Ein Land für alle Bürger

Israel Antisemitische Angriffe nehmen vielerorts zu. Sie müssen unbedingt bekämpft werden. Aber: Antizionismus gleichzusetzen mit Judenhass, ist der falsche Weg
Ausgabe 14/2019

Wer Jude ist, für den sind dies befremdliche und beunruhigende Zeiten – aus zwei Gründen: weil der Antisemitismus zunimmt. Und weil so viele Politiker darauf nicht antworten, indem sie Juden schützen, sondern indem sie Palästinenser bestrafen.

Am 16. Februar überzogen Gelbwesten auf der Straße in Paris den französischen jüdischen Philosophen Alain Finkielkraut mit antisemitischen Beleidigungen. Am 19. Februar fanden sich auf 80 Gräbern im Elsass Hakenkreuze. Zwei Tage später stellte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron fest, in Europa lebe „der Antisemitismus wieder auf wie seit dem zweiten Weltkrieg nicht mehr“, und kündigte an, dagegen mit neuen Maßnahmen zu kämpfen.

Eine dieser Maßnahmen ist eine neue offizielle Definition von Antisemitismus. Diese Definition, 2016 von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) erstellt, zählt zu den „zeitgenössischen Beispielen“ für Antisemitismus, „dem jüdischen Volk das Recht auf Selbstbestimmung zu verwehren“. Mit anderen Worten: Antizionismus ist Judenhass. Mit der Übernahme dieser Definition folgte Macron den Beispielen Deutschlands, Großbritanniens, der USA und rund 30 weiterer Regierungen. Wie sie alle beging der Präsident damit einen tragischen Fehler.

Antizionismus ist nicht inhärent antisemitisch – zu behaupten, er sei es, bedient sich jüdischen Leidens, um palästinensische Erfahrungen auszuradieren. Ja, der Antisemitismus nimmt zu. Ja, die Politiker dieser Welt müssen ihn auf das Schärfste bekämpfen. Aber um die Worte eines großen zionistischen Denkers zu bemühen: „Das ist der falsche Weg.“

Die Behauptung, Antizionismus sei per se antisemitisch, gründet auf drei Prämissen: Erstens sei die Ablehnung des Zionismus deswegen antisemitisch, weil sie den Juden etwas verwehre, das alle anderen Völker besäßen, nämlich einen eigenen Staat. „Die Idee, dass alle anderen Völker ihr Recht auf Selbstbestimmung anstreben und verteidigen dürfen, aber die Juden nicht, ist Antisemitismus“, sagte der Fraktionsführer der Demokraten im US-Senat, Chuck Schumer, 2017. Ähnlich formulierte es der Vorsitzende der Nichtregierungsorganisation American Jewish Committee (AJC), David Harris, 2018: „Von allen Völkern dieser Erde nur dem jüdischen Volk das Recht auf Selbstbestimmung zu verweigern, ist ganz sicher diskriminierend.“

Von allen Völkern dieser Erde? Die Kurden haben keinen eigenen Staat. Auch die Basken nicht, das gleiche gilt für die Katalanen und die Schotten, die Einwohner von Kaschmir, die Tibeter, die Abchasen, Osseten, Lombarden, die Igbo, Oromo, Uiguren, Tamilen und Einwohner von Québec sowie ein Dutzend andere Volksgruppen, die nationale Bewegungen gegründet haben, um ihre Recht auf Selbstbestimmung durchzusetzen, aber damit scheiterten.

Kurden, Schotten, Katalanen

Trotzdem würden nur die wenigsten behaupten, dass die Ablehnung eines kurdischen oder katalanischen Staates jemanden zu einem anti-kurdischen oder anti-katalanischen Rassisten macht. Es gibt einen breiten Konsens, dass auf ethnischen Nationalismus gründende Staaten – dazu geschaffen, eine bestimmte ethnische Gruppe zu repräsentieren und zu schützen – nicht der einzige legitime Weg sind, um die öffentliche Ordnung und die Freiheit des Einzelnen zu gewährleisten. Manchmal ist es besser, einen staatsbürgerlichen Nationalismus zu fördern, also einen Nationalismus, der sich auf Grenzen gründet anstatt auf kulturelles Erbe: Also etwa eine spanische Identität zu schaffen, die Katalanen stärker einbezieht, oder eine irakische Identität, die Kurden als Teil von sich versteht, anstatt multiethnische Staaten in Stücke zu reißen. Man sollte meinen, dass jüdische Politiker das verstehen, weil viele dieser jüdischen Politiker nationale Selbstbestimmung zwar als universelles Recht bezeichnen, aber kein Problem damit haben, dieses universelle Recht den Palästinensern zu versagen.

