Selbst jetzt, nur wenige Tage vor den Parlamentswahlen im Vereinigten Königreich, lässt sich deren Ausgang noch immer nicht vorhersehen. Auch wenn die Umfragen ein recht eindeutiges Bild zeichnen, ist der Abstand zwischen Sieg und Niederlage gering. Die vergangenen beiden Wahlen brachten Überraschungen in letzter Minute mit sich und wenn die Tories sagen, sie würden nichts für ausgemacht ansehen, dann sagen sie die Wahrheit.
Das hat einen einfachen Grund: Die Konservativen haben vielleicht eine klare Haltung, was den Brexit anbelangt, die bei dessen BefürworterInnen auch entsprechend gut ankommt. Sie wissen aber auch, dass vieles von dem, was Labour im Wahlkampf erzählt, bei den WählerInnen ebenfalls verfängt. Boris Johnson hat mit ideologischem Gegenwind zu kämpfen.
Dabei handelt es sich nicht nur um eine Frage der Vergünstigungen, die Labour den Bürgern in Aussicht stellt. Wer wäre schließlich nicht für die Vier-Tage-Woche, günstigere Bahntickets, freies Breitband und kostenlose Vorsorgeuntersuchungen bei der Zahnärztin?
Es ist mehr das Gefühl, dass sich sei Camerons Wahlsieg im Jahr 2015 auf einer tieferen, grundsätzlicheren Ebene etwas geändert hat. Alle Parteien sind in Wirtschaftsfragen nach links gerückt – zum Teil weil die bürgerlichen Lösungen sich als unzureichend erwiesen haben, zum Teil weil Labour die Rahmenbedingungen der Debatte verändert hat. Bei dieser Wahl streiten die Parteien nicht um das Ziel der Reise, sondern um die Geschwindigkeit, mit der sie erfolgen und wer ihren Verlauf steuern sollte.
Vieles ist Konsens
Der neue Konsens hat die folgenden Elemente. In erster Linie müssen Maßnahmen zur Bewältigung der Klimakrise getroffen werden. Alle Parteien benennen ein Zieldatum für die Klimaneutralität des Vereinigten Königreichs und skizzieren politische Maßnahmen, wie dies zu erreichen sein soll. Wie erwartet sind die Grünen hier am ambitioniertesten, gefolgt von Labour, den Liberaldemokraten und den Konservativen. Anders als noch vor zehn Jahren kann man mit der Leugnung des Klimawandels in Großbritannien heute keinen Blumentopf mehr gewinnen. Stattdessen sprechen alle von Green Industrial Revolutions und Green New Deals.
Dann ist da die Einsicht vom Ende der Austerität. Auch hier unterscheiden sich die Parteien in dem Ausmaß, in dem die Ausgabenkürzungen des vergangenen Jahrzehnts zurückgefahren werden sollen. Doch es gibt eine grundsätzliche Bereitschaft, wieder mehr Geld auszugeben und nicht weniger.
Dies erfordert eine Bereitschaft, mehr Schulden aufzunehmen und der Steuer- und Ausgabenpolitik eine größere Rolle in der Wirtschaftsführung einzuräumen. Dabei handelt es sich in keiner Weise um ein rein britisches Phänomen. Der internationale Währungsfonds und die Europäische Zentralbank – einst Bastionen der volkswirtschaftlichen Orthodoxie – sind sich mittlerweile einig, dass es eine Grenze dessen gibt, was mit der immer weiteren Senkung der Leitzinsen und der Geldschöpfung durch quantitative Lockerung erreicht werden kann. Beide raten den Regierungen, sich die historisch niedrigen Zinsen zunutze zu machen.
