Die Stadt als Organismus

Harlem Lange war Harlem ein Symbol der afroamerikanischen Kultur, doch jetzt setzt auch hier die Gentrifizierung ein. Porträt eines Stadtteils

Es gab Zeiten, in denen der Anblick von Sandra Schulzes blonden Haaren mitten in Harlems Marcus Garvey Park für großes Aufsehen gesorgt hätte. Aber als die 38-jährige Grafikdesignerin in der vergangenen Woche eben dort mit ihrem zwei Jahre alten Sohn spielte, war dies eher ein Zeichen der Zeit.

Harlem ist schon seit langem eines der berühmtesten Symbole der afroamerikanischen Kultur. Der New Yorker Stadtteil brachte Jazzgrößen, Politgiganten und Sportstars hervor und war lange Zeit eine starke schwarze Bastion im Herzen Manhattans. Dies ist aber dabei, sich rasch zu verändern. Schulze, die erst vor zwei Wochen mit ihrem Mann, einem Werbemanager aus Connecticut zugezogen ist, steht für das neue Gesicht eines Bezirks, der einst ein Synonym, entweder für Black Pride oder aber die Isolation und Ghettoisierung der Schwarzen war. Die Deutsche Schulze sieht dies allerdings anders. Für sie ist Harlem einfach nur ein herrlicher Ort, um ihren Sohn großzuziehen, mit billigen Mieten, großzügigen Wohnungen und freundlichen Anwohnern. „Bisher ist es wunderbar – ein wenig wie Paris oder Berlin. Ich liebe es“, schwärmt sie.

Zugezogene

Schulze gehört zu einer Welle neu Hinzugezogener, die das historisch gewachsene Bild Harlems verändern. In Greater Harlem sind die Schwarzen mittlerweile nicht mehr in der Mehrheit, hier sind nur noch vier von zehn Einwohnern Afroamerikaner. Verdrängt werden sie sowohl von Weißen, die die Gentrifizierung vorantreiben, als auch durch den sprunghaften Anstieg der Latino-Bevölkerung von Spanish Harlem. Die schwarze Bevölkerung von Greater Harlem befindet sich auf dem niedrigsten Stand seit den 1920er Jahren. Und dabei stammen die gegenwärtig aktuellsten Zahlen noch aus dem Jahr 2008. Am ersten April wird eine neue Volkszählung eine Momentaufnahme machen, die gegen Ende des Jahres veröffentlicht werden soll. Für Harlem dürfte aber auch so eines nahezu sicher sein: Es werden noch mehr Schwarze weg- und noch mehr Weiße und Lations zugezogen sein.

Dies spiegelt einen nationalen Trend wider. In der Geschichte der Vereinigten Staaten waren die Schwarzen stets die größte ethnische Minderheit. Dies ist heute nicht mehr der Fall: Nur noch 13 Prozent der Amerikaner sind schwarz, 15,5 Prozent hingegen Lations, und der Abstand nimmt weiter zu. Wenn die USA eine „offizielle“ Minderheit hätten, wären dies heute die Lations und nicht die Schwarzen. Man könnte hierin einen gewissen Fortschritt erblicken und es, vor dem Hintergrund des ersten afroamerikanischen Präsidenten in der Geschichte, als Zeichen dafür deuten, dass die Black Americans endlich in der US-amerikanischen Mehrheitsgesellschaft angekommen sind. Die Wirtschaftskrise hat indessen gezeigt, dass Schwarze nach wie vor massiv benachteiligt werden. Keine andere ethnische Gruppe hat stärker unter der Rezession zu leiden. Die Arbeitslosenquote unter Schwarzen ist mit 16 Prozent doppelt so hoch wie bei Weißen, das Armutsrisiko sogar dreimal so hoch. Mag auch ein Schwarzer im Oval Office sitzen – die zaghaft beginnende Teilhabe des schwarzen Amerika am Wohlstand hat durch die Krise einen gewaltigen Rückschlag erhalten. „Wenn Amerika sich eine Erkältung einfängt, kriegt das schwarze Amerika eine Lungenentzündung. Das hat sich jetzt wieder bestätigt“, sagt Andra Gillespie, Politikwissenschaftlerin an der Emory University.

Hoffnung auf ein besseres Leben

Für Harlem bedeutet dies, dass die schwarze Bevölkerung sich möglicherweise nicht in einem Gebiet behaupten kann, das seit fast 100 Jahren ihr ureigenstes Revier war: Im Apollo Theatre begann die Karriere von Generationen schwarzer Stars wie Billie Holiday, Ella Fitzgerald oder James Brown. Dies ist der Ort, an dem während der „Harlem Renaissance“ in den Zwanziger und Dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts schwarze Politik und Kultur eine Blütezeit erlebten. Malcolm X predigte hier. Einst boten unzählige Soul-Food-Restaurants Fried Chicken and Biscuits an – die Bewahrung der Erinnerung an Süden, aus dem die Schwarzen einst in der Hoffnung auf ein besseres Leben aufgebrochen waren.