Eine Abwandlung eben davon bildet die zweite der drei Prämissen: Vielleicht ist es nicht rassistisch, gegen das Streben eines Volkes nach Staatlichkeit zu sein. Aber es ist rassistisch, diesen Staat wieder abschaffen zu wollen, nachdem er errichtet wurde. „Es ist eine Sache, vor dem folgenlosen Gericht der historischen Was-Wäre-Wenns dafür zu streiten, dass der Staat Israel nie hätte gegründet werden dürfen“, schrieb der New-York-Times-Kolumnist Bret Stephens vor kurzem. Aber „heute ist Israel die Heimat von fast neun Millionen Einwohnern, mit einer Identität, die auf genauso unverkennbare und stolze Weise israelisch ist, wie die Niederländer niederländisch und die Dänen dänisch sind. Antizionismus fordert nicht weniger, als diese Identität zu zerstören und jene politisch zu enteignen, die sie in Ehre halten.“

Nun, es ist aber alles andere als Spalterei, zu versuchen, einen auf ethnischem Nationalismus gründenden Staat in einen solchen des staatsbürgerlichen Nationalismus zu verwandeln, in dem keine ethnische Gruppe besondere Privilegien besitzt.

Im 19. Jahrhundert gründeten die Afrikaans sprechenden, zumeist hollandstämmigen Buren im südlichen Afrika verschiedene Staaten, um ihr Streben nach nationaler Selbstbestimmung zu verwirklichen, darunter Transvaal und den Orange Free State. 1909 schlossen sich diese beiden Burenrepubliken mit zwei Staaten zusammen, die von englischsprachigen Weißen dominiert wurden. Es entstand die Südafrikanische Union, die später zur Republik Südafrika werden sollte und die eine Art nationaler Selbstbestimmung für weiße Südafrikaner verwirklichte.

Klar, das Problem war, dass eben jene Versionen von Selbstbestimmung, die Transvaal, der Orange Free State und der Apartheidstaat Südafrika propagierten, Millionen schwarzer Menschen ausschlossen, welche in ihren Grenzen lebten. 1994 änderte sich das. Mit Abschaffung der Apartheid ersetzte Südafrika den ethnischen Nationalismus der Buren und den weißen Rassennationalismus mit einem staatsbürgerlichen Nationalismus, der Menschen aller ethnischen Gruppen einschließt. Seither gibt es eine Verfassung, die „das Recht des südafrikanischen Volkes auf Selbstbestimmung“ garantiert.

Das war keine Spalterei, sondern deren Gegenteil.

Ich betrachte Israel nicht als Apartheid-Staat. Aber sein ethnischer Nationalismus schließt viele Menschen aus, die unter seiner Kontrolle leben. Bret Stephens weist darauf hin, dass Israel fast neun Millionen Einwohner hat. Er erwähnt nicht, dass Israel weitere fast fünf Millionen Nicht-Bürger hat: Palästinenser, die unter israelischer Kontrolle in der Westbank und Gaza leben, ohne dass der Staat, der ihr Leben beherrscht, ihre Grundrechte garantiert.

Israel gibt diesen Palästinensern keine Staatsbürgerschaft, unter anderem weil der jüdische Staat errichtet wurde, um Juden und Jüdinnen zu schützen und zu repräsentieren. Daher strebt er danach, seine jüdische Mehrheit zu erhalten. Fünf Millionen Palästinensern das Wahlrecht zu geben, würde sie aufs Spiel setzen.

Zionismus als Enteignung

Sogar unter Israels neun Millionen Bürgern sind rund zwei Millionen – die so genannten „arabischen Israelis“ – palästinensisch. Stephens meint, den Zionismus zu stürzen, wäre eine „politische Enteignung“ der Israelis. Aber Umfragen zufolge sehen die meisten palästinensischen Bürger Israels das genau umgekehrt. Für sie repräsentiert der Zionismus selbst eine Art politische Enteignung. Weil sie in einem Staat leben, der Juden privilegiert, müssen sie eine Einwanderungspolitik erdulden, die es jedem Juden auf der Welt erlaubt, sofort israelischer Staatsbürger zu werden, derweil sie die Einwanderung von Palästinensern nach Israel praktisch unmöglich macht.

Sie leben in einem Staat, dessen Nationalhymne von der „jüdischen Seele“ spricht, dessen Fahne einen Davidstern trägt und traditionell israelisch-palästinensische Parteien von Regierungskoalitionen ausschließt. Eine 2003 von der israelischen Regierung selbst beauftragte Kommission beschrieb Israels „Umgang mit dem arabischen Sektor“ als „diskriminierend“.

Solange Israel ein jüdischer Staat bleibt, kann kein palästinensischer Staatsbürger Israels seinem Sohn oder seiner Tochter glaubhaft sagen, er oder sie könne Ministerpräsident oder Ministerpräsidentin des Landes werden, in dem er oder sie lebt. Auf diese Weise verwehrt Israels Form des ethnischen Nationalismus – der Zionismus – den Nicht-Juden, die unter israelischer Kontrolle leben, die Gleichberechtigung.

Meine bevorzugte Lösung wäre es, aus dem Westjordanland und Gaza einen palästinensischen Staat zu machen, und damit den Palästinensern in diesen Gebieten die Staatsbürgerschaft in einem ethnisch nationalistischen – aber hoffentlich demokratischen – eigenen Land zu geben. Ich würde auch versuchen, Israels ethnischen Nationalismus inklusiver zu gestalten. Man könnte zum Beispiel der Nationalhymne Israels eine Strophe hinzufügen, die den Sehnsüchten seiner palästinensischen Bürger Rechnung trägt.

Aber in einer Welt, in der sich ein Holocaust ereignet hat, und in der der Antisemitismus beängstigend weit verbreitet bleibt, wünsche ich mir, dass Israel ein Staat bleibt, der besonders dem Schutz der Juden verpflichtet ist.

Dennoch: Zu versuchen, Israels ethnischen Nationalismus durch einen staatsbürgerlichen zu ersetzen, ist nicht per se bigott. Im vergangenen Jahr brachten drei palästinensische Knesset-Abgeordnete eine Gesetzesvorlage mit dem Ziel ein, Israel von einem jüdischen Staat in einen „Staat für alle seine Bürger“ zu verwandeln. Einer dieser Abgeordeten, Jamal Zahalka, erklärte: „Wir verleugnen Israel nicht und auch nicht sein Existenzrecht als jüdische Heimat. Wir sagen einfach nur, dass die Existenz dieses Staates nicht auf der Bevorzugung von Juden, sondern auf Gleichheit beruhen soll. Der Staat sollte auf Gleichberechtigung aufbauen, nicht auf Bevorteilung und Übermacht.“

Streit zwischen einem israelischen Soldaten und einem Palästinenser wegen der Schließung einer Schule in den besetzten Gebieten, südlich von Nablus

Foto: Jaafar Ashtiyeh/AFP/Getty Images

Man könnte dagegenhalten, es sei scheinheilig von Palästinensern, jüdische Staatlichkeit in Israel abschaffen und gleichzeitig palästinensische Staatlichkeit in der Westbank und Gaza befördern zu wollen. Man könnte auch fragen, ob Jamal Zahalkas Vision von jüdischer und palästinensischer Gleichberechtigung in einem post-zionistischen Staat naiv ist, da starke palästinensische Bewegungen, etwa die Hamas, nicht Gleichheit, sondern die Vorherrschaft des Islam wollen.

Das sind vernünftige Kritikpunkte. Aber sind Zahalka und seine Kollegen – die der strukturellen Diskriminierung in einem jüdischen Staat ausgesetzt sind – am Ende Antisemiten, weil sie den Zionismus durch einen staatsbürgerlichen Nationalismus ersetzen wollen, der die Gleichberechtigung von Menschen aller ethnischen und religiösen Gruppen verspricht? Natürlich nicht.

Schließlich gibt es noch eine dritte Prämisse, um Antizionismus mit Antisemitismus gleichzusetzen. Es wird behauptet, in der Praxis kämen die beiden feindlichen Einstellungen schlichtweg zusammen vor. „Natürlich ist es theoretisch möglich, Antizionismus von Antisemitismus zu trennen, genau wie es theoretisch möglich ist, zwischen Rassentrennung und Rassismus zu trennen“, schreibt Bret Stephens, und suggeriert, dass, genau wie praktisch alle Rassentrennungsbefürworter auch Rassisten seien, praktisch alle Antizionisten auch Antisemiten seien. Man finde nunmal das eine selten ohne das andere.

Kein Staat ohne den Messias

Aber diese Behauptung ist empirisch falsch. In Wirklichkeit geht Antizionismus nicht immer mit Antisemitismus einher. Es ist ein Leichtes, Antisemitismus bei Leuten zu finden, die, weit davon entfernt, den Zionismus anzulehnen, ihn sogar enthusiastisch begrüßen.

Vor der Gründung Israels unterstützten einige Staatsmänner den jüdischen Staat deswegen besonders stark, weil sie keine Juden in ihren eigenen Ländern haben wollten. Bevor Arthur Balfour 1917 als britischer Außenminister erklärte, dass Großbritannien „die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina“ mit Wohlwollen betrachte, unterstützte er den 1905 verabschiedeten Aliens Act, der die jüdische Einwanderung nach Großbritannien beschränkte.

Zwei Jahre nach seiner berühmten Erklärung sagte Balfour, der Zionismus würde „das jahrhundertelange Leid mildern, das für die abendländische Zivilisation aus der Anwesenheit eines Körpers (der Juden) in ihrer Mitte entstanden ist, den sie zu lange als fremd und sogar feindlich betrachtete, aber den sie zugleich weder auszustoßen noch aufzunehmen in der Lage war.“

In den 1930ern verfolgte die polnische Regierung einen ähnlichen Kurs. Die Regierungspartei, aus der Juden ausgeschlossen waren, bildete auf polnischen Militärstützpunkten zionistische Kämpfer aus. Warum? Weil sie wollte, dass die polnischen Juden auswanderten. Mit einem jüdischen Staat würden sie einen Ort haben, wohin sie gehen konnten. Auch heute noch findet sich ein Echo dieses antisemitischen Zionismus unter rechten amerikanischen Christen, die den Juden in Israel weitaus freundlicher gesonnen sind als den Juden in den USA.

Ein Beispiel ist der streng konservative US-Fernseh- und Radiomoderator Glenn Beck. Nachdem er 2010 von der Anti-Defamation League (ADL), die gegen Diskriminierung und Diffamierung von Juden eintritt, kritisiert wurde, weil er George Soros als „Puppenspieler“ bezeichnet hatte, der „die USA in die Knie zwingen“ und „obszöne Profite aus uns herauspressen will“, reiste Beck nach Jerusalem, um eine Pro-Israel-Demonstration abzuhalten. Oder der Neonazi-Anführer Richard Spencer – er nennt sich einen „weißen Zionisten“ und sieht Israel als Vorbild für jenes weiße Heimatland, das er in den USA haben möchte.

Einige der europäischen Politiker, die am offenkundigsten mit dem Antisemitismus liebäugeln – Ungarns Viktor Orbán, Heinz-Christian Strache von der FPÖ und Beatrix von Storch von der AfD, die der Nostalgie für das Dritte Reich fröhnt – treten öffentlich für den Zionismus ein.

So wie es Antisemitismus ohne Antizionismus gibt, gibt es klarerweise auch Antizionismus ohne Antisemitismus. Man denke an die Satmarer Chassidim, eine große ultraorthodoxe Sekte. 2017 versammelten sich 20.000 männliche Gemeindemitglieder im Barclays Center im New Yorker Stadtteil Brooklyn zu einer Kundgebung – das waren mehr Leute, als in jenem Jahr zur Konferenz der pro-israelischen Lobbyorganisation AIPAC kamen. Einem der Organisatoren zufolge wollten die Satmar Chassidim damit ihrer Überzeugung Ausdruck verleihen, „dass es keinen Staat Israel geben sollte und kann, bevor der Messias gekommen ist.“

Vergangenes Jahr sagte Satmar-Rabbi Aaron Teitelbaum tausenden Anhängern: „Wir werden nicht aufhören, Gottes Krieg gegen den Zionismus und all seine Erscheinungsformen fortzuführen.“ Man kann über Rabbi Teitelbaum und die Satmar sagen, was man will, aber sie sind keine Antisemiten.

