Steinhäuser kauern halb versteckt zwischen Apfel- und Pflaumenbäumen. Die Türen sind eingetreten, die Wände von Flammen versengt. In diesem kleinen alawitischen Dorf gibt es kaum ein Haus, das nicht geplündert wurde. Die meisten stehen leer. „Bis gestern haben da noch drei Familien gewohnt“, sagt eine junge Sunnitin und zeigt auf das Nachbarhaus. „Jetzt ist keiner mehr übrig, kein einziger.“ Das Dorf liegt am Hang über einem Fluss. Vor vier Wochen ist sein Wasser über die Ufer getreten. In den Bäumen hängende Plastiktüten und Flaschen lassen erahnen, wie hoch die Flut war, der ein steiler Talhang wenig anhaben konnte. Die Straßen sind noch voller Schlamm, darin die Fußspuren der Angreifer, die der Flut folgten und das Hochwasser an Schrecken weit übertrafen. An eine Wand wurden mit Holzkohle auf arabisch drei Wörter geschrieben: Jabhat al-Nusra.
Noch vor drei Monaten hatten die Menschen im Süden Syriens nichts mit dieser Organisation zu tun. Noch konnte sich Jabhat al-Nusra nicht in ihre Köpfe eingraben. Es handelte sich bestenfalls um ein weit entferntes Feindbild, von dem keine Gefahr auszugehen schien. Dann aber begannen Anfang Februar Einheiten der Rebellen eine Offensive, mit der sie weiter nach Süden und in Richtung der Städte Latakia und Tartus drängten, die nach einem inzwischen zwei Jahre dauernden Bürgerkrieg noch immer von regierungstreuen Truppen gehalten werden. „Bei diesen Gefechten sahen wir sie zum ersten Mal“, sagt Mahmud Darwisch über die Jabhat al-Nusra, die von vielen Aufständischen auch schlicht „al-Qaida“ genannt wird. „Zunächst verhielten sie sich ruhig und respektvoll. Aber sie töten erbarmungslos jeden alawitischen Kämpfer, den sie sich greifen können.“
Beginn eines Verhörs
Bis Dezember noch war die Stadt Darkush zweigeteilt: der Norden unterstützte die Opposition, der Süden die Regierung Assad. Die Front verlief durch geplünderte und verlassene Gebäude. Doch das ist vorbei, nun gibt es dort den Sammelpunkt für die bevorstehende Schlacht in den südlich gelegenen Bergen. Viel spricht dafür, dass sich damit das Schicksal von Syriens kosmopolitischem Herzen entscheidet. Alle Rebellenführer bereiten sich nach eigener Aussage darauf vor, in diesem Raum von der Regierung gehaltene Städte anzugreifen. Auch die Kommandeure von Jabhat al-Nusra rekrutieren Kombattanten. Manche von ihnen werden in den Wohnungen oder Häusern geflüchteter Alawiten in der Nähe von Darkoush einquartiert. Andere stoßen nach Süden vor, zur Front nahe Latakia.
Al-Nusra-Kämpfer gefallen sich in der Rolle eines Phantoms, das überall und nirgendwo zugleich ist. Dem es so immer wieder gelingt, die Armee zu überrumpeln. Zwischenzeitlich sind die al-Qaida-Freischärler sichtbar wie nie zuvor in diesem Bürgerkrieg. Ich treffe bei Darkush einen der Dschihadisten, der überrascht ist, weil er hier keinen Fremden erwartet hat. Sein Kopf ist in einen schwarzen Turban gehüllt, über der Brust trägt er eine Kalaschnikow, so kommt er über eine löchrige Straße auf mich zu und bleibt misstrauisch stehen. Entschlossen mustert er mich von Kopf bis Fuß, atmet tief ein und fragt: „Was ist hier los?“
Sein Englisch mit amerikanischem Akzent ist ebenso erstaunlich wie der Umstand, dass der Mann überhaupt in dieser Gegend stationiert ist. Zusammen mit ungefähr 20 Mitgliedern seiner Gruppe ist er in einem Haus gleich neben dem Hauptposten der Rebellen in der Region untergekommen. Seine erste Bemerkung oder Frage war weniger als Eisbrecher gedacht, sondern ist vielmehr der Beginn eines Verhörs. 40 Minuten lang versucht er, manchmal auf furchteinflößende, manchmal auf charmante Weise zu erfahren, wo ich herkomme und warum ich in den Süden, nach Jabal al Kurd, unterwegs sei, jene gigantische Hochebene oberhalb von Latakia und Tartus (s. Karte).
