Wie schon bei der Revolte in Tibet vor 16 Monaten war auch diesmal wieder nur ein einziger Funken nötig, ein brandgefährliches Material zu entzünden, das sich in Jahrzehnten ethnischer Spannungen aufgestaut hat. Der Tod zweier Uiguren bei einer Auseinandersetzung zwischen Arbeitern in einer kantonesischen Fabrik im Süden Chinas vor über einer Woche könnte dieser Funken gewesen sein.
Als die Gewalt in Ürümqi im der entgegengesetzten Ecke im Norden Chinas nicht mehr zu zügeln war, befand sich ein Korrespondent des Guardian gerade auf der ersten für westliche Medienvertreter veranstalteten Rundfahrt durch die Hauptstadt des Autonomen Gebiets Xianjiang, was darauf hindeutet, dass die Ereignisse ebenso plötzlich wie unerwartet eintraten. Es ist unklar, wie mehr als 160 Menschen zu Tode kamen – die wahrscheinlichste Theorie ist aber, dass eine friedliche Demonstration in einen blutigen Aufruhr umschlug. Unbeteiligte Zuschauer und Fahrgäste eines Busses wurden mit Messern und Knüppeln angegriffen. Die Mehrheit der in den örtlichen Krankenhäusern behandelten Opfer waren Han-Chinesen, es befanden sich aber auch Uiguren und Angehörige anderer Minderheiten unter ihnen. Derartige Gewaltausbrüche können nicht hingenommen werden, besonders, da es sich bei den meisten Opfern offenbar um Zivilpersonen handelt, die sich zu falscher Zeit am falschen Ort aufhielten. Ebenso wenig kann die Verantwortung ausschließlich separatistischen Organisationen wie der Islamischen Bewegung Ostturkestans zugeschrieben werden.
Gebet am Arbeitsplatz
Jahrzehnte kultureller Assimilation sind vergangen, in der es zu einer massiven Einwanderung von Han-Chinesen in die in die öl- und gasreiche Region kam, in der Muslime ursprünglich eine Mehrheit bildeten. Es gibt heute Poster an den Moscheen in Xianjiang, die warnen, wenn Pilger als Einzelperson nach Mekka reisten, begingen sie ein Verbrechen. Aber auch das harte Vorgehen gegen islamische Bekleidung und die Intoleranz gegenüber dem Gebet am Arbeitsplatz – all dies schürt Unmut, der sich in Gewalttaten Bahn brechen kann. Zu behaupten, Unruhen diesen Ausmaßes, die über Hunderte Kilometer von einer Stadt in eine andere überspringen, seien das Werk von Außenstehenden – etwa dem Weltkongress der Uiguren (WUC) in den USA, der dort von einer exilierten uigurischen Geschäftsfrau geleitet wird – bedeutet nichts anderes, als das Ausmaß des Problems zu verleugnen und eine Lösung zu verschleppen.
Unbequeme Wahrheiten
Gelöst werden muss es aber. Mit jedem Jahr wird die Kluft zwischen Chinas vermeintlicher globaler Führungsrolle (in ökologischer oder weltwirtschaftlicher Hinsicht) und dem innenpolitischen Selbstbild als Entwicklungsland (das Pro-Kopf-Einkommen ist in 100 anderen Ländern höher) größer. Gebt uns Zeit, heißt es beständig. Doch China hat diese Zeit nicht. Ob die Schauplätze nun Tibet oder Xinjiang heißen – die chinesischen Behörden sollten anfangen, ein paar unbequeme Wahrheiten anzuerkennen, auf die Repression die falsche Antwort ist.