Durch die Blume

Porträt David LaChapelle prägte mit seinen Modefotos und Porträts die Bildsprache großer Magazine. Dann zog er sich zurück, um Kunst zu machen. Warum fotografiert er nun Blumen?

Das Gespräch beginnt mit Verspätung. David LaChapelle schläft noch. Er sei erst am Vortag von seinem Wohnort auf Maui, der Nachbarinsel von Hawaii, nach London geflogen, sagt seine Assistentin – der Jetlag. "Aber wir arbeiten dran." LaChapelle ist Pressearbeit auch nicht mehr gewöhnt. Vor sechs Jahren gab der Starfotograf seinen Rückzug aus der Modebranche bekannt, um sich auf Kunstfotografie zu konzentrieren. Seitdem hat er sich sehr rar gemacht. In London ist er nun, um eine Ausstellung zu eröffnen.

Nach einer halben Stunde kommt er zur Tür herein und entschuldigt sich überschwänglich. Er hasse es, unpünktlich zu sein. "Ich bin keine Diva", sagt er. Er muss es wissen, hat er doch mit einer Menge Diven zusammengearbeitet. In seiner Zeit als einer der bedeutendsten Mode- und Magazinfotografen der vergangenen 20 Jahre hat er alle großen Stars vor der Linse gehabt und dabei Hunderte theatralisch inszenierte, semi-surrealistische Bilder gemacht. Während Fotografen wie Annie Leibovitz ihre Motive in erster Linie gut aussehen lassen wollen, ging es bei LaChapelle um mehr. Es ging ums Konzept.

Er hat den Rapper Tupac Shakur als Sklave auf einem Baumwollfeld fotografiert und Britney Spears für das Cover des Rolling Stone Magazine als moderne Lolita aufgetakelt. Michael Jackson ließ er mit riesigen Engelsflügeln auf einem sich windenden roten Teufel stehen, den HipHopper Kanye West zeigte er als Jesus mit Dornenkrone. „Ich habe versucht, die Vorstellung von Jesus vor den Fundamentalisten zu retten“, sagt er heute über dieses Bild – als sei dieser Anspruch für einen Modefotografen selbstverständlich. Er hat Hillary Clinton, Paris Hilton, Lady Gaga, Madonna, Pamela Anderson und David Beckham fotografiert. Man nannte LaChapelle den „Fellini der Fotografie“.

Als er Whitney Houston ablichtete, erzählt er, habe er "gewusst, dass sie auf Koks war. Sie konnte ihr Gesicht nicht stillhalten. Ich fotografierte und fotografierte und irgendwann hatten wir dann ein Bild". Wenige Tage vor unserem Gespräch ist Houston gestorben. Wohl deshalb denkt er zuerst an sie – und auch, weil er gerade für eine Ausstellung zum Thema Sterblichkeit wirbt. Die besteht aus opulent inszenierten Fotografien von Blumen-Stillleben. Bei näherer Betrachtung erkennt man, dass die Blumen von zeitgenössischen Gegenständen umgeben sind – von brennenden Zigaretten, Barbiepuppen, alten Handys.

So viele Tote

Über diese starken Bilder spricht LaChapelle wenig. Stattdessen sinniert er darüber, dass das Leben so vieler Menschen, mit denen er gearbeitet hat – von Michael Jackson über Amy Winehouse und den Modedesigner Alexander McQueen bis hin zu seiner Muse, der Stylistin Isabella Blow –, ein frühes Ende gefunden hat. Von McQueen und Blow, die er zu seinen engen Freunden zählte und die sich im Abstand von drei Jahren das Leben nahmen, hat er 1996 ein beeindruckendes Bild gemacht, das heute als Teil der britischen Ikonensammlung in der National Portrait Gallery hängt.

Er ist noch nicht einmal 50 und fühlt sich schon als Überlebender. Er hat in den 1980ern die Aids-Epidemie in New York miterlebt. Nachdem sein Ex-Freund Luis an der Krankheit gestorben war, hatte er jahrelang Angst, sich testen zu lassen. Heute trägt er die Buchstaben L-U-I-S in verblichenem Grünschwarz auf die Finger der rechten Hand tätowiert. „Das ist aber die Erinnerung an einen anderen Luis“, sagt er. „Mein Manager, mit dem ich 17 Jahre lang zusammengearbeitet habe, bis er 1999 im Studio an einem angeborenen Herzfehler starb.“ Er war damals 34.

Und es scheint kein Ende in Sicht. LaChapelle sagt, dass seine Mutter gerade eine Chemotherapie gegen Blutkrebs mache. Vor zehn Jahren ist sein Vater an Hautkrebs gestorben. „Ich dachte immer, meine Mutter würde ewig leben – allein schon, weil sie so sehr auf sich achtgab. Sie ist Vegetarierin, hat Sport gemacht und – Herrgott, was war sie für eine Arbeiterin. Sie hat in einer Fabrik, einem Restaurant und einem Pflegeheim gearbeitet. Sie hat ohne fremde Hilfe drei Kinder großgezogen, gekocht und ihre eigenen Sachen genäht.“

Als er neun war, zog die Familie aus Connecticut ins konservative North Carolina. Mit 15 verließ er die Schule, weil er wegen seiner Homosexualität schikaniert wurde. Schließlich zog die Familie zurück nach Connecticut. „Ich ging in Cowboyklamotten zur Schule“, erinnert er sich – die anderen Jungs beschmissen ihn mit Milchtüten. Irgendwann wurde es so schlimm, dass er daran dachte, sich umzubringen. „Ich besorgte mir Beruhigungsmittel und Alkohol und wollte mir die Pulsadern aufschneiden.“ Abgehalten habe ihn der Gedanke, dass er mit einem Selbstmord das Leben seiner Eltern zerstören würde.

Also ging er nach New York und mogelte sich ins Studio 54, wo Cowboykostüme gerade der letzte Schrei waren. Nach seiner Ausbildung an einer Kunstschule bekam er seinen ersten Job bei Andy Warhols Interview-Magazin. Abends hing er mit Keith Haring und Jean-Michel Basquiat rum. Nach Interview ging er zum Details-Magazin. Vor Kurzem, erzählt er, habe er eine Liste gefunden, auf der er als Teenager aufgeschrieben hatte, wen er später unbedingt einmal vor die Kamera kriegen wollte. „Ich glaube, ich habe jeden bekommen.“

Leicht fiel ihm das allerdings nicht. Er sagt, er habe die Tendenz, zu viel zu arbeiten. Er leide an einer bipolaren Störung und neige zu manischen Arbeitsanfällen und Schlaflosigkeit. „Das prägt mich. Und auf eine gewisse Art möchte ich es auch nicht missen.“ Vor einigen Jahren musste er deswegen sogar in eine Klinik zwangseingewiesen werden. Derzeit aber habe er sein Leiden im Griff: „Sport ist meine Zauberwaffe. Und manchmal brauche ich Medikamente.“ Besonders das Reisen bereite ihm Probleme, „weil manische Anfälle von Schlaflosigkeit ausgelöst werden können“. Mehrmals schweift er im Gespräch in halb-philosophische Diskurse ab, in denen man ihn kaum unterbrechen kann. „Ich komme noch drauf zurück, was Sie mich gefragt haben“, versichert er inmitten eines zehnminütigen Monologs. Die Gesprächsnotizen lesen sich später wie die Gliederung einer Esoterikvorlesung: Taoismus, Religion, Jesus, Tod, Geburt, Adam und Eva, Zellteilung.