Die Region hat eine lange islamische Geschichte, die von einer Tradition der Koexistenz verschiedener Glaubensrichtungen geprägt ist. Vor etwa 800 Jahren nutzte Salah al-Din – ein Kurde, den Europäer besser unter dem Namen Saladin kennen – diese Berge und Täler, um sich auf den Kampf gegen die Kreuzfahrer vorzubereiten. Aus dem heutigen Nordirak folgten ihm Kurden und siedelten sich in dieser Gegend ebenso an wie später christliche und alawitische Gemeinden.
Schiiten und Ketzer
Der al-Nusra-Mann bietet mir Tee an. „Sie teilen meine Weltanschauung nicht“, sagt er. „Aber Sie sind aus humanitären Gründen hier.“ Dieses Urteil kommt einem Reisepass gleich. „Wo ist Ihre Schutzweste? Wir sind vor Gott verpflichtet, alles zu tun, Sie zu schützen“, sagt er und deutet auf meine Tarnjacke. So beginnt eine Tour nach Süden. Steile Klippen säumen den ersten Abschnitt der Straße, bald folgen tiefe smaragdgrüne Schluchten, durch die das blaue Wasser der Flut strömt. Auf den Spitzen der Hügel tauchen vereinzelt Dörfer auf wie graue Kleckse vor grünem Hintergrund. Hinter einer Kurve ragen auf einer Anhöhe Kreuze empor.
Hier lag das christliche Dorf Jdeida, kaum ein Haus hat den Granaten-Beschuss überstanden, als vor Wochen die Rebellen angegriffen haben. Eine einzige Familie hält es in der Ortschaft noch aus. „Wir haben keine andere Wahl, als zu bleiben“, sagt ein älterer Mann, offenbar der Familienvater. „Heute gibt es zum ersten Mal seit einer Woche keinen Beschuss mehr. Wie haben tagelang kein einziges Mal die Sonne gesehen oder im Garten gesessen.“
Eine Frau pflückt Orangen vom Baum in der Mitte des Hofes und bietet sie auf einem Silbertablett an. Ihre wohl 90-jährige Mutter lehnt an einer Steinmauer. Ihr linkes Auge scheint von einer chronischen Infektion entzündet zu sein, aus dem rechten fließen Tränen. „Wir haben niemanden mehr, mein Sohn“ stößt sie zwischen Seufzern hervor. „Wir sind zu alt für so etwas. Bitte lass es enden.“ Aber keine Seite will im Kampf um die Hochebene nachgeben. Weiter oben auf dem Berg steht die Kirche, gleichfalls leer und verbarrikadiert. Einen Teil des Kirchenschiffs hat eine Granate zerrissen. Aber der Glockenturm hat den Sturm unbeschadet überstanden. Von dort oben zeigen mir die Rebellen das nächste Ziel auf ihrem scheinbar unaufhaltsamen Zug nach Süden: die Stadt Yaccubiya soll es sein.
