Indien Für viele indische Frauen sind Binden unbezahlbar. Der Unternehmer Arunachalam Muruganantham ändert das: Er hat die billige Binde entwickelt – und schafft Jobs
Die Geschichte der ersten Maschine zur Herstellung von Billig-Damenbinden beginnt mit einem Mann, der selbst einmal Binden getragen hat. 1998 arbeitete Arunachalam Muruganantham noch als Hilfsarbeiter in einem Betrieb in der Stadt Coimbatore im indischen Bundesstaat Tamil Nadu und lebte unterhalb der Armutsgrenze. Seine Binden-Forschung begann, als er eines Tages seine Frau mit ein paar schmutzigen Fetzen erwischte. Als er sie zur Rede stellte, sagte sie ihm, dass sie die Wahl habe: Entweder sie kaufe Binden für sich oder Milch für die Familie.
Laut einer Studie behelfen sich in Indien 88 Prozent aller Frauen während der Menstruation mit Asche, Lumpen, Zeitungen oder getrockneten Blättern. Infolge dieser unhygienischen Praktiken leiden über 70 Prozent an Infektionen
nfektionen, was wiederum das Risiko von Krebserkrankungen erhöht. Muruganantham beschloss daraufhin, für seine Frau eine kostengünstige Binde zu entwickeln.Schon früh, so geht seine Geschichte, hatte er einen gewissen Unternehmergeist an den Tag gelegt. Als sein Vater starb, musste er mit 14 Jahren von der Schule abgehen. Um seine Mutter zu unterstützen, die als Landarbeiterin nur wenig verdiente, verkaufte er Arbeitern, die auf dem Weg in die Fabrik vorbeikamen, etwas zu essen. Schnell fand seine Idee Nachahmer, er wurde von einem Konkurrenten bedroht und musste aufgeben.Es schien keine große Sache Mit 15 fing er als Hilfsarbeiter in einer Werkstatt an und arbeitete dort an Toren und Fenstern. Da ihn das immer gleiche Design langweilte, verzierte er die Metallteile mit traditionellen Mustern und wurde so bekannt für seine Handwerkskunst, dass er schon bald eine eigene Werkstatt eröffnen konnte. Für jemanden wie ihn, der schon als Kind Feuerwerk, Zuckerrohr, Lampen und Ganesha-Statuen verkauft hat, schien die Herstellung einer Binde daher keine große Sache.Er begann damit, die beste Baumwolle zu kaufen, die er finden konnte. Dann stellte er ein paar Muster her. Die zeigte er seiner Frau und verlangte von ihr, sie sofort zu testen – von Menstruationszyklen hatte er da noch keine Ahnung. Aber weder seine Frau noch seine Schwestern wollten von der Sache etwas wissen. Unverdrossen machte Muruganantham weiter und verteilte nun Fragebögen an Medizinstudentinnen. Von denen wollte aber auch keine mit ihm über das Tabuthema reden.Seine eigene Frau verließ ihn nach anderthalb Jahren Forschung, weil sie überzeugt davon war, dass er die Binden nur als Vorwand benutzte, um anderen Frauen nahe zu kommen. Auch davon ließ Muruganantham sich nicht entmutigen und testete die Einlagen einfach selbst: Er holte sich Ziegenblut vom Schlachter, sorgte dafür, dass es nicht gerann, lief eine Woche lang mit einer aus einem Beutel gefertigten künstlichen Blase herum und trug dazu Damenunterwäsche. Jedes Mal, wenn er auf diesen selbstgebauten Uterus drückte, entließ dieser eine kleine Menge Blut.Die Ergebnisse blieben jedoch unbefriedigend, also probierte er es anders. Er verteilte die Binden kostenlos an Frauen und bat darum, sie ihm später wieder zurückzugeben. „Es war nicht leicht“, sagt Muruganantham. „Sie dachten, ich wollte sie für schwarze Magie benutzen.“ Als seine Mutter schließlich die Einlagen entdeckte, die er in einem Vorratsraum aufbewahrte, verließ auch sie ihn.Nach einer zweijährigen Testphase mit verschiedenen Materialien kam der Durchbruch. Muruganantham fand heraus, dass Tampons heute aus dem Zellstoff von Kiefernrinden gefertigt werden. Er gab vor, er sei ein Millionär, der eine Fertigungshalle bauen lassen wolle, versandte mit der Hilfe örtlicher Lehrer E-Mails an US-amerikanische Hersteller und erhielt prompt Materialbögen zugeschickt. Die untersuchte er und fand im Inneren der Binden einen Kern aus komprimierten