Solche Gedanken mögen überraschen angesichts des Vorwurfs der Oberflächlichkeit und des Materialismus, der seinen Bildern früher gemacht wurde. Hat ihn das geärgert? „Damals schon, ein bisschen – und manchmal auch mehr als ein bisschen. Aber wenn ich nun zurückblicke, erkenne ich eine Veränderung. Die Leute sehen heute Dinge in meiner Arbeit, die sie früher nicht gesehen haben. Mit etwas Abstand kann man erkennen, dass es in den Fotografien um die Entscheidungen ging, die Amerika zu dieser Zeit getroffen hat – aber nicht auf eine verurteilende Weise, sondern mit Humor und Schönheit.“

Mit Bildern wie Death by Hamburger (2001), auf dem eine Frau von überdimensioniertem Fast Food plattgedrückt wird, oder I Buy a Big Car for Shopping (2002), auf dem eine riesige Coladose ein Auto zertrümmert, sorgte er für Aufsehen. Subtile Bildsprache ist das nicht unbedingt. Dafür erreichte er mit diesen Bildern sehr viele Menschen. Die Kritik an LaChapelles Arbeiten ist allerdings oft von der Vorstellung getrieben, Popularität und künstlerischer Anspruch würden nicht zusammengehen.

Er selbst sagt, er wolle „zeigen, was in meinem Kopf vorgeht. Das Paradox des Konsums, diese Dekadenz. Es wird die Vorstellung verkauft, mit dem nächsten Kauf, der nächsten schwer zu kriegenden, irrsinnig teuren Handtasche käme das Glück“.

Jahrelang war LaChapelle außerordentlich gefragt. Nachdem er Musikvideos für Elton John, Jennifer Lopez und Christina Aguilera gedreht hatte, wagte er sich auch an Filme. Die Dokumentation Rize über einen Tanzstil namens Krumping, der in den härtesten Gegenden von Los Angeles entstanden war, feierte beim Sundance Festival Premiere.

Mit der Zeit fiel es ihm allerdings zunehmend schwerer, seine künstlerischen Bedürfnisse mit den Zwängen der kommerziellen Realität in Einklang zu bringen. „Es wurde wirklich schwer, veröffentlicht zu werden. Meine Konzepte überforderten die Magazine.“ Im Juni 2005 machte er für die italienische Vogue Aufnahmen, bei denen die Models vor einem post-apokalyptischen Hintergrund aus zerfallenen Häusern und Sandsäcken posierten. Er habe sich damals Gedanken über Umwelt und Erderwärmung gemacht, es schien ihm eine natürliche Weiterentwicklung.

Doch als das Magazin im August gedruckt wurde, war der Hurrikan Katrina über New Orleans hereingebrochen. „Die Redakteurin rief mich an und sagte: ‚David, warum hast Du das gemacht? Bitte, das ist zu viel. Zeig einfach nur die Kleider! Die Leute denken doch, bei den Bildern gehe es um den Hurrikan.‘ Sie hatte Angst, sie würde Protestbriefe erhalten. Auf einmal wusste ich, dass das die letzte Fotostrecke für ein Magazin gewesen sein würde.“

Aber der Abschied fiel ihm auch nicht ganz leicht. „Ich liebe Mode, Schönheit, Glamour. Sie sind Zeichen der Zivilisation“, sagt er. „Wir benutzen die Mode, um unser Ansehen zu steigern und uns schön zu machen. Daran ist nichts Schlechtes. Wenn es aber völlig aus dem Gleichgewicht gerät, lebt man ein dekadentes Leben. Und wenn das auf globalem Maßstab geschieht, leben wir in einer dekadenten Welt.“

Rückzug nach Maui

Nachdem ihn Freunde darauf aufmerksam gemacht hatten, dass er in elf Monaten keinen einzigen freien Tag gehabt hatte, setzte er sich hin und machte Inventur. Während eines Shootings für Motorola kaufte er dann eine ehemalige Nudistenkolonie in Maui, Hawaii. Die Vorstellung, inmitten der Natur zu sein, gefiel ihm. „Es handelt sich um einen sehr abgeschiedenen Teil von Maui, wirklich weit draußen.“ Eine Zeit lang probte er „kalten Entzug“. „Ich nahm keine Anrufe mehr entgegen. Es gibt da eine kleine Stadt mit einer Tankstelle und einem Gemischtwarenladen, von wo aus man telefonieren konnte. Von dort aus rief ich meine Mutter und einen Freund an.“

