Drei verlassene Kinder und ein 40 Jahre altes ungelöstes Geheimnis
Vermisst Elvira und ihre Brüder Ricard und Ramón wurden als Kinder an einem Bahnhof in Barcelona zurückgelassen. Als Erwachsene suchen sie nach den Eltern und entdecken eine Familiengeschichte, die wilder ist als alles, was sie sich ausgemalt hatten
Als Kleinkinder ausgesetzt, machen sich Elvira, Ricard und Ramón auf die Suche nach ihrer Familie
Fotos: Family of Elvira Moral/Jordi Matas/The Guardian
Am 22. April 1984 wurde Elvira, ein zweijähriges Mädchen mit rotblonden Ringellöckchen, gemeinsam mit ihren Brüdern Ricard und Ramón, vier und fünf Jahre alt, zu einem großen Bahnhof in Barcelona gefahren. Die Kinder, die Markenkleidung trugen, saßen in einem weißen Mercedes-Benz. Der Fahrer war Denis, ein französischer Freund ihres Vaters. Er parkte in der Nähe der modernistischen Estación de Francia (heute Estació de França) und brachte die Kinder in die riesige Halle mit glänzendem, gemustertem Marmorboden und den beiden Glaskuppeln. Sie sollten kurz warten, sagte er zu den Kindern, während er Süßigkeiten kaufen gehe.
Die drei Geschwister warteten, aber Denis kam nicht zurück. Irgendwann begann
ann begann Elvira zu weinen. Ein Bahnarbeiter fragte, was los sei, und Ramón, der Französisch und Spanisch sprach, sagte es ihm. Die Polizei wurde gerufen, aber als die Kinder nach den Namen ihrer Eltern gefragt wurden, wussten sie keine Antwort. Die Kinder konnten auch ihren eigenen Nachnamen nicht nennen oder sagen, wo sie wohnten – außer, dass das bis vor Kurzem in Paris gewesen war.Normalerweise wissen Fünfjährige derart grundsätzliche Dinge, aber die Polizei war nicht übermäßig besorgt. Kinder werden normalerweise nicht ohne Erklärung irgendwo zurückgelassen, schon gar nicht im Dreierpack. Die Behörden gingen davon aus, dass in absehbarer Zeit jemand – sei es ein Verwandter, Freund oder Schullehrer – sie als vermisst melden und das Geheimnis gelöst sein würde. Sie machten keinen Versuch, die Presse zu alarmieren oder die Öffentlichkeit um Hilfe zu bitten.An diesem Abend brachte die Polizei die Geschwister in ein Waisenhaus in Barcelona. Drei Tage später wurden sie in ein Kinderheim im Zentrum der Stadt verlegt. Mitte der 1980er-Jahre, im Zeitalter von Fax, Telegramm und handschriftlich zugestellter Post, war die internationale Kommunikation langsam, aber nun wurde die Polizei in Frankreich und ganz Europa über die drei allein in Barcelona gefundenen Kinder informiert.Ein neues ZuhauseTage wurden zu Wochen, aber niemand suchte nach ihnen. Die Heimmitarbeiter stellten fest, dass die wohlerzogenen Kinder, wenn das Gespräch auf ihre Eltern oder die Vergangenheit kam, entweder nichts sagten oder weggingen. Einem ihrer Berichte zufolge entschieden die Mitarbeiter, nicht gegen das anzugehen, was sie als „psychologische Blockade“ betrachteten.Einige Wochen später, im Mai, sah eine Schulpsychologin namens Marisa Manera ein Foto von Elvira und ihren Brüdern, das an einer Tafel in einem Bezirksbüro des Sozialdienstes von Barcelona hing. „Wir suchen Informationen zu diesen drei Kindern“, hieß es dazu und auf einer Visitenkarte stand die Nummer des Kinderheims. Marisa und ihr Mann, ein Lehrer namens Lluís Moral, hatten bereits zuvor Pflegekinder gehabt und boten den drei Geschwistern ein vorübergehendes Zuhause an. Ende Juni zogen die Kinder ein.Im gleichen Sommer machten die fünf einen Camping-Ausflug und verbrachten Zeit im sandigen Delta des Flusses Ebro, 120 Kilometer südlich von Barcelona. Die Kinder kannten den Namen ihres Vaters nicht, aber sie erinnerten sich an seine spektakulären Autos: einen schwarzen Porsche, einen graugrünen Jaguar und einen weißen Mercedes-Benz. Als sie während dieser Ferien einen weißen Mercedes sahen, zeigte die zweijährige Elvira auf den Wagen und sagte: „Guck, Papas Auto!“, so als wären ihre Eltern angekommen.Aus Monaten wurden Jahre. 1986 adoptieren Marisa und Lluís Elvira und ihre Brüder und gaben ihnen die Nachnamen Moral Manera (Spanier erhalten je einen Namen von jedem Elternteil). „Sie bekamen die Familie mit drei Kindern, die sie immer haben wollten“, erzählt Elvira, heute eine schlanke 41-Jährige mit dunklen Augen, gefärbtem silberfarbenem Haar und Tattoo auf einem Fingerknöchel. Es war Glück für beide Seiten, denn die Kinder hatten eine liebevolle, erfüllte Kindheit. „Wir haben den Sechser im Lotto gewonnen“, wie Elvira es formuliert. Die Geschwister wurden zu einer eingeschworenen Bande. Sie lebten ein Leben in der Mittelschicht Barcelonas, in einer Wohnung mit Blick auf eine Windhunderennbahn.Als sie aufwuchs, fragte sich Elvira manchmal, warum ihre leiblichen Eltern sie verlassen hatten, aber es bedrückte sie nicht. Die Adoption war nie ein Tabuthema. Ab und an aber stellte sie sich vor, wie ihre Eltern an der Tür klingelten und sie mit einem lässigen „Bonjour!