Auch wenn die Mieten auf dem Höhepunkt der Krise etwas zurückgegangen sind, so haben sich die Wohnungspreise in Harlem innerhalb der vergangenen zehn Jahre insgesamt mehr als verdoppelt. Viele neue Gebäude mit teuren Wohnungen schießen wie Pilze aus dem Boden. Die Preise übertreffen die wildesten Träume vieler Alteingesessener: Ein Wohnblock auf der 116ten Straße bietet Wohnungen für 980.000 Dollar an. Wer lieber gleich ein ganzes Haus kaufen und renovieren möchte, den kostet ein elegantes Harlemer Sandsteinhaus gegenwärtig 899.000 Dollar.

Gang of Four

Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass einige sich über die in Harlem vor sich gehenden Veränderungen entrüsten. Der 61-jährige Tariq Haskins bestreitet seinen Lebensunterhalt mit einem CD-Stand auf der 125. – Harlems Hauptstraße, in der sich auch das Apollo befindet. Er ist stinksauer über die Veränderungen, die er um sich herum wahrnimmt. „Das ist eine Bedrohung für die Alteingesessenen. Wir verfügen nicht über die gleichen Einkommen wie die neu Zugezogenen. Unsere Möglichkeiten sind beschränkt.“ Wie kann man darauf reagieren? „Wir müssen uns organisieren“, sagt Haskins, der stolz ein Black-Power-Abzeichen trägt.

Jeder Versuch, sich dergestalt zu organisieren, hätte mit wesentlich schlechteren Ausgangsbedingungen zu kämpfen als früher. Viele Jahre lang hat Harlem immer wieder politische Führungspersönlichkeiten hervorgebracht, die oft landesweite Berühmtheit erlangten. Zuletzt war dies die sogenannte Gang of Four, die im Harlem der 1960er und 70er an Einfluss gewann und zu der auch der frühere New Yorker Bürgermeister David Dinkins gehörte. Heute aber ist von ihnen als einziger noch der Kongressabgeordnete Charlie Rangel politisch aktiv, der allerdings der Korruption bezichtigt wird. Die Gang beförderte auch die Karriere des schwarzen New Yorker Gouverneurs David Paterson, der aber ebenfalls in Skandale verwickelt ist und dessen Karriere am Ende zu sein scheint. Mit der Veränderung der Demografie hat sich also auch das alte Netzwerk aufgelöst, das einst den Einfluss der Schwarzen auf die New Yorker Politik gewährleistete.

Stadt als Organismus



Ein anderer Neuankömmling sieht dies ähnlich: Der Lehrer und Schriftsteller David Stoler ist eben erst ins südliche Harlem in die Nähe des oberen Endes des Central Park gezogen. „Für mich ist die Stadt ein Organismus, der wächst und sich verändert. Das macht eine Stadt doch erst zu einer Stadt. Sie wird permanent neu erfunden.“ Er betrachtet sich jedenfalls nicht als Eindringling. „Ich unterrichte in Schulen hier im Bezirk, liebe das Soul-Food-Restaurant an der Ecke und spiele auf der 125. Fußball. Ich bin Teil des Viertels und als Künstler auch nicht gerade wohlhabend“, sagt er. Wenn Stoler das Gesicht des neuen Harlem repräsentiert, ist es in Obamas Amerika vielleicht schlicht schwieriger geworden, den Bezirk zu charakterisieren. Wenn man die 125. Straße entlanggeht, sieht man Schwarze, Asiaten und Weiße gleichermaßen.

Kulturelles Mekka

Es findet sich auch ein Schwarzer, der die Veränderungen begrüßt. Der 36 Jahre alte Finanzberater Frank Caldwell hat in der Krise seinen Job verloren. Vergangene Woche spielte er auf der 125. Saxophon, um ein wenig Geld zu verdienen. Er ist in Harlem geboren und hat keinerlei Bedenken hinsichtlich der sich verändernden Identität des Bezirks. „Wenn eine neue Bevölkerungsschicht hierher kommt, wird dies dem kulturellen Leben gut tun. Sie können Harlem etwas geben.“

Viele Experten sind sich aber darin einig, dass die Schwarzen auch in Obamas Amerika abgehängt werden. Und wo sollen sie noch hingehen, wenn sie erst einmal Harlem verloren haben? Darauf hat auch Tariq Haskins keine Antwort. Er ist aber entschlossen zu bleiben. „Harlem ist ein kulturelles Mekka für Afroamerikaner. Ich will nirgendwo anders hingegen.


Übersetzung: Holger Hutt

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Paul Harris | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

The Guardian

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden