Ein Klavier auf dem Dach

Universitäten Das MIT in Boston gilt als Ideenfabrik - und das seit 150 Jahren. Ausflug an den so etablierten wie verrückten Ort, dessen Genialität wahrhaft augenfällig ist

Yo-Yo Mas Cello ist vielleicht nicht der offensichtlichste Startpunkt für eine Reise in eine der bedeutendsten Universitäten der Welt. Aber sobald man das Massachusetts Institute of Technology (MIT) betritt, wird klar, dass an diesem Ort ohnehin ziemlich wenig so ist, wie man es sich vorstellt. Da steht mitten in einem der Laboratorien eine britische rote Telefonzelle. Ein anderer Raum ist als „Lego-Lernlabor – lebenslanger Kindergarten“ ausgeschildert. Und das Cello des Star-Cellisten Yo-Yo Ma gehört zum Projekt „Oper der Zukunft“: Es steht in einer Ecke des berühmten Media Lab des MIT, einer Hochburg der technologischen Kreativität. Geleitet wird das Opera Lab von Tod Machover, einem Renaissancemenschen des 21. – vielleicht auch des 22. – Jahrhunderts, einem Komponisten, Erfinder und Lehrer, der mit zehnminütiger Verspätung ins Büro rauscht, was erstaunlich ist, weil Machover seine Uhr 20 Minuten vorgestellt hat – in dem offenkundigen Bemühen, pünktlich zu sein. Sofort eilt er weiter durch den Raum, um das Cello vorzuführen.

Mit seinem stabilen Holzkörper und der Klinkenbuchse wirkt es wie jedes andere elektronisch verstärkte klassische Instrument. Aber Machover nennt es ein „Hyperinstrument“, eine Art denkende Maschine, die es Yo-Yo Ma ermöglicht, mit dem Cello zu interagieren, gemeinsam mit ihm Musik zu machen. Das Instrument verfügt dafür über zahlreiche Sensoren an Körper, Bund und entlang des Bogens. Indem diese den Druck, die Geschwindigkeit und den Winkel des Bogenspiels messen, kann es die emotionale Stimmung des Virtuosen interpretieren, sich auf sie einlassen und ganz außergewöhnliche neue Klänge erzeugen. Yo-Yo Ma spielt auf seinen Tourneen rund um die Welt häufig auf dem Instrument.

Als Machover das Instrument entwickelte, fand er heraus, dass der Klang durch Mas Hand verzerrt wurde, da sie den aus dem Bogen fließenden elektrischen Strom aufnahm. Was aber, wenn man das umkehren würde? Wenn man die Elektrizität, die aus dem Körper des Künstlers fließt, kanalisieren und in Musik verwandeln würde? Mit dieser neuen Idee bewehrt, entwarf Machover ein interaktives System für den Musiker Prince, mit dem der Star allein durch Berührungen und Gesten eindringliche Klänge erzeugen konnte. Später kamen zwei von Machovers Studenten im Media Lab auf die Idee, mit der Technologie ein interaktives Spiel zu gestalten und entwickelten die Konsolenspiele Rock Band und Guitar Hero.

Von Mas Cello über Prince bis zu einem der populärsten aller je entwickelten Videospiele, all das geht zurück auf die Leidenschaft, an Grenzen zu rütteln, das menschliche Potenzial zu erweitern und zu entfesseln. Das ist auch insgesamt keine schlechte Beschreibung für das MIT. Diese Gemeinschaft, von Boston aus auf der anderen Seite des Charles River gelegen, vereint talentierte, hoch motivierte Individuen in ihrem gemeinsamen Wunsch: Sie wollen ins Dunkle springen und nach dem Unbekannten greifen.

Drang in die Moderne

Die Ergebnisse dieser vereinenden Ambition umgeben die Menschen alltäglich und überall. Das Telefon, Elektromagneten, Radar, Hochgeschwindigkeitsfotografie, Büro-Kopierer, Krebstherapien, Taschenrechner, Computer, das Internet, die Entschlüsselung des menschlichen Genoms, Laser, Raumfahrt … die Liste der Innovationen, zu denen das MIT und seine Wissenschaftler einen entscheidenden Beitrag geleistet haben, geht weiter und weiter. Und mit eben diesem Drang in die Moderne hat das MIT keine geringe Rolle für den Aufbau der globalen Dominanz westlicher Gesellschaften, vor allem der USA, gespielt.

Wenn das Institut in diesem Monat seinen 150. Geburtstag begeht, erscheint es so, als hätten die Vereinigten Staaten die Hilfe des MIT nie zuvor mehr gebraucht als jetzt. „Es gibt in diesem Land einen starken Zynismus, was die Rolle der Wissenschaft betrifft, das wirkt hemmend auf alle Beteiligten und ist für dieses Land verheerend“, sagt die Präsidentin des MIT, Susan Hockfield. Während 85 Prozent der Studierenden am MIT Ingenieurswissenschaften lernen, sind es in den USA insgesamt nur 15 Prozent. Das macht das kreative Machtzentrum der Welt verletzlich und die Aufgabe des MIT umso wichtiger.