“ begrüßten.Manchmal, am Ende von Partynächten als Teenager oder junge Erwachsene, bat Elvira auch ihre Brüder, Erinnerungen aus ihrem früheren Leben aufleben zu lassen. Die wenigen, die sie hatten, stammten aus Paris und Frankreich auf dem Land oder von Reisen in eine verschneite Schweiz oder nach Belgien. Sie hatten mit Autofahrten in den Wagen ihres Vaters zu tun, mit vielen Orten und einer schwarz gekleideten Großmutter, die sie zum Milch trinken zwang, wenn sie bei ihr zu Besuch waren. Elvira hörte zwar gern von ihrer frühen Kindheit, hatte damals aber nicht den Wunsch, nach ihren biologischen Eltern zu suchen.Als Erwachsene lernte Elvira die Zeichensprache und begann, Kinder mit Hörschwierigkeiten zu unterrichten. Sie trat damit in die Fußstapfen von Lluís, der Lehrer für Kinder mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen gewesen war. Er starb vor ihrem 18. Geburtstag. Elvira war der festen Überzeugung, dass Erziehung weitaus mehr zur Charakterbildung beiträgt als biologische Faktoren.Nach der Geburt ihres Sohnes wächst Elviras Neugier2014 dann bekam Elvira einen Sohn mit ihrem Lebensgefährten Marco, einem italienischen Brillendesigner, der in Barcelona arbeitete. Während ihrer Schwangerschaft beruhigte es Elvira zunehmend wie wenig sie über ihre biologische Familie wusste. Was, wenn ihre Eltern eine erbliche Krankheit hatten?Nachdem ihr Sohn geboren war, wuchs ihre Neugier weiter – noch stärker mit der Geburt ihres zweiten Sohnes 2017. Im gleichen Jahr heirateten Elvira und Marco. Sie kauften eine Wohnung, nur wenige Minuten von dem Ort entfernt, an dem Elvira aufgewachsen war. Wenn Elvira auf das Kind herabblickte, das sie gerade stillte, fragte sie sich, ob ihre Mutter sie auch gestillt hatte und welche anderen Rituale es in der kurzen Zeit gab, die sie miteinander hatten. Elviras Söhne waren ihr so offensichtlich kostbar, dass sie sich vorstellte, dass nur ein erschütterndes Ereignis ihre Mutter dazu gebracht haben konnte, ihre Kinder allein zurückzulassen. Als Elviras Söhne älter wurden, merkte sie, dass noch etwas anderes nicht stimmte. „Welcher Fünfjährige kann nicht sagen, wie seine Eltern heißen?“, fragte sie sich.Placeholder image-1Im Dezember 2020 schenkte sie sich selbst einen MyHeritage-DNA-Test zu Weihnachten. Sie hoffte, in der riesigen DNA-Datenbank einen Blutsverwandten zu finden. Zu ihrer Überraschung fand der Test nur wenige Übereinstimmungen in Frankreich, aber viele in Südspanien. „Das war ein Schock. Wir waren überzeugt, dass wir aus Frankreich kommen“, erzählt sie. Aber die Ergebnisse waren vage. In den besten Fällen zeigten sie nur ein oder zwei Prozent DNA-Übereinstimmung mit Menschen in der Datenbank. Diejenigen, die Elvira kontaktierte, reagierten nicht oder hatten keine relevanten Informationen. „Das war’s. Wir finden sie nie“, war ihre erste Reaktion. Aber sie war nicht bereit, aufzugeben. Ihre Suche hatte eben erst begonnen.Elvira erzählte ihren Brüdern und Marisa, dass sie begonnen hatte, ihre leibliche Familie zu suchen. Zwei Tage später rief Marisa Elvira und Ramón zu einem Familientreffen in ihre Wohnung (Ricard war nicht in Barcelona). Sie hatte etwas, was sie ihnen zeigen wollte: ein paar verblasste Zeitungsausschnitte, die sie im Juli 1984 abgeheftet hatte, kurz nachdem die Kinder eingezogen waren.In den Artikeln ging es um einen Franzosen namens Raymond Vaccarizzi. Er war ein Mafiaboss aus Lyon, der Anfang der 1980er in den spanischen Küstenort L’Escala knapp 140 Kilometer nördlich von Barcelona zog, als Bandenkriege eskalierten und die französische Polizei ihm auf den Fersen war. Vaccarizzi leitete einen Prostitutionsring. Auch Schutzgelderpressung gehörte zu seinem Geschäft und er war für seine Gewalttätigkeit berüchtigt. Ende 1983 wurde er wegen Mordes verhaftet und in La Modelo inhaftiert, einem Backsteingefängnis aus dem 19. Jahrhundert in Barcelona, das inmitten eines stark bevölkerten Wohnviertels lag. Von der oberen Galerie eines Flügels aus führten die Insassen regelmäßig lautstarke Gespräche mit Freunden und Familienangehörigen unten auf der Straße.Am 14. Juli 1984 verabredete sich Vaccarizzi mit seiner Frau Antoinette, einer französischen früheren Sexarbeiterin, zu einem Gespräch auf der Galerie. Als er durch die Fenstergitter nach unten rief, legte auf dem Dach eines sechsstöckigen Wohnblocks auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein Mann ein Gewehr an. Zwei Kugeln trafen Vaccarizzis Kopf. Es war ein spektakulärer und hochprofessioneller Anschlag, über den in der lokalen Presse ausführlich berichtet wurde. Es kursierten Gerüchte, der Scharfschütze sei als Priester verkleidet gewesen, habe ein Elefantengewehr benutzt oder sei von einer Eliteeinheit der französischen Armee ausgebildet worden. Niemand weinte über Vaccarizzis Tod. Vaccarizzi, der den Spitznamen „der Teufel“ trug, hatte persönlich Leute brutal zusammengeschlagen und drei Rivalen ermordet. Nach seinem Tod verschwand seine Frau aus Spanien. Ihren Sohn im Teenager-Alter, der in L'Escala zurückgelassen worden war, nahm eine rivalisierende Mafiafamilie auf.Marisa erklärte Elvira und Ramón, warum sie die Zeitungsausschnitte all die Jahre aufbewahrt hatte. Vaccarizzi war Franzose und hatte den gleichen Vornamen (oder dessen französische Version) wie Ramón. Einige Geschichten, die die Kinder erzählten – von schnellen Autos und plötzlichen Reisen – deuteten darauf hin, dass ihre Eltern in Verbrechen verwickelt gewesen sein könnten. „Unsere Theorie war, dass ihr seine Kinder sein könntet“, sagte sie.Hatten die Eltern Verbindungen in die kriminelle Unterwelt?