„Wir haben ein großes Problem mit Yaccubiya“, sagt Abu Ghaith, der Chef des örtlichen Militärrates. „Diese Christen sind unsere Freunde. Wir leben schon lange mit ihnen zusammen und respektieren sie. Doch das Regime hat Waffen in die Kathedrale von Yaccubiya gebracht. Wir wollen sie nicht angreifen, aber es wird uns nichts anderes übrig bleiben.“ Grau-violetter Rauch von mindestens einem Dutzend Zigaretten wabert durch das Zimmer des Militärrates. Auf dem Boden sitzen zehn Männer im Schneidersitz. Es sieht so aus, als duckten sie sich immer weiter unter dem herabsinkenden Rauch. Schließlich öffnet jemand ein Fenster und lässt eine Ladung eiskalter Luft herein. „Wir haben die Autoritäten der Christen befragt“, sagt der Kommandeur, als der Rauch sich lichtet. „Wir haben sogar die Priester im Norden gefragt, was wir tun sollen. Einer gab uns die Erlaubnis, die Stadt anzugreifen, ein anderer sagte, wir sollten es nicht tun. Wir brauchen jemanden, der uns einen Rat gibt. Wird der Westen mit uns darüber sprechen?“
Tags darauf sind die Vorbehalte der Rebellen bezüglich Yaccubiyas ausgeräumt. Die Freie Syrische Armee (FSA), die sich als Dachorganisation für alle Rebellengruppen außer al-Nusra fühlt, erklärt in einem Kommuniqué, Yaccubiya sei gefallen. „Gott sei Dank wurde die Kirche nicht beschädigt“, seufzt Kommandeur Abu Ghaith. „Wer dort verschanzt war, hat sich abgesetzt.“
Überall finden sich Spuren der Flucht von Regierungstruppen. Entlang einer Schnellstraße in der Nähe eines anderen christlichen Dorfes mit dem Namen al-Ghassaneyah sind zahlreiche Gräber für Soldaten der syrischen Armee ausgehoben, die offenbar in der Schlacht um dieses Gebiet gefallen sind.
An Kontrollpunkten, die noch vor Kurzem zum Verteidigungsring von Latakia gehörten, stapeln sich verkohlte Waffen. In den christlichen und alawitischen Dörfern der Kampfzone ist niemand zurück- oder übrig geblieben. Die Al-Nusra-Kämpfer hätten die Häuser geflohener christlicher Familien nicht geplündert, sagt Abu Ghaith. „Die behandeln sie mit Vorsicht. Mit den Alawiten hingegen machen sie, was sie wollen.“ Der Hass auf die alawitische Minderheit Syriens, zu der auch Baschar al-Assad gehört, lässt sich unter den Rebellen der Region nur schwer zügeln. Während Nicht-Dschihadisten die Alawiten wegen ihrer Nähe zum Regime verachten, hat die Abneigung bei Jabhat al-Nusra religiöse Gründe.
„Für sie sind das Schiiten und Ketzer“, sagt ein Kämpfer der Rebellen, der sich Abu Hamza nennt und neben einer Schlachterei am Straßenrand steht. „Ich bin von hier und habe dennoch nie Alawiten kennengelernt. Sie sind immer unter sich geblieben. Sie leben sehr abgeschottet.“
Bibel, Koran, Thora
Hamza trägt seinen Bart im Stile der Salafisten, schwarz und lang und ohne Schnauzer. „Die Leute denken oft, ich sei von al-Qaida“, lacht er. Dann greift er in die linke Brusttasche seiner Munitionsweste und holt eine Bibel heraus. „Die ist für dich“, meint er. „Ich habe einen Koran in meiner rechten Tasche, und ich will mir noch eine Thora besorgen“, fährt er fort und deutet auf eine leere Tasche an seiner Hüfte. „Diese Gegend wurde auf den Religionen des Buches aufgebaut, und das wird auch so bleiben, so Gott will.“
Als ich meine Reise fortsetze, sind aus einem von Rebellen gehaltenen Dorf jenseits eines Gebirgskamms unweit der Städte Jabal al Kurd und Latakia Panzergranaten zu hören. Familien fahren in zerbeulten und mit Tüten voller Habseligkeiten beladenen Autos langsam auf der verlassenen Schnellstraße in Richtung Norden.
Es ist schon fast Nacht, als ein Fahrer anhält, um mich nach dem Weg zu fragen. An seinem Rückspiegel hängt ein Kreuz. „Fürchte dich nicht, mein Bruder“, sagt mir ein bärtiger Rebell ins Gesicht. „Gott ist ebenso mit dir, wie er mit uns ist.“ Er blickt auf seine Füße hinab. „Wenn die Menschen nach unserem Sieg zurückkommen, wird es wieder so sein wie zuvor. Aber wir können die Dinge hier nicht schlimmer werden lassen, als sie bereits sind ...“
Martin Chulov ist Nahost-Korrespondent des Guardian Übersetzung: Holger Hutt
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