Vom Augenblick seiner Gründung 1861 durch den Naturphilosophen William Barton Rogers an stand fest, was das MIT nicht war. Es war nicht wie die anderen Institutionen flussaufwärts. Während die Harvard University am englischen Oxbridge-Modell der klassischen Bildung festhielt, orientierte sich das MIT am deutschen System des Lernens durch Forschung und praktische Experimente. Wo Harvard dem Privileg der Geburt den Vorzug gab, kämpfte das MIT für Meritokratie und setzte sich für die Industrie ein.

Symbiose von Intellekt und Handwerk

Dieser bodenständige Charakter wurde im Motto des Instituts – mens et manus, Kopf und Hand – festgeschrieben, ebenso im Wappen, das einen Gelehrten im Gewand zusammen mit einem Schmied samt Hammer und Amboss zeigt. Bis heute erfüllt die Symbiose von Intellekt und Handwerkskunst die Unterrichtsräume des In­stituts, in denen die Studierenden weniger unterrichtet werden, als dass man sie beteiligt und inspiriert. Ein bekannter Film zum Beispiel dokumentiert, wie der angesehene Physiker Walter Lewin das Verhältnis einer oszillierenden Metallkugel zur deren Masse erklären will. Mitten im Experiment klettert Lewin höchstselbst auf die Kugel und beginnt, in einem hohen oszillierenden Bogen durch den Vorlesungssaal zu schwingen – als trete er auf dem Broadway als Spider-Man auf.

Das Motto von Kopf und Hand ist eben Teil der am MIT herrschenden Vorstellung, dass Theorie und Praxis zusammengehören; keine ist der anderen überlegen, und beide sind gemeinsam stärker. Diese Überzeugung wird vom bescheidensten Studenten genauso vertreten wie von den Nobelpreisträgern des Instituts (es sind bisher 50).

Nehmen wir etwa den 21-jährigen Christopher Merrill, der seit drei Jahren Computerwissenschaften studiert: Er investiert den größten Teil seiner Zeit in einen Robotik-Wettbewerb. Die Studenten sollen herausfinden, wie man am effektivsten einen Roboter, der in weniger als zehn Minuten ein Haus aus Blöcken baut, programmieren kann. Merrill sagt, dass er sich für die naheliegende Lösung hätte entscheiden können, einen simplen Roboter, der das Haus eben schnell baut. Aber er wollte versuchen, in ein bislang noch weithin unerschlossenes Gebiet der Künstlichen Intelligenz vorzudringen: die Anpassungsfähigkeit. Die Fähigkeit des Roboters, seine Pläne zu überdenken, wenn sich die Umgebung ändert, so wie es ein Mensch tun würde.

Auf spektakuläre Weise erfolgreich

Merrill plant jetzt schon für das Start-up, das er gründen will, wenn er in einem Jahr seinen Abschluss macht. Er will seine Idee für eine neue Art von Kontaktlinse umsetzen. Sie soll die Realität erweitern, indem sie ihrem Träger zusätzliche visuelle Informationen anbietet. Merrill fürchtet allerdings, er könne sein Konzept womöglich zu spät auf den Markt bringen. Dann gehörte er zu den vielen MIT-Absolventen, deren junge Firmen scheitern.

Es kann aber ebenso sein, dass Merrill zu jenen Absolventen zählt, die auf spektakuläre Weise erfolgreich werden. Und davon gibt es viele. Eine Befragung von MIT-Absolventen ergab, dass sie 25.800 Firmen gegründet haben, die heute mehr als drei Millionen Menschen beschäftigen, darunter gut ein Viertel aller Mitarbeiter im Silicon Valley. Diese Firmen erzeugen globale Erträge von etwa 1,9 Billionen US-Dollar im Jahr. Wäre das MIT ein Land, hätte es das elftgrößte Bruttoinlandsprodukt weltweit. Ed Roberts, Professor für Technologische Innovation und Unternehmergeist am MIT, beschreibt den Geist, der hinter diesem Erfolg steckt, so: „Wenn Sie eine brillante Idee haben, ist das okay. Wenn Sie für Ihre Forschung einen Nobelpreis gewinnen, ist das gut. Aber wenn Sie ihre Idee anwenden und etwas Transformatives hervorbringen, dann wird das am MIT zutiefst bewundert.“ Wohl unvermeidlich haftet diesem Ort deshalb auch etwas Nerdiges an, das sich in einer geschätzten Tradition spiegelt – dem Studenten-Hack. Wobei „Streich“ es wohl etwas besser beschriebe.