Holzfasern.Eine Maschine, mit der er diese Fasern selbst gewinnen könnte, so fand er heraus, würde umgerechnet 360.000 Euro kosten. „Also entschloss ich mich, eine einfache Version zu bauen“, erzählt er. Vier Jahre tüftelte er, bis es ihm gelang. Weitere zwei Jahre später gewann er den Innovationspreis des Indischen Instituts für Technologie in Chennai. Schließlich konnte er auch seine Familie überreden, zu ihm zurückzukommen.Man sieht Muruganantham weder an, dass er jahrelang öffentlich verspottet wurde, noch dass er vom Präsidenten einen Innovationspreis erhalten hat. Der leise und bescheidene 46-jährige Erfinder bringt einen dazu, sich vor Lachen wegzuschmeißen, wenn er seine Geschichte erzählt. Die Fähigkeit, sich über sich selbst lustig zu machen, ist wohl eine seiner Stärken. „Frauen nahmen Reißaus, wenn sie mich nur kommen sahen. Die Leute sagten, ich sei verrückt und fragten sich, ob ich wohl schlimme Krankheiten hätte“, erinnert er sich. „Es wurde sogar gemutmaßt, ich sei von einem bösen Geist besessen, weshalb sich bei Vollmond niemand mehr in meine Nähe traute. Die Freunde, die ich noch hatte, musste ich heimlich treffen.“Heute werden über 600 der Maschinen, die von seinem Start-up-Unternehmen Jayaashree Industries gefertigt werden, in 23 Bundesstaaten Indiens benutzt. Trotz zahlreicher Angebote weigert sich Muruganantham, seine Erfindung zu verkaufen. „Ich habe mich gegen das Geld entschieden, weil ich gesehen habe, dass meine Eltern ums Überleben kämpfen“, erklärt er. „Ich wusste, dass diese Maschine vielen Frauen auf dem Land eine sichere Lebensgrundlage bieten kann.“Sein Unternehmen verkauft keine fertigen Binden, sondern die Maschinen, mit denen sie sich herstellen lassen. Banken, NGOs und Selbsthilfeorganisationen geben den Käuferinnen die nötigen Kredite in Höhe von umgerechnet je 1.900 Euro. In drei Stunden weiß man, wie es geht. Wer dann noch jemanden für Verarbeitung und Vertrieb anstellt, kann seine eigene kleine Produktion eröffnen.Eine einfache Maschine produziert 1.000 Binden pro Tag, die pneumatische Maschine sogar knapp 3.000. Die Frauen packen sechs bis acht in eine Schachtel und verkaufen sie für 13 Rupien (etwa 20 Cent). Im Durchschnitt verdient jede umgerechnet zwischen 36 und 78 Euro im Monat. Zum Vergleich: Landarbeiter verdienen 10 bis 30 Euro.Von den Holzfasern bis zur fertigen Binde gibt es vier Fertigungsstufen. Mit einem leistungsstarken Motor wird zunächst Zellstoff gewonnen. Für die nächsten Schritte wird die Maschine mittels eines Fußpedals betrieben, wobei der gewonnene Zellstoff in Form gebracht, mit Vliesstoff umhüllt und versiegelt wird. Schließlich werden die Binden mit Infrarotlicht sterilisiert, noch einmal zurechtgestutzt und mit Klebestreifen versehen, bevor sie schließlich verpackt werden.Von Frau zu FrauDas ganze System basiert auf dem direkten Austausch von Frau zu Frau. „Ich versuche, eine zweite ‚Weiße Revolution‘ zu schaffen“, sagt Muruganantham. Mit der ersten „Weißen Revolution“ meint er das indische Vorhaben, die Milchproduktion des Landes innerhalb von 25 Jahren zu vervierfachen. Die Einrichtung von 100.000 Produktionsstätten werde einer Million Frauen ein gesichertes Einkommen verschaffen, sagt er. „Niemand kümmert sich um ungebildete Analphabetinnen. Dieses Modell ermöglicht ihnen ein Leben in Würde.“Die Revolution freilich ist schwierig, da das Thema Binden immer noch so gut wie tabu ist. Doch wie schwierig es auch immer sein mag – Muruganantham lässt sich davon nicht abschrecken.Sieben Monate nachdem er ein Dorf im indischen Bundesstaat Uttarakhand besucht hatte, erhielt er den Brief einer Mutter. Sie schrieb ihm, dass ihre Tochter nun zur Schule gehe. Sie war die erste in der Geschichte ihres Dorfes, die genug Geld verdiente, um ihrem Kind dies zu ermöglichen. Das, sagt Muruganantham, sei für ihn das größte Kompliment gewesen.
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