Ehe, der Schatten

Biopic Tim Burton liefert mit „Big Eyes“, der Geschichte der Malerin Margaret Keanes, sein reifstes Werk seit langem ab
Ausgabe 17/2015

Einmal erzählte mir Tim Burton, die Idee zu der Totenkopffigur Jack Skellington aus seinem Film The Nightmare Before Christmas von 1993 gehe wahrscheinlich darauf zurück, dass er als Trickfilmzeichner bei Walt Disney stundenlang rehäugige Kreaturen zeichnen musste. Während der Arbeit an Filmen wie Cap und Capper träumte Burton von einer Figur, die einfach überhaupt keine Augen hat, sondern nur große, klaffende schwarze Höhlen. Dass Skellingtons hohläugiger Kopf genauso ausdrucksstark ist wie die Disney-Figuren mit den allergrößten Augen, sagt viel über Burtons Talent, dort Pathos und Zauber zu finden, wo man beides nicht vermutet.

In Burtons jüngstem Film Big Eyes über die unglaubliche Geschichte der amerikanischen Malerin Margaret Keane (siehe Porträt im Freitag 51/2014) sind die Rehaugen schwarz. Von Ende der 50er bis in die 60er Jahre hinein waren Keanes Gemälde von unglücklich blickenden Kindern, deren Gesichter von übergroßen „Fenstern zur Seele“ dominiert werden, eine Sensation, verkauften sich wie verrückt und erlangten einen skurrilen Kultstatus. Doch Keane erhielt keine Anerkennung für ihre Arbeit. Ihr extrovertierter Ehemann Walter drängte sie zu der Lüge, es wäre die seine. Nachdem das Paar sich getrennt hatte, kam es zu einer gerichtlichen Auseinandersetzung. In einer Verhandlung in Honolulu sollten beide vor Zeugen beweisen, wer der wahre Künstler hinter diesem „unendlichen Kitsch“ war – eine unglaubliche Farce.

Das Drehbuch zu Big Eyes stammt von Scott Alexander und Larry Karaszewski, die bereits für Burtons Meisterwerk Ed Wood (1996) verantwortlich zeichneten, zu dem der neue Film erstaunliche Parallelen aufweist. Am offensichtlichsten ist, dass beide von Künstlern handeln, deren Arbeit bei der Kritik durchfiel: Wood wurde als „schlechtester Filmemacher der Welt“ bekannt, die Keane-Gemälde wurden unter anderem von New-York-Times-Kunstkritiker John Canaday verrissen (arrogant gespielt von Terence Stamp).

Noch wichtiger ist, dass beide mit ihren Protagonisten liebevoll und einfühlsam umgehen – eine Qualität, die weitere Biopics von Alexander und Karaszewski wie etwa Larry Flynt – Die nackte Wahrheit auszeichnet, das den Pornografen als einen Helden der Redefreiheit porträtiert. So wie Ed Wood aus Burtons liebevollem Film als ernsthafter Cineast hervorgeht, der seine Inspiration von Orson Welles bezog, wird Margaret Keane als echte Künstlerin dargestellt, deren Seele sich in den schwermütigen, verweinten Gesichtern ausdrückt, die sie auf Druck ihres Gatten mit immer größerer Geschwindigkeit ausstoßen muss. Wir werden nicht aufgefordert, die Bilder selbst ins Herz zu schließen – der Film enthält sich einer Aussage über ihren künstlerischen Wert. Es geht lediglich darum, die Aufrichtigkeit Keanes anzuerkennen.

Amy Adams gelingt es als Keane hervorragend, Sympathien zu erwecken. Ihre leicht verschreckte Art lässt auf eine Mischung aus intuitivem Elan und empfindsamer Verletzlichkeit schließen, die körperlichen Manierismen haben etwas Vogelhaftes an sich. Sie wirkt, als würde sie ihre Umgebung stets genau beobachten, um jederzeit sofort davonrennen zu können, falls etwas sie zu sehr erschrecken sollte. Das steht in starkem Gegensatz zu Walter, den Christoph Waltz mit weitaus gröberen Pinselstrichen als Karikatur eines Schufts anlegt, der in seiner Verderbtheit einem Märchen entsprungen sein könnte. Anfangs charmant (auch wenn sein strahlendes Lächeln sofort den Psychopathen erkennen lässt), wird Walter schnell zu einem herrschsüchtigen Ungeheuer, das, besessen von der Legende seiner eigenen Genialität, die Frau zwingt, eine Lüge zu leben.

Trotz der gut dokumentierten Egomanie seiner Figur (die gegenüber dem Life-Magazin einmal erklärte: „Niemand kann Augen malen wie El Greco, und niemand kann Augen malen wie Walter Keane“) ist man ist versucht, Waltz der Übertreibung zu bezichtigen. Es lässt sich schwer sagen, wo die beginnt. Tatsächlich sind die absurdesten Szenen während des Showdowns im Gerichtssaal, auf den das Drama sich hin entwickelt, alle dokumentiert. An anderen Stellen scheint der Film in einer verdrehten Märchenwelt zwischen Wirklichkeit und Fiktion zu spielen. Während die pastellfarbenen Ansichten des gartenzaunbewehrten Amerikas am Anfang an die spießige Kulisse von Edward mit den Scherenhänden (1990) denken lassen, wirkt Margaret Keane später im Film wie eine in einem Elfenbeinturm gefangene Prinzessin und Walter rast wie ein tobendes Biest.

Abgesehen von den stets wiederkehrenden visuellen und erzählerischen Schrullen Burtons, macht sich Big Eyes Gedanken über größere Fragen der Autorenschaft (Walter hat bis zu seinem Tod an der Behauptung seines Genies festgehalten), die Vorstellung von „guter“ und „schlechter“ Kunst und der Rolle der Kritik. Darüber hinaus zeichnet er das faszinierende Porträt einer Frau, die zunächst erduldet, was ihr angetan wird, dann aber gegen eine Welt rebelliert, in der Männer in allen Sphären die Oberhand haben – im Haus, im Beruf, in der Kunst. Bei aller ihrer Absonderlichkeit handelt es sich letztlich um die alltägliche Geschichte einer Frau, die in einer chauvinistischen Umwelt ihre eigene Stimme findet, die Fesseln ihrer Ehe ablegt, die ihr zum Gefängnis geworden ist, um alleine ins Rampenlicht zu treten.

Nach den aufgeblasenen und zweifelhaften Filmen Alice in Wunderland und Dark Shadows erfreut es zu sehen, dass Burton auf vertrautes Terrain zurückgekehrt ist. Trotz Waltz’ Geschnaufe und Gekeuche ist dem Filmemacher mit Big Eyes sein reifster Film seit Big Fish (2003) gelungen.

Info

Big Eyes Tim Burton USA/KAN 2014, 106 Min. Mark Kermode ist Filmkritiker des Observer

Übersetzung: Holger Hutt

Der digitale Freitag

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Geschrieben von

Mark Kermode | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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