„Das hat mich umgehauen“, erinnert sich Elvira daran, wie sie die Vaccarizzi-Zeitungsausschnitte zum ersten Mal sah. „Aber alles schien möglich.“ Ich besuche Marisa, eine kleine, gepflegte 74-jährige Frau mit kurzen, kupferfarbenen Haaren, in der Wohnung, in der sie die Kinder großgezogen hat und in der gerade ihre drei Enkelkinder einen gemütlichen Nachmittag verbrachten. Sie erzählt, dass sie und ihr Mann sich sogar Sorgen gemacht hatten, dass Gangster nach den Kindern suchen könnten.Doch Ramón, der heute 44 Jahre alt ist und mit seiner Partnerin und seiner kleinen Tochter in der Nähe von Elvira lebt, schloss die Vaccarizzi-Theorie aus. Er hatte ein klares Bild von ihrem Vater als einem Mann mit „der Ausstrahlung eines Gewinners“ und fast weißem Haar. Als Kind hatte Ramón die Familie einmal mit der Bemerkung aufgeschreckt, dass ein hellhaariger Mann im Fernsehen „genauso aussieht wie unser Vater“. Der dunkelhaarige Vaccarizzi sah ganz anders aus. Obwohl 38 Jahre vergangen waren, akzeptierten alle Ramóns Urteil. Er war Elviras wichtigste Hinweisquelle.Abgesehen von den Ausschnitten und Ramóns Erinnerungen hatte Elvira nur die knappen offiziellen Papiere, in denen ihre Aussetzung registriert wurde. Ärzte und Betreuer beschreiben sie darin als normales, gesundes zweijähriges Kind, dessen einzige Eigenart darin bestand, dass es am liebsten quer in seinem Bett schlief. Die Dokumente sorgten für weitere Verwirrung darüber, ob die Kinder aus Frankreich oder aus Spanien stammten, da Ricards Name zunächst als Richard (französisch) und in späteren Dokumenten sowohl als Ricardo (spanisch) als auch als Ricard (katalanisch) angegeben wurde. In den offiziellen Papieren heißt es, die Kinder und ihr Vater hätten bei Denis, dessen Frau und deren Kindern gelebt, bevor sie am Bahnhof allein gelassen wurden. Ihre Mutter hatten sie damals demnach schon seit einiger Zeit nicht mehr gesehen. Sie erzählten dem Heimpersonal, ihr Vater habe behauptet, sie „liebe sie nicht mehr“.Obwohl sich die Geschwister einig waren, dass Vaccarizzi nicht ihr Vater gewesen sein konnte, schien Marisas Gefühl plausibel, ihre leiblichen Eltern könnten mit der kriminellen Unterwelt zu tun gehabt haben. Es passte zu einigen Erinnerungen der Kinder. Als ich Ramón in einer kleinen Penthouse-Wohnung in Barcelona besuche, erzählt er, dass er einmal in einem Haus, in dem sie wohnten, eine Pistole fand. Er und Ricard begannen auf einer Außentreppe damit zu spielen. Ramón richtete die Pistole auf seinen Bruder, drehte sich dann weg und drückte ab. Die Pistole prallte zurück, als er ein echtes Geschoss abfeuerte. Er beschreibt mit fotografischer Genauigkeit die Form der Treppe, die weiße Außenmauer und einen darunter liegenden Garten. „Mein Vater war furchtbar wütend“, sagt er.Ramón erinnert sich auch daran, wie sein Vater mit ihnen zu einem Restaurant am Strand fuhr und den Motor laufen ließ, während er hineinging. Ein paar Minuten später kam er mit einem blutenden, schlimm geschlagenen Gesicht zurück. „Ich erinnere mich an die Spannung im Auto, als wir wegfuhren“, erzählt Ramón. Ricard hat weniger Erinnerungen, aber auch sie sind lebendig: sein Vater, der den schwarzen Porsche oberhalb einer schwindelerregenden Klippe parkt; eine mit Holz verkleidete Pariser Wohnung mit Blick auf den Eiffelturm; ein Besuch bei seinem Vater in einem Krankenhauszimmer. Sie wirken wie Szenen aus dem Gangstermilieu eines französischen Film Noir.Die Erinnerungen ihrer Brüder, die darauf hinweisen, dass ihre Eltern in illegale Geschäfte verwickelt gewesen sein könnten, begannen Elvira zu beunruhigen. Wie blickt man in eine Welt, die so weit von der eigenen stabilen, gewöhnlichen Mittelklasse-Existenz entfernt ist? Trotz ihrer Nervosität sprach sie mit Ramón darüber, Hypnose einzusetzen, um an weitere seiner Erinnerungen heranzukommen. Aber Psychologen, die sie konsultierte, warnten, dass Hypnose falsche Erinnerungen produzieren oder echte vernichten könne. Elvira hatte das Gefühl, in einer Sackgasse gelandet zu sein, ein Gefühl, das in den kommenden Monaten, in denen sie ihre Suche fortsetzte, immer wieder auftauchen sollte.Im März 2021 brachte jemand aus ihrem Freundeskreis Elvira in Kontakt mit der katalanischen Radiostation RAC-1 und sie gab ein Interview, das für die Frühabend-Talkshow Islàndia aufgenommen wurde. Danach fühlte sie sich beschämt und bereute die Sache. Wer würde sich ihre Geschichte anhören wollen? Wollte sie wirklich, dass fremde Leute davon erfuhren? Sie bat die Sendung, den Beitrag zu streichen, aber man beruhigte sie und schickte ihr eine digitale Kopie. „Ich konnte es mir nicht einmal anhören“, berichtete sie. Auch das Radio schaltete sie nicht an, als um 19 Uhr am 21. März 2021 die Sendung begann.Elvira geht an die ÖffentlichkeitIn der Sendung erzählt Elvira ihre Geschichte ganz offen. Sie erklärt die düsteren Theorien über die kriminelle Vergangenheit ihres Vaters und bittet um Hilfe. Auch wenn Ramón nun involviert war, fühlt sie sich verloren und allein. Ich weiß nicht, was ich tun soll, sagt sie. Elvira besteht darauf, dass sie nicht böse auf ihre leiblichen Eltern sei. Vielmehr bedauert sie und wolle die mysteriöse Tragödie aufdecken, die sie vermutlich dazu