Die Triebkräfte des Wandels

Naher Osten Frauen, Schwule, Blogger - das sind für den Nahost-Experten Brian Whitaker die Hoffnungsträger für Veränderungen hin zu einer offenen Gesellschaft in der arabischen Welt

„Frauen, Blogger und Schwule führen die Veränderung in der arabischen Welt an.“ So lautete die Schlagzeile eines Artikels von Octavia Nasr für das CNN-Blog von Anderson Cooper AC360˚. „Es zeichnen sich gegenwärtig verschiedene neue Konturen im Wüstensand des Mittleren Ostens ab. Wenn sich dies fortsetzt und die Konturen größer werden und stärker hervortreten, werden Regierungen, Zensoren und Gefängnisse kaum mehr etwas gegen sie ausrichten können“, so Nasr in ihrem Beitrag.

Auch wenn sie um die Existenz eines auf Arabisch erscheinenden feministischen Magazins, in dem „niemand sich traut, Werbeanzeigen zu schalten“, und einige andere Entwicklungen, die zwar interessant sind, aber wohl kaum als Anzeichen einer bevorstehenden Revolution in den arabischen Ländern interpretiert werden können, etwas zu viel Aufhebens macht, so denke ich doch, dass sie mit ihrer Behauptung nicht ganz unrecht hat. In Bezug auf die Frage, von wem in den arabischen Ländern am ehesten eine demokratische Veränderung ausgehen könnte, würde ich „reform-orientierten“ Politikern und Oppositionsparteien eher weniger Bedeutung beimessen – von ihnen ist in den meisten Fällen nicht viel zu erwarten. Ich hätte aber in jedem Fall Feministinnen, Schwule und Blogger ganz weit oben auf meiner Liste.

Man darf ihre gegenwärtige Errungenschaften zwar nicht überschätzen, sollte aber dennoch ihr Potential als Triebkräfte des Wandels erkennen. Das „arabische Problem“ wird meistens allein auf der Regierungsebene verortet: Mangel an Demokratie, autoritäre Herrscher, die die Rechte der Bevölkerung missachten, und so weiter. Die Wahrnehmung war es insbesondere, die die Bush-Administration auf die naive und simplifizierende Idee brachte, das Problem könne allein mit einem Regime-Change gelöst werden.

Der Irrtum ist heute offenkundig. Man kann Diktatoren stürzen und sogar halbwegs fair durchgeführte Wahlen erzwingen. Aber all dies wird den Menschen keine Freiheit bringen, solange es nicht Teil eines viel weiter reichenden gesellschaftlichen Transformationsprozesses ist.

Was sich beispielsweise im Irak abzeichnet, ist weniger ein Modell für den übrigen Mittleren Osten (wie ursprünglich von Bush und den Neokonservativen beabsichtigt), als vielmehr ein Modell von ihm. Jetzt, wo sich der Rauch langsam verzieht, erscheint der Irak als ein mehr oder weniger typischer arabischer Staat, der die meisten negativen Eigenschaften aufweist, wie andere auch – eine Regierung mit autoritären Neigungen, institutionelle Korruption und Vetternwirtschaft, eine alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringende Diskriminierung und eine Rentenökonomie, die kaum etwas produziert außer Öl. Ein Wiederaufleben des Stammessystems und Sektenwesens kommt erschwerend hinzu.


Die arabischen Regime sind im großen und Ganzen Spiegel der Gesellschaften, die sie regieren, und oft genug stehen die Gesellschaften Wandel und Fortschritt ebenso im Wege wie ihre Regierungen. So war es in Kuwait beispielsweise nicht der durch Erbfolge bestimmte Emir, der sich der Einführung des Frauenwahlrechts widersetzte, sondern reaktionäre Elemente im demokratisch gewählten Parlament. Solche Beispiele gibt es zuhauf. Der ägyptische Guardian-Kommentator Khaled Diab brachte es einmal auf die prägnante Formel: „Es gibt in Ägypten eine Million Mubaraks.“ Mit anderen Worten, autoritäres und despotische Handeln ist keine Eigenart von Präsidenten, sondern durchzieht die gesamte ägyptische Gesellschaft, findet sich in Unternehmen und Familien wieder. Die traditionelle arabische Familie ist Urzelle und Mikrokosmos des arabischen Staates. Sie ist patriarchal, autoritär, setzt der Individualität enge Grenzen, fordert ein hohes Maß von Unterwerfung, Anpassung und Konformität und beschützt ihre Mitglieder nur solange sie diesen Werten entsprechen.

