Die programmierte Eskalation

Mission creep Die schleichende Eskalation der Libyen-Intervention soll als unabwendbar erscheinen. Vietnam und Somalia zeigen, dass Derartiges zumeist in der Katastrophe endet

Die jetzt offenkundig gewordene Ausweitung des Libyen-Einsatzes ist eine Folge militärischen Übermuts und mangelnder Selbsterkenntnis. Zu den Symptomen gehören fantastische Wahnvorstellungen wie der unter dem Namen Sarkozytis bekannte Glaube, nur der Leidende wisse, was für die Welt am besten sei. Hierauf folgen für gewöhnlich kalter Schweiß und Hitzewallungen, wenn die politische Realität sich dann doch anders darstellt. Mission creep, wie die schleichende Ausweitung eines militärischen Engagements im Englischen genannt wird, ist nicht behandelbar und endet meist in der Katastrophe.

Dies konnte man in Vietnam beobachten, wo Präsident Kennedy 1961 mit der Entscheidung, die Zahl der US-Militärberater des südvietnamesischen Regimes zu erhöhen, den Weg für einen umfassenden Kriegseinsatz ebnete. Auch bei der US-Intervention in Somalia während der frühen neunziger Jahre schlug Mission Creep wieder zu. Zu dieser Zeit wurde der Begriff des Washington Post-Kolumnisten Jim Hoagland geprägt. Der seit bald zehn Jahren andauernde Afghanistan-Einsatz ist dagegen weniger eine schleichende Ausweitung des Engagements als vielmehr ein hastiges Stolpern in eine militärische Traumwelt.

Wie viele Stiefel?

Großbritanniens Ankündigung, man werde zur militärischen Beratung des Nationalen Übergangsrates eine Gruppe erfahrener Offiziere nach Benghazi schicken, deutet auf einen weiteren Ausbruch der Krankheit hin. Außenminister Hague beharrte indessen darauf, die britische Armee übernehme im libyschen Bürgerkrieg nicht die Führung der Anti-Gaddafi-Truppen. Die „Berater“ würden die Rebellen weder bewaffnen, noch ausbilden noch instruieren. Darauf kann man nur antworten: Das wird schon noch kommen.
London tut jetzt genau das, was es ausdrücklich nicht tun wollte, als die Flugverbotszone beschlossen war: libyschen Boden betreten. Die Franzosen tun es den Briten gleich. In Anbetracht des erwiesenen Unvermögens der Rebellen, den Bürgerkrieg allein zu gewinnen, aber auch wegen der gewaltigen Nachteile, die ein Konflikt mit offenem Ende für Cameron und Sarkozy heraufbeschwören würde und der Weigerung Obamas, sich weiter zu engagieren, lautet die Frage nun: Wie viele französische und britische Stiefel werden früher oder später in die Fußstapfen der unglückseligen Berater treten?

Es ist klar, woher der Druck für eine direktere Beteiligung des Westens herkommt. Den zahlreichen gemeinsamen Erklärungen des Bündnisses zum Trotz versuchen die meisten NATO-Mitglieder, die Angelegenheit auszusitzen. Von den 28 Partnern im Bündnis nehmen zwar offiziell 14 „aktiv“ an der Durchsetzung der UN-Resolution teil, aber nur sechs beteiligen sich an den tatsächlichen Kampfeinsätzen. Von den 22 Mitgliedern der Arabischen Liga, deren Antrag den Sicherheitsrat dazu brachte, der Intervention grünes Licht zu erteilen, sind lediglich Katar und die Vereinigten Emirate zum Dienst erschienen. Außer den Genannten hat von den 192 UN-Mitgliedsstaaten, die rein rechtlich alle gleichermaßen die „Schutzverantwortung“ für von der eigenen Regierung angegriffene Zivilisten tragen, nur Schweden den Worten auch Taten folgen lassen.

Da Cameron und Sarkozy behaupten, Benghazi habe Ende März das gleiche Schicksal gedroht wie seinerzeit Srebrenica, müssen sie Misrata und anderen Städten jetzt konsequenterweise den gleichen Schutz zukommen lassen, wie er nach Srebrenica ab Mitte der neunziger Jahre für den größten Teil Bosniens galt. Und dies könnte nur durch den Einsatz von Bodentruppen möglich sein.

Bereits im Einsatzgebiet

Indem sie die Rebellen zum Widerstand ermutigen und diese unterstützen, wie weiland George Bush sen. dies mit den Schiiten im Südirak tat, riskieren Frankreich und Großbritannien, das Leid der libyschen Zivilbevölkerung zu vergrößern, die sie doch eigentlich verteidigen wollen. Die UN und Hilfsorganisationen vor Ort erklären einstimmig, dass die humanitäre Situation sich zunehmend verschlechtert, je länger der Konflikt andauert. Dies hat den früheren britischen Außenminister David Owen und andere dazu veranlasst, auf die Einrichtung von Sicherheitszonen nach bosnischem oder kurdischem Vorbild zu drängen, angefangen mit einer von britischen und französischen Soldaten verteidigten Sperrzone um Misrata.

Wie lange wird es dann noch dauern, bis diese Truppen in direkte Kämpfe mit Pro-Gaddafi-Truppen hinein geraten? Eine langsame Ausweitung des Einsatzes führt dazu, dass die betroffenen Entscheidungsträger vor solchen offenkundigen Bedenken leichter die Augen verschließen können. „So wie Benghazi innerhalb von Stunden gerettet wurde, muss dies auch mit Misrata geschehen. Wahrscheinlich bleiben uns nur noch ein paar Tage Zeit“, schreibt Owen in der Times. Mit anderen Worten: Nicht nachdenken, sondern einfach handeln.

Für den Schutzzonen-Vorschlag gibt es zwar, zumindest im Augenblick, noch keine offizielle Unterstützung, aber eine Eskalation am Boden liegt in der Luft. Die EU diskutiert über ein Operationskonzept für die Entsendung europäischer Soldaten als Flankenschutz für Zivilisten und humanitäre Hilfen. Die NATO weitet unterdessen ihre Luftangriffe auf Gaddafis Kommunikationsinfrastruktur sowie seine Heimatstadt Sirte aus. Scharfschützen kann sie auf diese Art freilich nicht ausschalten. Und inoffiziell hält es mittlerweile niemand mehr für notwendig zu leugnen, dass britische und andere Spezialeinheiten bereits operativ im Einsatzgebiet tätig sind. Die Ankündigung, man werde Militärberater entsenden, ist lediglich die offizielle Bestätigung eines bislang verdeckten Engagements auf dem Boden.

An dieser Stelle sei noch einmal daran erinnert, dass die UN-Resolution 1973 die Mitgliedsstaaten nicht dazu autorisiert, die Rebellen zu unterstützen, bewaffnete Gruppen zu verteidigen oder Gaddafi aus dem Land zu jagen. Sie erlaubt auch keine wie auch immer geartete Invasion oder Besatzung nach irakischem Vorbild, egal in welcher Form, in welchem Ausmaß oder in welcher Intensität. Aber in der Realität findet genau dies nolens-volens weitgehend statt. Es kann kein Zweifel daran bestehen: the creep is on – die Ausweitung des kriegerischen Engagements findet statt.


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Simon Tisdall | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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