veranlasst hatte, ihre Kinder zu verlassen.Ihr ist nicht klar, dass mehr als 150.000 Menschen in Katalonien die Sendung hören. Noch während der Sendung piept ihr Telefon wie verrückt. Menschen aus ihrer Vergangenheit, von der Arbeit und scheinbar von überall her schicken ihr Nachrichten, überraschte oder mit Fragen, warum sie nie davon erzählt hatte. Andere bieten ihr Hilfe an. Sie fühlt sich überwältigt. (Auch Marisa wird von Anrufen von Freunden, die zuhörten, überflutet. Ihr Blutdruck schießt in die Höhe, so dass sie dringend einen Arzt aufsuchen muss.)Viele Menschen in Barcelona kennen die Estació de França, in der Elvira und ihre Brüder zurückgelassen wurden. Die Hörer sind berührt von dem Bild der drei kleinen Kinder, die allein in der großen Halle zurückgelassen wurden, und sie wollen helfen. In den Wochen nach der Sendung wird aus Elviras privater Suche ein Crowdsourcing-Unternehmen. Freiwillige richten eine Facebook-Seite in spanischer und französischer Sprache ein, die Hobby-Detektive und Ahnenforscher anlockt. Tipps gehen in Massen ein. Die Leute melden sich bei Elvira mit wilden Theorien und falschen Hinweisen. (Ein früherer französischer Gefängniswärter behauptet zum Beispiel, er sei mit ihrem Vater in eine Bar gegangen, um während seiner Verlegung von einem Pariser Gefängnis in ein anderes Champagner zu trinken). Doch Elviras Geschichte ist bereits so dramatisch, dass selbst die bizarrsten Theorien möglich scheinen. Immer wieder werden ihre Hoffnungen geweckt und dann wieder zunichte gemacht.Placeholder image-2Es ist eine hektische, schwierige Zeit. Da es schwer zu beurteilen ist, wer vertrauenswürdig ist und wer nicht, verlässt Elvira sich auf eine neue Freundin, Montse Del Río, eine 51-jährige Gerichtsmedizinerin, die ihre Geschichte im Radio gehört hat. Del Río hat Erfahrung als freiwillige Helferin bei der Suche nach Angehörigen von neu entdeckten Opfern der Todesschwadronen aus dem spanischen Bürgerkrieg. Elviras Geschichte berührt sie sehr, und sie wird zu einer unermüdlichen Verbündeten und Beraterin, die mit Elvira reist, um Verwandte zu befragen und sie zu beruhigen, wenn sie sich frustriert oder enttäuscht fühlt. „Sie sagt mir immer, dass es eine lange Reise ist“, erzählt Elvira.Eine weitere freiwillige Helferin, die französischsprachige 54-jährige Amateurkriminologin Carmen Pastor, erzielt zwei Monate nach der Radiosendung den ersten Durchbruch. Elvira ist ihre erster Suche nach einer vermissten Person (mittlerweile sind andere dazugekommen) und sie ist vierzehn Stunden täglich damit beschäftigt. Sie bittet Elvira um die DNA-Ergebnisse und spürt hartnäckig entfernte Übereinstimmungen und deren Verwandte auf. Schließlich erzählt eine entfernte Verwandte einer Frau, die eine 1,4-prozentige Übereinstimmung mit Elvira aufweist, Carmen, dass ihr die Geschichte von drei vermissten Kindern bekannt vorkommt. Die Frau verspricht, mehr von einigen ihrer Verwandten herauszubekommen und sich wieder zu melden.Am 15. Mai 2021 ruft Carmen Elvira mit Neuigkeiten an. Es ist morgens und Elvira ist gerade auf einer 40.Geburtstagsfeier in einem Haus auf dem Land. „Ich glaube, wir haben einen Teil deiner Familie gefunden“, erinnert Elvira sich an Carmens Worte. Sie warte auf einen letzten Anruf, der es bestätigen würde, sagt sie. Für Elvira ist es der angespannteste Tag ihres bisherigen Lebens. „Ich stehe unter Schock“, schreibt sie Carmen. „Können sie es wirklich sein?“ Carmen selbst verbringt den Tag damit, Details zu klären. „Es war ein superstressiger Tag für mich, emotional aufgeladen, voller Spannung“, sagt sie.Am Abend hat Carmen die nötige Information. „Ich habe gerade mit deiner Cousine zweiten Grades gesprochen. Es gibt in der Familie drei vermisste Kinder und das Älteste heißt Ramón“, sagt sie Elvira. Wenn der Hinweis richtig ist, heißt ihr Vater also auch Ramón und ihr Mutter Rosario. Sie sind Spanier und kommen aus Sevilla beziehungsweise Madrid. Elvira fällt es schwer, diesen Informationen zu trauen – immerhin war sie immer davon ausgegangen, dass ihr Eltern Franzosen waren.An diesem Abend erhält Elvira einen Anruf von einer möglichen Cousine zweiten Grades namens Lorena. Wenn sie und Elvira wirklich verwandt seien, sagt Lorena, gebe es noch viele weitere Cousins, Tanten und Onkel, die sie kennenlernen wollten. Könnte sie mit einigen von ihnen einen Videoanruf machen? Elvira bricht in Tränen aus. Sie ruft Ramón an und sagt ihm, er solle sich auf einen Anruf vorbereiten. (Mit Ricard, der einen alternativen Lebensstil auf dem katalanischen Land führt und Mobiltelefone meidet, kann sie keinen Kontakt aufnehmen.) Es ist bereits Abend, als Elvira auf den Bildschirm ihres Telefons starrt und eine mögliche Cousine ersten Grades namens Mari sieht, die mit ihrer Mutter, Felisa, einer möglichen Tante mütterlicherseits, zusammensitzt. Sie sind 600 Kilometer entfernt, leben in einem Madrider Arbeitervorort und gehören zu einer früher umherziehenden und ausgegrenzten fahrenden Volksgruppe, den Mercheros.Die eigene Familie kennenlernenDas Gespräch verläuft schwindelerregend. Da Elvira nach etwas Konkretem sucht, an dem sie sich festhalten kann, hält Mari Fotos vor die Kamera. Elvira starrt auf sich selbst als Baby und ihre Brüder als kleine Kinder. Dann wird das Foto einer älteren Frau gezeigt. „Das ist die alte Dame mit der Milch!