Das gleiche gilt für Avrum Burg. Der frühere Knesset-Präsident erklärte 2018, die Ausdehnung der Siedlungen im Westjordanland habe die Zwei-Staaten-Lösung unmöglich gemacht. Daher, so Burg, müssten die Israelis „ihr zionistisches Paradigma aufgeben, und es durch ein inklusiveres ersetzen. Israel muss allen seinen Einwohnern gehören, einschließlich den Arabern, nicht den Juden allein.“

Andere progressive jüdische Israelis, darunter der frühere Vize-Bürgermeister von Jerusalem, Meron Benvenisti, und der Kolumnist der israelischen Tageszeitung Haaretz, Gideon Levy, wie die Aktivisten des Federation Movement, argumentieren ähnlich.

Kann man ihre Vorschläge in Zweifel ziehen? Natürlich. Sind sie Antisemiten? Natürlich nicht. Und gewiss sind einige Antizionisten wirklich auch Antisemiten: Der amerikanische Neonazi und frühere Anführer des Ku-Klux-Klans, David Duke, der Anführer der afroamerikanischen Bewegung „Nation of Islam“, Louis Farrakhan, und die Autoren der Hamas-Gründungscharta von 1988 gehören auf jeden Fall dazu. Ebenso die Schläger der französischen Gelbwesten-Bewegung, die Finkielkraut einen „dreckigen zionistischen Scheißkerl“ nannten.

Obama und Kerry warnten

In manchen Zirkeln gibt es eine wachsende und abzulehnende Tendenz, die Tatsache, dass viele Juden Zionisten sind (oder die Annahme, sie seien es), dazu zu nutzen, um Juden aus progressiven Räumen auszuschließen. Wem die moralische Integrität der US-Linken sorgt, wird noch lange gegen Derartiges kämpfen müssen.

Aber während antizionistischer Antisemitismus allem Anschein nach zunimmt, so gilt dasselbe für zionistischen Antisemitismus. Zumindest in den USA ist alles andere als klar, dass Antizionisten eher antisemitische Vorurteile hegen als Befürworter des jüdischen Staates.

Im Jahr 2016 versuchte die Anti-Defamation League (ADL), Antisemitismus mit einer Umfrage zu messen, bei der Amerikaner gefragt wurden, ob sie Aussagen wie „Juden haben zu viel Macht“ und „Juden kümmern sich nur darum, was mit ihren eigenen Leuten geschieht“ zustimmten. Es stellte sich heraus, dass Antisemitismus unter den älteren und wenig gebildeten Mitbürgern am stärksten war. Die ADL schrieb: „Die Amerikaner mit dem höchsten Bildungsstand sind bemerkenswert frei von Vorurteilen, während weniger Gebildete eher antisemitische Einstellungen zeigten. Jüngere Amerikaner – unter 39 – sind ebenfalls erstaunlich frei von Vorurteilen.“

Im Jahr 2018 hingegen fand das Pew Research Center ein umgekehrtes Muster, als es die Einstellung der US-Bevölkerung zu Israel abfragte: Amerikaner über 65 Jahre – also die Gruppe in der der Antisemitismus am größten war – sympathisierten am stärksten mit Israel. Im Gegensatz dazu zeigten Amerikaner unter 30, die laut ADL am wenigsten antisemitisch sind, die geringste Sympathie für Israel.

Ebenso verhielt es sich mit Bildung. Während Amerikaner, die höchstens einen Highschool-Abschluss besaßen, die Gruppe mit dem stärksten Antisemitismus bildeten, waren sie auch am stärksten pro-israelisch eingestellt, Amerikaner mit einem Hochschulabschluss am wenigsten antisemitisch und am wenigsten proisraelisch.

