verfassung herumgetrampelt wie Obamas Vorgänger, der gute Name der Vereinigten Staaten in der Welt war noch nicht so in den Schmutz gezogen worden. In seiner Rede am vergangenen Dienstag stand Obama vor der Aufgabe, all dem Rechnung zu tragen, ohne es sich mit den Millionen Menschen, die nicht für ihn gestimmt hatten, zu verscherzen. Eine gewisse Zurückhaltung war gefordert.
Rhetorik ist immerhin die Kunst der Überzeugung – und überzeugend, das war diese Rhetorik allemal. Dabei voll und ganz im Bewusstsein der zu bewältigenden Anforderungen und der Erschwernisse, die diese mit sich bringen würden.
Es fing schon mit dem unbestreitbar schwierigen Umstand an, dass Obama den grimmig dreinblickenden Bush als Zuhörer hinter sich sitzen hatte. Trotzdem nahm er kein Blatt vor den Mund: „Wir sind heute hierher gekommen, um das Ende der kleinlichen Streitereien und falschen Versprechen zu verkünden, das Ende der gegenseitigen Schuldzuweisungen und abgenutzten Dogmen, die unsere Politik viel zu lange im Würgegriff gehalten haben.“ Hat er sich klar ausgedrückt? Ich denke schon.
Schon werden Klagen über den Inhalt der Rede laut. Obama ist auf viele der Probleme, die vor ihm liegen, nicht zu sprechen gekommen, darunter Gaza. Einige eindeutig grundlegende Gegenstände wie die Klimaerwärmung berührte er zwar, ging dabei aber nicht in die Tiefe. Er vermied es, ins Detail zu gehen, wohl um keine bestimmten Gruppe innerhalb seiner amerikanischen Zuhörerschaft zu verärgern.
Trotzdem hat mich seine Rede – wie es sonst nur echte Poesie vermag – im tiefsten Innern bewegt. Obwohl ich sonst nicht nah am Wasser gebaut habe, hatte ich beim Zuhören feuchte Wangen. Und ich war nicht der Einzige, dem es so ging.
Am Tage der Vereidigung Obamas empfand ich Stolz, ein Amerikaner zu sein. Ich bin mir bewusst, dass dies eigentlich eine lächerliche Aussage ist. Auch wird mein Stolz wahrscheinlich nicht allzu lang andauern, was mir im Übrigen auch gar nicht recht wäre.
Doch als Obama sprach, wurden Zuhörer und gesprochenes Wort eins, wie wenn ein Dichter ein wunderbares, wahres Gedicht vorträgt. Es war ganz und gar Performance und doch eine wahrhaftige Form der Poesie: rein, einfach und direkt. Natürlich wurde der Präsident von einem gewaltigen historischen Rückenwind getragen. Er trug seine Worte über Washington und alle Welt jenseits der amerikanischen Hauptstadt hinaus. Er musste nur sehr wenig sagen, um viel zu sagen. Doch wie alle guten Poeten begriff er, was das Wenige war, das gesagt werden musste, und wie viel dieses Fragment der Sprache einer Welt bedeutete, die in eben jener Stunde genau diese Worte verzweifelt brauchte.
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