“, ruft Ramón aus. Es ist ihre Großmutter, Inés, die 2013 verstorben ist. Am beeindruckendsten für sie aber sind der Mann und die Frau, die sie auf anderen Fotos in Kinderwagen schieben, sie knuddeln, sie in die Luft werfen, sie füttern und mit ihnen auf Balkonen und an Stränden, in Parks und Autos sitzen, auch in dem graugrünen Jaguar, an den sich die Jungen erinnerten. Zum ersten Mal, seit sie ein Kleinkind war, erblickt Elvira ihre Eltern.Ihre Namen sind Ramón Martos Sánchez und Rosario Cuetos Cruz. Ramón wirkt elegant, mit einem breiten Lächeln und einem dicken grauen Haarschopf, der nach hinten gekämmt ist. Rosario ist eine auffallende dunkelhaarige Frau mit langem, in der Mitte gescheiteltem Haar und prägnanten, gleichmäßigen Gesichtszügen. Sie waren 34 und 35 Jahre alt, als ihre Kinder am Bahnhof abgesetzt wurden.Während des Telefonats wechseln sich Tränen und Freude ab. Elvira und Ramón sagen zu, am folgenden Wochenende mit Ricard nach Madrid zu kommen, um ihre neue Familie kennenzulernen. Sie haben den ersten Teil des Geheimnisses gelöst: Sie wissen, wer ihre biologischen Eltern sind. Die nächste Frage ist klar: Wo sind sie jetzt? Elvira hat gehofft, dass das ihre neuen Verwandten wissen würden, aber diese haben genauso wenig Ahnung wie sie selbst. Seit 1983 hatte niemand mehr von den beiden gehört.Am Tag nach dem Videogespräch mit Madrid spricht Elvira zum ersten Mal mit Angehörigen ihres Vaters in Sevilla. Ihr Vater war eines von sieben Kindern, von denen nur noch eines am Leben sind: Elviras Tante Luisa. Sie ist alt und sehr krank und stirbt, bevor Elvira sie treffen kann, nur zwei Tage nachdem sie erfahren hat, dass ihre Neffen und ihre Nichte gefunden worden sind „Sie war das Familienoberhaupt, sie hätte uns so viel erzählen können“, bedauert Elvira.Am nächsten Wochenende fahren Elvira und ihre Brüder nach Madrid, um die Familie ihrer Mutter zu treffen. Während des Besuchs und bei Gesprächen mit der Familie in Sevilla setzt Elvira einige der Puzzleteile aus ihrer Vergangenheit zusammen. Ihr Vater ist ebenso wie einer seiner Brüder zum Einbrecher geworden. (Später findet Elvira in einer Zeitung ihre Fahndungsfotos nach ihrer Verhaftung im Jahr 1973. ) Nach einer Schießerei mit der Polizei flieht er 1978 mit Rosario nach Frankreich. Zunächst wohnen sie bei seinen Verwandten in Paris, aber nachdem Rosario mit ihnen gestritten hat, zog das Paar in eine eigene Wohnung. Niemand kann sich an ihre Adresse erinnern.Elviras neue Verwandtschaft erinnert ihren Vater Ramón als clever, charmant, lebenslustig. Seine Familie in Sevilla ist extrovertiert, sie erzählen, in seiner Jugend habe eine Stimmung geherrscht, wie sie im Filmgenre „Cine quinqui“ festgehalten ist: Junge Habenichtse kämpfen in den 1970er-Jahre gegen die Armut, nur um am Ende tot, im Gefängnis oder heroinabhängig zu sein. In Frankreich stieg Elviras Vater in eine höhere Stufe der Kriminalität auf und handelte offenbar mit Falschgeld, Juwelen und anderen hochriskanten Waren. Die frühen 80er-Jahre waren eine Zeit spektakulärer Banküberfälle in Paris, und es scheint nicht ausgeschlossen, dass Elviras Vater an einigen von ihnen beteiligt war. Ihre Brüder erinnern sich an eine Schatulle mit glitzernden Steinen, ein Glas mit Münzen und daran, dass ihr Vater damit prahlte, ihr Zuhause sei wie die Fábrica de la Moneda y Timbre, die spanische Münzprägeanstalt.Kindheit in FrankreichDie ersten Versuche von Elviras biologischen Eltern, Kinder zu bekommen, scheiterten. Eine Wahrsagerin sagte Rosario, sie solle sich keine Sorgen machen. Es würden Babys kommen, und zwar schnell. In Frankreich brachte sie dann innerhalb von dreieinhalb Jahren drei Kinder zur Welt. Die Verwandten betonen, dass Rosario Ramón, Ricard und Elvira sehr geliebt hätten. Sie und ihr Mann hielten durch Briefe, Postkarten, Fotos und Telefonate ständigen Kontakt zu den Verwandten in Spanien, und die Kinder wurden gelegentlich nach Madrid zu Großmutter Inés geschickt. Doch im Mai 1983, fast ein Jahr bevor die Kinder zurückgelassen wurden, brach der Kontakt zu beiden Familienseiten ab. Gelegentlich rief eine französisch sprechende Frau in Madrid an und rief „Rosario“ und „Ramón“ in den Hörer, aber niemand sprach Französisch und die Anrufe hörten auf. Die Familien überlegten, sie als vermisst zu melden, aber sie vertrauten der Polizei nicht. Was, wenn Ramón and Rosario und ihre Kinder sich vor dem Gesetz versteckten? Die Familie in Madrid konsultierte eine weitere Wahrsagerin. Sie sagte, den Kindern gehe es gut, aber die Eltern seien an „einem dunklen Ort“.Ich treffe mich mit Elviras neuer Tante Felisa auf einen Kaffee in Madrid. Sie zeigt sich sehr erfreut, ihre Nichte und Neffen gefunden zu haben, aber ratlos angesichts der Frage, was mit ihrer Schwester Rosario geschehen ist. Rosario hatte ihre Schwester immer von französischen öffentlichen Telefonzellen aus angerufen. Während ihres letzten Telefongesprächs im Mai 1983 erklärte sie ihr, dass ihr Mann sehr krank sei. Das stimmt mit Berichten anderer Verwandter überein, nach denen er eine Zeit lang in einer Tuberkuloseklinik in der Nähe von Paris verbrachte. Lange hatte Felisa sich gesorgt, dass er gestorben sein könnte, was eine größere Tragödie ausgelöst haben könnte, die Rosario und ihre Kinder einschloss. „Ich dachte, es hätte sie vielleicht um den Verstand gebracht“, sagt Felisa.Jahrzehntelang hatte sich Elvira als Adoptivkind wohlgefühlt. Dennoch habe es immer einen Teil von ihr gegeben, der Fragen hatte. „War ich älter oder jünger, als ich dachte? Sogar so etwas Albernes wie: Was ist mein richtiges Sternzeichen?