Wie es mit statistischer Evidenz nun mal ist, stellt sich all das als wenig hieb- und stichfest dar. Aber es bestätigt, was man mitbekommt, wenn man progressive und konservative politische Diskussionen verfolgt: Jüngere Progressive sind in hohem Maße universalistisch eingestellt. Jeder Form von exklusiv anmutendem Nationalismus stehen sie misstrauisch gegenüber. Dieser Universalismus lässt sie den Zionismus ebenso kritisch beäugen wie den christlichen Nationalismus, der in den Vereinigten Staaten manchmal in Antisemitismus umschlägt.

Im Gegensatz dazu bewundern einige ältere Donald-Trump-Anhänger, die einen alles gleichmachenden Globalismus fürchten, Israel dafür, dass es jüdische Identität bewahrt, während sie sich danach sehnen, Amerikas christliche Identität derart zu erhalten, dass sie auch Juden ausschließt.

Wenn also nun Antisemitismus und Antizionismus begrifflich zu unterscheiden sind und in der Praxis von allerhand unterschiedlichen Leuten vertreten werden, dann stellt sich doch die Frage, warum Politiker wie Macron auf den steigenden Antisemitismus reagieren, indem sie Antizionismus als eine Form von Antisemitismus bezeichnen. Nun, weil es in vielen Ländern das ist, was Vertreter der örtlichen jüdischen Communities von ihnen wollen.

Es ist ein nachvollziehbarer Impuls: Lasst jene definieren, wass Antisemitismus ist, die von ihm betroffen sind. Das Problem ist, dass in vielen Ländern die Repräsentanten der jüdischen Communities zugleich örtliche jüdische Belange und die Belange der israelischen Regierung vertreten. Und letztere will Antizionismus als antisemitisch brandmarken, weil das Israel dabei hilft, die Idee der Zwei-Staaten-Lösung straflos zu Grabe zu tragen.

Jahrelang haben Barack Obama und John Kerry davor gewarnt: Wenn Israel seine Besiedlung der Westbank, die einen Palästinenser-Staat unmöglich macht, weiter so vorantreibt, dann werden die Palästinenser irgendwann aufhören, einen palästinensischen Staat Seit‘ an Seit‘ mit Israel zu verlangen und es stattdessen auf nur einen Staat anlegen – zwischen Mittelmeer und Jordan, anstelle Israels und weder jüdisch noch palästinensisch.

Diese Gefahr wird kleiner, wenn Antizionismus als Antisemitismus gilt. Denn das heißt, dass jene Palästinenser und ihre Unterstützer, die auf den Untergang der Zwei-Staaten-Lösung mit der Forderung nach einem gemeinsamen, von Gleichberechtigung gekennzeichneten Staat, reagieren, von einigen der mächtigsten Regierungen der Welt als Antisemiten hingestellt werden. Das wiederum eröffnet Israel die Freiheit, seine eigene Version von einem Staat zu zementieren, der Millionen Palästinensern ihre Grundrechte verweigert.

Palästinenser zum Schweigen zu bringen, ist jedoch kein besonders effektiver Weg zur Bekämpfung des Antisemitismus, der zum großen Teil von Leuten ausgeht, die weder Palästinenser noch Juden mögen. Ganz im Gegenteil untergräbt dieses Vorgehen die moralische Grundlage des Kampfes gegen Antisemitismus.

Denn Antisemitismus ist nicht einfach deshalb unrecht, weil es falsch ist, Juden zu verunglimpfen und zu entmenschlichen. Antisemitismus ist unrecht, weil es falsch ist, irgendjemanden zu verunglimpfen und zu entmenschlichen. Das aber bedeutet am Ende, dass jeder Versuch, Antisemitismus zu bekämpfen, der zur Verunglimpfung und Entmenschlichung von Palästinensern beiträgt, in Wahrheit gar kein Kampf gegen den Antisemitismus ist.

Peter Beinart ist außerordentlicher Professor für Journalismus und Politikwissenschaft an der City University of New York und Autor von Büchern, zuletzt: The Crisis of Zionism. Er schreibt unter anderem für The Atlantic, The Forward und den Guardian

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Übersetzung: Carola Torti
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Peter Beinart | The Guardian

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