Einer der interessanteren Nebenschauplätze im Wahlkampf war der öffentliche Widerspruch einiger linksgerichteter ÖkonomInnen gegen die kritische Analyse von Labours Steuer- und Ausgabenplänen durch das Institute for Fiscal Studies (IFS). Das IFS, in der Vergangenheit die unbestrittene Autorität in diesen Fragen, wurde wegen seiner Behauptungen angefochten, die Pläne von John McDonnell würden nicht aufgehen. Nach Ansicht der Kritiker des Thinktanks traf dieser fragwürdige Annahmen über die Auswirkungen höherer Körperschaftssteuern auf private Investitionen und versäumte, das Potenzial für ein stärkeres Wirtschaftswachstum mit zu berücksichtigen, das sich aus dem Anstieg der öffentlichen Ausgaben ergeben würde.
Die Idee ist, dass staatliche Investitionen im derzeitigen Niedrigzinsumfeld einen Multiplikatoreffekt aufweisen, der im Laufe der Zeit genügend wirtschaftliche Aktivität erzeugen würde, um die Investitionskosten zurückzuzahlen – und noch viel mehr. Labour hat sich 2010 und 2015 schwer damit getan, gegen die Orthodoxie des ausgeglichenen Haushalts anzukommen. Die jetzige Wahl findet vor einem wesentlich günstigeren Hintergrund statt, da keynesianistische Vorstellungen wieder im Trend liegen. John Maynard Keynes glaubte an die Notwendigkeit eines aktiven Staates und den Multiplikatoren-Effekt. Gleiches gilt, den Infrastruktur-Plänen des Schatzkanzlers zufolge, auch für Sajid Javid. Javids Ansatz unterscheidet sich von dem McDonnells nur graduell. Labour plant, viel weiter zu gehen – das ist alles.
Gibt es ein Problem?
Die Details der Steuerpläne der Konservativen sind ebenfalls recht aufschlussreich. Vergangenen Sommer, als er um die Nachfolge von Theresa May kämpfte, schlug Johnson zwei große Veränderungen vor: die Anhebung der Einkommensgrenze für die Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen sowie die Verlagerung des Einsetzens der 40%igen Einkommenssteuer von 50.000 auf 80.000 Pfund. Das erste Versprechen hat es in das Wahlprogramm der Tories geschafft, das zweite – von dem die Wohlhabenderen profitieren würden – hingegen nicht. Darüber hinaus haben die Konservativen Pläne für eine Senkung der Körperschaftssteuer mit der Begründung abgelehnt, man sollte das Geld besser in das Gesundheitssystem stecken – dort sei es besser aufgehoben. Diese Steuerpläne deuten nicht gerade darauf hin, dass die Partei vor ideologischem Selbstvertrauen strotzt, sondern lassen eher darauf schließen, dass die Tories bemüht sind, die Befürchtungen hinsichtlich Armutslöhnen, wachsender Ungleichheit und des Drucks auf den öffentlichen Dienst zu zerstreuen.
Im Augenblick deutet nichts darauf hin, dass das Pendel wieder nach rechts zurückschwingen wird. Extreme Wetterereignisse zeigen, dass es allerhöchste Zeit ist, entschieden gegen die Klimakatastrophe vorzugehen. Die Konzentration des Reichtums schreitet immer weiter fort. Der Druck auf die öffentlichen Kassen wird in einer alternden Gesellschaft immer größer und das Risiko einer weiteren Finanzkrise nimmt ebenfalls zu. Sollten sie am Donnerstag gewinnen, wird es für die Konservativen nicht genügen, Britannien aus der EU zu führen. Sie werden auch die Ursachen des Brexits angehen müssen – was unterm Strich die schwierigere Aufgabe sein dürfte.
All dies wirft eine offensichtliche Frage auf: Wenn die wirtschaftlichen Bedingungen so günstig für die Linke sind und weiterhin bleiben werden, warum stehen die Anzeichen dann nicht auf einen Kantersieg von Labour? Gibt es ein Problem mit der Botschaft, der Art, wie diese kommuniziert wurde, mit dem Boten – oder mit allen dreien? Vielleicht liegen ja auch die Umfragen daneben. Falls nicht, müssen daraus schnell – mitunter unangenehme – Lehren gezogen werden.
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