“ In Ermangelung von Geburtsurkunden wurde das Alter der Kinder geschätzt. Ihre Geburten wurden in Spanien am Namenstag eingetragen – am 25. Januar 1982 für die heilige Elvira. Da die Namen der Eltern nun bekannt waren, fanden freiwillige Ahnenforscher in Frankreich Elviras Geburtsurkunde. Sie ist am 29. Dezember 1981 in Paris geboren.Elvira war begeistert, nicht zuletzt, weil die Geschwister vorhatten, gemeinsam zu einem Tätowierer zu gehen und sich einen Eiffelturm tätowieren zu lassen. Wären sie woanders geboren, wäre das ein Fehler gewesen. „Ich habe ja gesagt, sie sollen sich keine Sorgen machen! Wir sind aus Paris!“ Der Eiffelturm wurde dreimal gestochen. Die anderen beiden Geburtsurkunden kamen kurz darauf an und bestätigten, dass alle drei in Paris geboren sind, wenn auch jeweils mit einer anderen Adresse. Ricard musste sieben Monate zu seinem Alter hinzuaddieren, Ramón zwölf Wochen. „Das richtige Datum herauszufinden, rührte mich zu Tränen“, erzählt Ramón.Elvira weiß, dass sie bei Marisa und Lluís ein besseres Leben hatte, als sie es bei ihren leiblichen Eltern hätte erwarten können. „Ich wäre anders aufgewachsen, hätte eine andere Persönlichkeit und andere Werte entwickelt, wenn ich bei ihnen gewesen wäre.“ Rosario hatte eine dunkle, harte Seite. Jemand erzählte, sie habe selten gelacht. „Ich glaube, sie hatte ein hartes Leben, das noch dadurch erschwert wurde, immer auf der Hut oder auf der Flucht zu sein“, meint Elvira. Sie sieht Rosario nicht als eine der Mafia-Ehefrauen, die zu Hause bleiben und sich von den kriminellen Machenschaften ihres Mannes fernhalten. Wenn Elvira sich ausmalt, dass sie ihre Eltern findet, stellt sie sich vor, wie sie mit ihrer Mutter sprechen würde. „Ich würde sie immer noch gern fragen: Wie war meine Geburt für dich?“, erzählt sie. „Andere Leute wissen solche Sachen.“Ihr Vater schien umgänglich und beliebt zu sein, aber auch er hatte dunkle Seiten. Sein eigener Bruder hatte sich von ihm distanziert, weil er Rosario schlug. Außerdem war er ein Frauenheld. Ramón erinnert sich an eine Art Mutprobenspiel mit Ricard. Der Vater hatte die Jungs vor einer Tür warten lassen, hinter der er mit mehr als einer Frau zusammen war. Welcher der Jungen würde sich trauen, anzuklopfen?Was ist mit den Eltern passiert?Elviras leibliche Eltern waren nicht immer leicht zu bewundern, wenn man die Regeln zugrunde legt, nach denen sie erzogen wurde. „Für mich ist meine Mutter die Person, die mich großgezogen hat“, sagt sie. „Aber es gibt auch noch etwas anderes Wichtiges, etwas Genetisches, eine Blutsverbindung, wie ich sie mit meinen Brüdern habe.“ Sie will immer noch wissen, warum ihre Brüder und sie verlassen worden sind. Die Fotografien zeigen eine enge, glückliche Familie. Was ist schiefgegangen? Elvira hofft, dass ihre Eltern sie vor einer noch größeren Gefahr hatten schützen wollen. Bevor er verschwand, hatte ihr Vater einem Cousin erzählt, dass er kurz davor war, einen großen Raub oder ein großes Geschäft abzuwickeln. Hatte er sich übernommen? Oder hatten er und Rosario sich vielleicht versöhnt, eine Gefahr erkannt und waren weit weg geflohen?Es gibt auch andere, verstörendere mögliche Szenarien. Ramón könnte Rosario getötet haben. Das Paar könnte von einer rivalisierenden Gang ermordet worden sein oder bei einem Unfall während eines Jobs gestorben und heimlich beerdigt worden sein. Es gibt viele Möglichkeiten, wie der schlaue, fantasievolle Geist ihres Vaters – immer auf der Suche nach dem nächsten Trick – ihn in Schwierigkeiten gebracht haben könnte.Paris war der letzte Ort, von dem Elvira weiß, dass ihre Eltern dort gelebt hatten. Es bietet sich daher an, die Suche dort fortzusetzen. Im März 2022 verbringen Marco und sie ein Wochenende in der französischen Hauptstadt und ich begleite sie.Wir haben uns einige Tage zuvor in Barcelona kennengelernt. Elvira erzählt mir, dass einige ältere spanische Barbesitzer in Paris, denen französische Freiwillige Fotos ihres Vaters gezeigt hatten, behaupten, ihn zu erkennen. Als wir uns in Paris treffen, ist sie ganz aufgeregt, weil sie bestätigt hatten, dass sie ihren Vater wiedererkannt hatten. Aber als ich am nächsten Tag mit den beiden Barbesitzern spreche, bin ich überzeugt, dass ihre Erinnerungen falsch oder unzuverlässig sind. „Ich könnte den Vater gestern auf der Straße gesehen haben“, sagt der 71-jährige Arturo Sánchez achselzuckend, als wir in den Korbstühlen eines Cafés Kaffee trinken.Mir wird klar, dass es Elviras Fluch ist, dass ihr die Leute unbedingt helfen wollten, auch wenn sie nichts zu bieten hatten. Sie trägt ein Foto bei sich, das aufgenommen wurde, kurz nachdem die Geschwister ausgesetzt worden waren. Die drei unschuldig aussehenden Kinder, die in die Kamera