An der Treppe der Causeway Bay-U-Bahnstation in Hong Kong zeugt ein Schild vom Zwiespalt, in dem die Demonstranten stecken, die die sonst so geordneten innerstädtischen Straßen der Metropole blockieren: „Kampf um Demokratie / Bitte entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten“ steht darauf geschrieben. Doch sollte die kommunistische Führung in Peking glauben, der entschuldigende Tonfall spiegele einen Mangel an Entschlossenheit seitens der Studenten, Aktivisten und sonstigen Bürger Hong Kongs wider, die in beispielloser Zahl auf die Straßen gegangen sind, würde sie damit einen großen, möglicherweise historischen Fehler begehen.
Der scheinbar unvermittelten Aufwallung der Wut und Enttäuschung über Pekings plumpe Missachtung der eingeschränkten politischen Freiheiten der ehemaligen britischen Kron-Kolonie hat sich langsam aber stetig aufgebaut, seit im Juli 1997 Prinz Charles, Gouverneur Chris Patten und der damalige chinesische Präsident Jiang Zemin sich die Hände schüttelten und den Union Jack einholten.
Die Kompromissformel „Ein Land, zwei Systeme“ – ein Experiment Deng Xiaopings, das auf fünfzig Jahre angelegt war und die Sino-British Joint Declaration von 1984 untermauerte – sorgte für ein Feigenblatt, hinter dem beide Regierungen, und eine Zeitlang auch die Bürger, ihre wirklichen Gefühle und Überzeugungen verbergen konnten.
Doch schon bald machte sich der wahre Charakter Hong Kongs geltend – lebhafte politische Debatten um die Wahl des Legislativrats, der in Hong Kong an Stelle eines Parlamentes eingesetzt ist, wurden zur Regel und intensivierten sich nach 1997 immer mehr .
Im Jahr 2003 führten neue „Anti-Subversionsgesetze“ zu schweren Protesten. 2012 provozierten Bildungspläne eine ähnlich heftige Gegenreaktion. In beiden Fällen machte die lokale Verwaltung einen Rückzieher. Doch beim gegenwärtigen Konflikt um die Einschränkungen bei der für 2017 angesetzten Wahl des nächsten Regierungschefs ist eine solche Flexibilität nicht möglich – denn diesmal kommen die Anordnungen direkt aus Peking, das keinen Widerstand duldet. So sieht denn alles nach einer weiteren Konfrontation aus, die ihren Höhepunkt möglicherweise am ersten Oktober erreichen wird, wenn China seinen 65. Nationalfeiertag feiert.
Die Politikberaterin Alice Wu schreibt in der South China Morning Post, schuld an der verfahrenen Situation sei das schwindende Vertrauen in die „Ein Land, zwei Systeme“- Formel: „Der jüngsten Umfrage der University of Hong Kong zufolge ist die Zahl derer, die kein Vertrauen mehr in die Formel haben, mit 56 Prozent der Befragten (im Vergleich zu 38 Prozent, die noch immer an sie glauben) so hoch wie noch nie seit die Frage 1993 zum ersten Mal in diesem Rahmen gestellt wurde.“ Möglicherweise sei dieser Wandel aber unvermeidbar gewesen, so Wu weiter. „Hong Kong, das Festland und die übrige Welt haben sich radikal verändert.“
Zum Teil sind diese Veränderungen Hong Kongs Erfolg als Geschäftszentrum geschuldet, den Peking sich mit dem nächsten Fünfjahresplan zunutze machen will. Teilweise ist er aber auch als eine Reaktion auf gesellschaftliche Entwicklungen wie etwa der Migration vom Festland, die die einzigartige Identität und Kultur Hong Kongs verwässert oder das Heranwachsen einer unabhängiger denkenden jüngeren Generation, zu betrachten. Und nicht zuletzt kommt in ihnen auch ein Missfallen gegenüber der unzeitgemäßen und diskreditierten Einparteienherrschaft zum Ausdruck.
Entgegen der Annahme Dengs ist Hong Kong weniger stark gewachsen als der Rest Chinas. Heute sprechen sich in einer Umfrage 54 Prozent der Befragten dafür aus, die Versuche Pekings, die Kandidaten für die Wahlen vorab durch Wahlmänner bestimmen zu lassen, zurückzuweisen. Forderungen nach dem Rücktritt von Regierungschef Leung Chun-ying werden lauter.
Larry Au schreibt in der Morning Post, der Protest habe seine Ursachen in dem veränderten Bild, das Hong Kong von sich selbst und seinem Platz in der Welt habe. Peking könnte diese Entwicklung nicht aufhalten. „Wenn es den Demonstranten jetzt nicht gelingt, dafür zu sorgen, dass Hong Kong 2017 eine echte Wahl hat, dann schaffen sie es mit Sicherheit zu einem späteren Zeitpunkt.“
Es ist klar, in welchem Dilemma Chinas Präsident, Xi Jinping, steckt. Die Versuche der Demonstranten, sich gegen das Tränengas und Pfefferspray der Polizei zu schützen, haben den Protesten einen Namen gegeben: die Regenschirm-Revolution. Xi weiß, dass die Augen der Welt auf Hong Kong gerichtet sind und er sich kein zweites Tiananmen leisten kann.
Doch die innerparteilichen Feinde des für sein rigoroses Vorgehen gegen Korruption und seine konfrontative Politik in der Region bekannten Präsidenten würden nur zu gerne sehen, dass er einen Fehler begeht. Sollten die nicht genehmigten, spontanen und bislang zensierten Proteste sich weiter ausbreiten und vielleicht über Kowloon hinaus auf das eigentliche Festland übergreifen, ist es gut möglich, dass der autoritär regierende Xi mit dieser Herausforderung überfordert ist.
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