Die Veränderung der Machtstrukturen innerhalb der Familien (die in vielen Teilen der arabischen Welt bereits begonnen hat), wird schrittweise den Blick verändern, mit dem die Menschen andere Machtstrukturen betrachten – egal, ob in Schulen und Universitäten, am Arbeitsplatz oder an der Spitze des Staates. Hier kommen die Frauen ins Spiel. Die Forderung nach Gleichberechtigung ist ein erster Schritt zur Veränderung der Gesellschaft. Dass sie ihre Rechte einfordern bedeutet nicht, dass alle Frauen zu feministischen Aktivistinnen werden müssen. Selbst etwas so Banales, wie arbeiten zu gehen, wird etwas verändern, wenn nur genug Leute es tun.

Entgegen der allgemeinen Meinung werden die meisten Menschenrechtsverletzungen in der arabischen Welt nicht von Seiten des Staates begangen. Natürlich werden die Menschen auch von ihren Herrschern unterdrückt. Sie sind aber gleichzeitig auch Teil eines Systems, dem die systematische Verweigerung von Rechten immanent ist. Gründe für Diskriminierung ist oft ein angeborene Eigenschaften wie Geschlecht, Familien- und Stammes- und Religionszugehörigkeit. Die Größte Gruppe von Diskriminierten stellen zweifelsohne die Frauen. Indem sie ihre Emanzipation vorantreiben, können sie auch den anderen Gruppen helfen, für sich das gleiche zu erreichen.

Norm-Verletzung und Subversion

Der Kampf gegen die Diskriminierung von Homosexuellen hat in den arabischen Ländern erst in den vergangenen Jahren begonnen. In einem hierarchischen, patriarchalen System, in dem der Männlichkeit ein hoher Stellenwert beigemessen wird, wird jede Abweichung von den sexuellen „Normen“ und erwarteten Geschlechter-Rollen nicht nur als subversiv, sondern als außerordentlich bedrohlich empfunden. Die von Bürgerwehren im Irak verübten Morde sind lediglich eines der übelsten Beispiele – sie töten nicht nur angeblich homosexuelle Männer, sondern auch solche, die sich schlicht nicht so kleiden und verhalten, wie Männer dies ihrer Ansicht nach sollten.

Die dritte Gruppe, die einen gesellschaftlichen Wandel vorantreibt, sind die Blogger. Eine aktuelle Umfrage hat ergeben, dass 35.000 Menschen auf Arabisch bloggen und unzählige weitere Facebook, Twitter und andere Dienste benutzen, um über das Internet zu kommunizieren. Es ist schon viel diskutiert worden, inwieweit dies die öffentliche Debatte beeinflussen und die Zensur unterlaufen kann. Allerdings sehe ich darin nicht die wirkliche Bedeutung, die Bloggern und dem Internet im Nahen- und Mittleren Osten zukommt. Das traditionelle „Ideal“ der arabischen Gesellschaft besteht aus einer strengen Ordnung, in der jeder seinen Platz kennt und keiner aus der Reihe tanzt. Für gewöhnlich macht man, was von einem erwartet wird und damit hat es sich. Man verhält sich unauffällig, erregt kein Aufsehen und lässt diejenigen, die es angeblich besser wissen, weiter über die Dinge entscheiden.

Das Entscheidende an Bloggern ist, dass sie mit all dem nichts am Hut haben. Sie sind engagiert und vital und tanzen aus der Rolle, so oft sie Lust haben. Wenn Sie alle diese Dinge zusammennehmen, dann sehen Sie, dass das Gebäude des arabischen Autoritarismus früher oder später anfangen könnte zu bröckeln.

Brian Whitaker hat sieben Jahre für den Guardian aus dem Nahen Osten berichtet. Er ist u.a. Autor des Buches Unspeakable Love Gay and lesbian life in the Middle East (Saqi Books, London). Sein aktuelles Buch trägt den Titel What`s Really Wrong With the Middle East.

Der Originaltext ist im Guardian unter dem Titel Arab winds of change veröffentlicht worden.


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Brian Whitaker, The Guardian | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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