starren, bringen Herzen zum schmelzen. Elviras Sehnsucht nach Antworten und ihre Besorgnis vor dem, was diese Antworten enthüllen könnten, spornen die Menschen an, ihr Hoffnung zu machen.Elvira und Marco müssen nach Barcelona zurückfliegen, bevor sie die Adresse auf Elviras Geburtsurkunde im Norden der Stadt besuchen können. Ich mache mich auf die Suche und nehme ein Foto aus dem Jahr 1982 mit, das Rosario in Schlaghosen und mit einem turbanartigen Kopftuch zeigt, wie sie mit der kleinen Elvira in einer Gasse steht. Anwohner zeigen mir den Weg zu einem Gassengewirr, in dem die kleinen Häuser heute mit Überwachungskameras ausgestattet sind. Ramón erinnert sich daran, dass er vor einem Brunnen spielte, der aus einer Mauer sprudelte, die sich von ihrem Haus aus gleich um die Ecke befand. Ein Mann, der am Ende einer Gasse seinen Garten fegt, zeigt auf ein Haus gegenüber. „Sie hatten einen Wandbrunnen im Garten“, erzählt er. „Aber es wurde umgebaut, und der Brunnen ist nicht mehr da.“ Das scheint Ramóns sehr exaktes Gedächtnis zu bestätigen. Es ist genau dort, wo er es in Erinnerung hatte.Mangels anderer Hinweise werden Elvira und Ramón den Gedanken nicht los, dass der katalonische Strandort L’Escala, mit seiner Geschichte als Versteck für französische Gangster wie Vaccarizzi Teil ihrer eigenen Geschichte ist – selbst wenn es Vaccarizzi selbst nicht war. Hatte ihr Vater mit den Gangs zusammengearbeitet? Hatte Denis dort gelebt, bevor er sie nach Barcelona brachte und am Bahnhof zurückließ? (Sie hatten keine weiteren Hinweise zu Denis, doch Ramón erinnert sich, dass er sehr eng mit seinem Vater befreundet war. Er vermutet, dass er der Mann ist, der mit goldenen Ketten und Armbändern behängt auf einem Foto neben Ramón senior auf Fotografien von Ferien in Belgien abgebildet ist.) Ramón erinnert L’Escala auch an den sonnigen, mediterranen Küstenort, den er mit dem Pistolen-Vorfall in seiner Kindheit verbindet.Placeholder image-3Mitte September führt mich der örtliche Hotelbesitzer Jordi Jacas durch den Ort. Unter den gebrechlichen weißhaarigen Männern und Frauen, die auf den Bürgersteigen einen späten Morgenaperitif oder Kaffee trinken, seien frühere Schmuggler, Auftragskiller und Call-Girls, sagt er. Ich spreche mit oder schicke Nachrichten an vier frühere Gangster, die alte Kollegen anrufen, die heute in Lyon leben, wohin viele französische Mafiosi gezogen sind. Die Angesprochenen wissen entweder nichts, erinnern sich nicht oder wollen nicht sagen, dass sie Elviras Vater oder Denis kannten. Manche reagieren ungehalten, insbesondere wenn sie denken, man verdächtige sie, drei kleinen Kindern geschadet zu haben.Drei Wochen später kehre ich mit Elvira und Ramón nach L’Escala zurück, um die Tochter eines früheren französischen Mafiabosses zu treffen. Die Geschwister wollen wissen, ob ihre Geschichte ihr irgendwie bekannt vorkommt. Das tut sie nicht, aber die Frau zeigt großes Mitgefühl. „Ich weiß, wie es ist, in einer solchen Familie aufzuwachsen“, sagt sie. Ihr in Panik geratener Vater schickte sie und ihren Bruder einmal eilig aus L'Escala weg, weil ihn Gerüchte befürchten ließen, eine rivalisierende Bande wolle die beiden entführen. Bevor wir aufbrechen, betont Ramón noch einmal, dass ihm der Ort bekannt vorkommt. „Es sind die Häuser“, sagt er, und zeigt auf die hübschen Villen.Ende Oktober fahre ich mit Elvira von Sevilla, wo sie ihre neue Familie besucht hat, nach Tarifa, der Stadt an Spaniens südlichstem Punkt. Dort lebt die 90-jährige Tante ihres Vaters. Manola wohnt zusammen mit einer ihrer erwachsenen Enkelinnen und einem kleinen, lustigen Hund in einem Teil eines früheren Bauernhofs mit Blick auf die Straße von Gibraltar, mit klarer Sicht auf die marokkanische Küste, die von Tarifa nur 14 Kilometer entfernt liegt. Es ist das erste Treffen Elviras mit ihrer Großtante und eine bewegende Begegnung. Unter Tränen staunt Manola darüber, wie sehr Elvira einer verstorbenen Schwester ihres Vaters Ramón ähnelt. Die alte Dame erzählt Geschichten über seine temperamentvolle Art und davon, wie er einmal aus seiner Gefängniszelle entkam. Manchmal kommt es zu kleinen Pausen im Gespräch, während Großtante und Großnichte sich an den Händen halten.„Einmal hat deine Mutter mich geschlagen“, sagt Manola plötzlich. Elvira hatte schon von Rosarios jähzornigem Temperament und ihrer herrischen Art gehört. „Auch andere haben sie als schlechte Frau bezeichnet“, gibt sie zu und zitiert weitere Verwandte väterlicherseits. Als ich sie später frage, ob sie besorgt ist, dass ihre Eltern bösartig gewesen sein könnten, nimmt Elvira sie in Schutz. „Ich habe mich das schon selbst gefragt, aber dann schaue ich auf die Fotos von meinem Vater, der mit uns spielt, und denke: Ein echter Mistkerl macht das nicht; sich so mit den Kindern im Gras wälzen.“ Sie meint, es könne aus vielen Gründen dazu kommen, dass gute Menschen schlechte Dinge tun. „Man kann gleichzeitig ein Taschendieb und ein wundervoller Mensch sein.“Die Suche hat Elvira verändert. War sie anfangs unsicher, ist sie jetzt fest entschlossen weiter zu graben. „Eins, was mich das gelehrt hat, ist Geduld“, sagt sie. „Ich bin eigentlich nicht gut darin, zu warten.