In der Mensa kann man zwei der legendären MIT-Hacks sehen – einen Polizeiwagen, der auf die Spitze der großen Kuppel des Instituts balanciert wurde, und einen voll funktionsfähigen Feuerhydranten, der in einer der Eingangshallen steht. Dann gibt es noch den Baker House Piano Drop, eine jährliche Institution, seit Studierende 1972 erstmals ein Klavier aus einem Schlafraum im sechsten Stock fallen ließen, um die Energie zu messen, mit der das Instrument auf dem Pflaster zerschellt. So etwas klingt verrückt. Aber es ist technisch äußerst schwierig und setzt viel Fantasie und Einfallsreichtum voraus.

Das MIT hat sich zum Ziel gesetzt, große Geister aus vielen Disziplinen zusammenzubringen. Da gibt es das funkelnde neue David-Koch-Institut für Integrative Krebsforschung, das Wissenschaftler, Ingenieure und Kliniker unter seinem Dach versammelt. Oder die Energie-Initiative, die als Brücke zwischen allen fünf Schulen dient und gewaltige Ressourcen in die Suche nach einer Lösung für den Klimawandel bündelt. Sie arbeitet an der Verbesserung der Effizienz von bestehenden Energiequellen, darunter die Kernenergie, und verfügt über einen eigenen Atomreaktor, eine wenig bekannte Tatsache, deren sich das MIT lieber nicht brüstet. Sie kommt aber auch mit alternativen Energien voran, von Solar zu Wind und Geothermie und hat jüngst den Einsatz von Viren zur Synthetisierung von Batterien entwickelt, der für die Weiterentwicklung von Elektroautos entscheidend sein könnte.

Selbsterfüllende Prophezeiung

Auch der britische Erfinder des World Wide Web, Tim Berners-Lee, ist Teil des globalen braindrains in Richtung MIT. Berners-Lee verband die Hypertext-Sprache 1989 mit dem Internet, damals arbeitete er beim Cern in Genf. Doch dann merkte er, dass ihm nichts anderes blieb, als den Atlantik zu überqueren. Was hat das MIT, das europäische Institute ihm nicht bieten konnten? „Es hat diesen überragenden Ruf, der eine sich selbst erfüllende Prophezeiung ist. Obwohl mein Kopf meistens mit Details der Webtechnologie befasst ist oder ich durch die Welt reise, treffe ich hier in den Fluren immer wieder Leute, die in anderen faszinierenden Feldern arbeiten. Das hält mich geistig lebendig.“

Berners-Lee läuft durch die verschachtelten Flure des Stata Centre des MIT, das von Frank Gehry entworfen wurde. Es hat eine klassische Gehry-Struktur, aus gewelltem, poliertem Stahl und fallenden Blöcken aus gebürstetem Aluminium. Nachdem er ein Gewirr aus Gängen durcheilt hat, bleibt Berners-Lee an der Tür von Noam Chomsky stehen. Es ist bezeichnend für diesen wilden Ort: Der Erfinder des Web rennt durch das Werk eines Titanen der modernen Architektur zu einem der führenden Linguisten und Kriegsgegner der Welt.

Auch Chomsky ist in Eile. Er hat einen Bühnenauftritt mit dem Kronos-Quartett, es ist die Weltpremiere eines neuen Musikstückes, das ihm gewidmet wurde. Der Komponist? Tod Machover, der Entwickler des Yo-Yo-Ma-Cellos. Es erscheint als Paradox, dass Chomsky als führender Kritiker der gewaltigen militärischen Macht der USA seit den fünfziger Jahren ausgerechnet an einer Institution angestellt ist, die zentral an der Errichtung genau jenes florierenden militärisch-industriellen Komplexes beteiligt war, gegen den der Sprachwissenschaftler so scharfsinnig opponiert. Das MIT war lange führend in militärischer Forschung und Entwicklung und wurde durch hohe Summen vom Pentagon gefördert. Während des Kalten Krieges entwarfen die Forscher hier zum Beispiel immer ausgeklügeltere Lenksysteme für Raketen, die auf Moskau gerichtet waren. „Die Leute verstehen nicht“, sagt Chomsky, „dass die Rolle des Pentagon weitgehend darin bestand, Technologien für die Zukunft zu entwickeln. Es gab dabei einige seltsame Sachen. Dieses Gebäude war eines der Zentren des Widerstandes gegen den Krieg, zu 100 Prozent vom Pentagon finanziert. Aber das war ihm gleich.“

Was sagt das über das MIT?

„Ich war mir selbst überlassen. Andere Leute nahmen sich frei, um ihren Geschäften nachzugehen; ich für meine Anti-Kriegs­aktivitäten. Niemand erhob jemals Einwände. Das MIT ist ein sehr freier und offener Ort.“

Ed Pilkington ist New-York-Korrespondent des britischen Guardian.
Übersetzung: Steffen Vogel

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Geschrieben von

Ed Pilkington | The Guardian

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