Trotz der Beschwörungen seines Assistenten, jetzt zum Ende zu kommen, setzen wir das Gespräch noch auf dem Weg zu LaChapelles nächster Verabredung im Wagen fort. Er springt weiter von Thema zu Thema. Er erzählt von der fünf Tage dauernden Hochzeitsfeier von Christina Aguilera in Napa Valley und bemerkt, dass das Programm zur automatischen Tonhöhenkorrektur bei Audio-Files den Tod echter Musik bedeute. Was ist denn dann mit der digitalen Bearbeitung von Fotos? Ist das nicht genau das Gleiche? „Nein, wenn ich fotografiere, muss das Bild zuerst da sein. Außerdem wurden Bilder schon immer bearbeitet“, antwortet er entschieden. „Richard Avedon retuschierte alle seine American-West-Porträts. Ich könnte ein Bild von Ihnen machen und es zurechtschnippeln, damit es ein bestimmtes Aussehen kriegt. Für mich muss das Bild aber trotzdem immer zuerst da sein. Wenn Sie sich einige der Filme auf meiner Internetseite ansehen ...“

Er schweift wieder vom Thema ab. Als wir beim Restaurant ankommen, sieht sein Assistent ängstlich auf die Uhr. LaChapelle redet und redet. „Hey, wollen Sie mit zum Essen kommen?“ Ich kann nicht, sage ich. Ich muss noch zu einem anderen Interview. „Rufen Sie einfach an und sagen Sie, dass Sie sich verspäten“, sagt er und grinst wie ein kleiner Junge. Ich bitte um Entschuldigung und er besteht darauf, mir wenigstens seine Handynummer zu geben, damit ich ihm sagen kann, was ich von seiner Ausstellung halte.

Er geht auf den Tisch zu, an dem um ein weißes Tischtuch herum eine Gruppe schwarzgekleideter Menschen auf ihn wartet. Ich sehe ihn mit seinem Hut und seinem Holzfällerhemd. So richtig ins Bild passen will er nicht.

An seinen Fotos werde man in hundert Jahren noch "die Bigotterie einer rauschhaften Popkultur" ablesen können, schrieb ein Kritiker über die Magazinbilder David LaChapelles. Mit pompös inszenierten, oft übersexualisierten Gruppenfotos und ausgeflippten Star-Porträts prägte LaChapelle die Bildsprache großer Magazine in den Neunzigern und den Nullerjahren entscheidend.


Geboren wurde er 1963 in Connecticut. Als Kind fotografierte er früh zusammen mit seiner Mutter. In den Achtzigern schlug er sich als Kunststudent in New York durch. Er stellte sich Andy Warhol mit einer Mappe vor, in der sich Aktfotos von Highschool-Freunden befanden. Andy sagte great. Aber Andy sagte zu allem great, was man ihm zeigte, erinnert sich LaChapelle. Dennoch brachte ihm der Kontakt den ersten Job ein. Er begann, für Warhols Interview-Magazin zu arbeiten.


Zu Beginn fotografierte er fast nur in Schwarzweiß. In den Neunzigern veränderte er seine Bildsprache dann weg vom einfachen Fotografieren hin zur Schaffung durchkomponierter, im Studio gebauter Bilderwelten. Der ironisch-kritische Subtext seiner Bilder sei aber oft nicht verstanden worden, sagte LaChapelle später. Seit seinem Rückzug aus der Mode- und Magazinbranche greift er für seine Fotos immer wieder kunsthistorische Traditionen auf und interpretiert sie neu in der Serie The Earth laughs in Flowers kombiniert er etwa klassische Blumenstillleben mit Objekten wie Handys oder Plastikflaschen. jap

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Übersetzung: Zilla Hofman/Holger Hutt
Geschrieben von

Elisabeth Day | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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