“ Gleichzeitig fragt sie sich manchmal, ob sie sich nicht zu sehr von der Suche hat gefangen nehmen lassen. „Ich habe eine Arbeit, Familie, Freunde. Das kann man nicht einfach alles ignorieren und sich nur dieser Sache widmen.“ Einer ihrer Söhne, der die Geschichten über die Kindheit seine Mutter gehört hatte, habe begonnen, sich Sorgen zu machen, verlassen zu werden. „Ich sage ihm, dass mir etwas Einzigartiges passiert ist, und es ihm nicht passieren wird.“ Die unbekannte Lücke füllenBeim Abendessen in Sevilla, am selben Tag, an dem wir Manola kennenlernen, fällt mir auf, wie gut Elvira in diesen Zweig ihrer neuen Großfamilie passt. Rosa-Mari und Ana, zwei Cousinen zweiten Grades im gleichen Alter wie Elvira, die als Lehrerin beziehungsweise Sozialarbeiterin arbeiten, sind mit ihren Kindern da, ebenso wie Elviras Cousine ersten Grades Manoli, eine 55-jährige Flamenco-Tänzerin. Im Sommer hat Elvira mit ihren Kindern bei der Familie in Sevilla Urlaub gemacht. Sie hat sich mit Rosa-Mari, Ana und Manoli angefreundet, und die vier Frauen chatten nun gelegentlich per Videoanruf miteinander. Kürzlich erzählte mir Elvira, dass sie untröstlich war, als sie hörte, dass Manoli Spanien verlassen will, um in Japan Flamencotanz zu unterrichten, der dort sehr beliebt ist.Das Gefühl der Leichtigkeit und Verbundenheit, das Elvira erlebt, als sie Zeit mit ihrer Familie in Sevilla verbringt, vermittelt ihr den Eindruck, dass die Biologie, verglichen mit der Erziehung, doch mehr Einfluss auf einen Menschen hat, als sie gedacht hatte. Warum hatte sie schon immer Flamenco gemocht, eine Musik, die ihren katalanischen Freunden und ihrer Familie so fremd war? Warum ist Ramón begeistert von jeder Art von Tanz, bei der die Füße Percussion-Arbeit leisten – sei es Stepptanz oder der donnernde Fersen- und Spitzentanz des Flamencos? „Euer Vater liebte Flamenco. Im Autoradio hatte er immer Flamencomusik laufen“, hatte Tante Felisa erzählt.Die 965 Kilometer, die den Südwesten Sevillas von Barcelona im Nordosten trennen, sind mehr als nur geografisch. Laut dem – oft übertriebenen – Klischee sind die Katalanen ernst und geschäftsorientiert, während die Andalusier fröhlich, feierfreudig und abergläubisch sind. Elvira fühlt sich in der aufgeschlossenen, gesprächigen und liebevollen Familie ihres leiblichen Vaters und in Sevilla zu Hause, auch wenn sie den lispelnden andalusischen Akzent nur schwer verstehen konnte. All das ändert nichts an der engen Beziehung zu ihrer Familie in Katalonien. Aber die neuen Verwandten und die Entdeckung ihrer biologischen Wurzeln füllen eine Lücke, von der sie nicht gewusst hat, dass sie existiert. „Ich fühle mich vollständiger.“Elvira sehnt sich weiter danach, zu erfahren, was mit ihren leiblichen Eltern geschehen ist. Ramón und Rosario müssten jetzt Mitte 70 sein. Wären sie noch am Leben, würden sie sicher im Internet nach ihren Kindern suchen. Sie nahmen nie Kontakt auf. Elvira weiß, dass das bedeutet, dass sie wahrscheinlich tot sind – vielleicht getötet von Gangstern, die wissen, wie man Menschen verschwinden lässt. Aber das hält sie nicht davon ab, sich vorzustellen, dass sie noch da draußen sind.Als Elvira klein war und Marisa nach ihren leiblichen Eltern fragte, bekam sie immer eine Antwort im Sinne von: „Du kannst dich glücklich schätzen. Du hast zwei Mütter, zwei Väter und zwei Familien, in Paris und Barcelona.“ Wenn ihre leiblichen Eltern jemals auftauchen würden, versicherte Marisa, würden sie alle gut miteinander auskommen. Das war eine gute Methode, um ein verunsichertes Kind zu beruhigen, aber es zeigte sich auch, dass es der Wahrheit sehr nahekommt. Elvira versteht sich wirklich gut mit ihrer leiblichen Familie. Ihr Horizont hat sich durch die Reisen, um Zeit mit ihnen zu verbringen, erweitert. Da ihr Vater sechs und ihre Mutter acht Geschwister hatten, gibt es Cousins und Cousinen, die Elvira noch gar nicht getroffen hat. Das hat sie vor, aber das Geld für Reisen ist knapp. „Vielleicht muss ich das nach und nach tun, während die Kinder heranwachsen, und mich dann danach voll damit beschäftigen.“Einige Spuren sind auch noch nicht bis zum Ende verfolgt. Die Versuche, an Polizeiakten über die Auffindung der Kinder und die kriminelle Vergangenheit ihres Vaters heranzukommen, sind bisher gescheitert. Montse del Rio geht aber davon aus, dass Elvira bald Zugang zu diesen Akten erhalten wird. Der Erfolg, den sie durch Crowdsourcing bei ihrer Suche hatte, und die bereitwillige Hilfe von Freiwilligen ermutigen Elvira weiterzumachen. Die Freundlichkeit von Fremden, insbesondere die ihrer Adoptiveltern, spielte in ihrem Leben immer eine entscheidende Rolle. Die vergangenen beiden Jahre bestätigen sie in ihrem Glauben an diese Freundlichkeit. Sie hofft, dass sie ihr helfen kann, auch die letzte offene Frage zu beantworten: Was mit ihren Eltern passiert ist.Als ich Elvira Anfang März in Marisas Wohnung das letzte Mal sehe, planen Ramón und sie einen neuen Besuch von L’Escala. Sie wollen mit weiteren Leuten sprechen, die die Gangster-Zeit der Stadt miterlebt haben. „Man weiß nie, wann jemand im Gespräch etwas von Bedeutung fallen lässt“, erzählt Elvira. „Es ist schon passiert und es kann wieder passieren.“
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