Einfach so erschossen

Afghanistan Die Afghanen sind immer weniger bereit, der internationalen Gemeinschaft das erwünschte Vertrauen entgegenzubringen, haben Umfragen ergeben

Meine Organisation, die Open Society Foundations*, hat vor kurzem 250 Afghanen im ganzen Land gefragt, wer oder was ihrer Meinung nach am meisten zur Eskalation des Konflikts beitrage und wen sie für die hohe Zahl ziviler Opfer verantwortlich machten. Obwohl laut Statistik die Aufständischen für mehr Leid und Tote unter den Zivilisten sorgen als die Besatzungsmächte, bezeichnete die überwiegende Mehrheit der Befragten Letztere als genauso brutal wie die Taliban. Sie seien mindestens in gleichem, wenn nicht höherem Maße verantwortlich für Opfer unter der Zivilbevölkerung, die Misshandlung Gefangener und dergleichen mehr. Die Alliierten wollten oft nicht genug zwischen Aufständischen und Zivilisten unterscheiden.

Viele zivile Opfer könnten vermieden werden, wenn die Informationen und Koordination der Truppen besser wären und sie dadurch ihre Ziele genauer auswählen könnten. „Bei einem Unfall oder einem Angriff auf NATO-Truppen reagieren diese und beginnen, die Leute zu beschießen. Die betrachten sie nicht als Menschen und halten jeden, der auf der Straße ist, für ihren Feind“, sagte ein Mann aus der westlichen Provinz Herat.

Nur noch eine Handvoll

Die meisten brachten noch schrecklichere Geschichten vor: Die internationalen Truppen würden Leute vor den Augen ihrer Familien einfach so erschießen, Frauen entführen und ihre Leichname den Familien wieder vor die Tür legen oder auf Kinder schießen und diese missbrauchen. Viele beschuldigten den Westen auch, die Taliban direkt mit Waffen und Ausrüstung zu versorgen, Aufständische in friedliche Gebiete zu transportieren, Bomben und Minen zu legen sowie Selbstmordattentate in Auftrag zu geben und diese hinterher den Taliban in die Schuhe zu schieben.

Viele gaben an, der Umstand, dass der Aufstand immer weitere Kreise ziehe, obwohl die Amerikaner ihre Truppen massiv aufgestockt hätten, ließe sie an den Intentionen der Alliierten in Afghanistan zweifeln. „Sie sind nicht aufrichtig daran interessiert, uns den Frieden zu bringen. 2001/2002 konnten sie die Taliban in einer Woche eliminieren und jetzt, da nur noch eine Handvoll von ihnen übrig ist, gelingt es ihnen offenbar nicht“, gab ein Mann aus der südlichen Provinz Kandahar zu Protokoll. Obwohl natürlich viele Gerüchte und Horrorgeschichten von den Taliban in die Welt gesetzt werden, bekamen wir auch von vielen pro-westlich eingestellten, gebildeten Großstädtern und den Volksgruppen, die den Taliban und deren Propaganda am wenigsten abgewinnen können, viel Negatives über die Besatzung zu hören.

Zwar spielen die Propaganda der Taliban und die Vorurteile in der Bevölkerung eine wichtige Rolle, diese können die weitgehend negative Einstellung der Menschen aber nicht ausreichend erklären. Das Problem ist, dass sie angesichts der berechtigten Klagen glaubwürdig klingen. Wenn die Aufständischen die internationale Gemeinschaft in ein schlechtes Licht rücken wollen, brauchen sie schließlich nichts weiter zu tun, als auf neun Jahre Bürgerkrieg, Missbrauchsfälle und die harten Haftbedingungen zu verweisen – der Mangel an Transparenz und Verantwortlichkeit der internationalen Truppen gegenüber der afghanischen Öffentlichkeit macht es Interessierten leicht, die Fälle zu übertreiben.

Vertrauen zerstört

Dass diese Dinge bei der Eroberung der Herzen und Köpfe der Afghanen ein großes Hindernis darstellen, hat sich mittlerweile bei westlichen Politikern herumgesprochen, und es wurden auch schon wichtige Reformen in die Wege geleitet, um dem Problem zu begegnen – so zum Beispiel taktische Auflagen für Luftschläge, bei denen Zivilisten zu Tode kommen könnten. Dabei neigten westliche Militärs und Politiker stark dazu, sich die Themen herauszupicken, die sie zu ändern bereit waren, während sie problematisches Verhalten auf anderen Gebieten nicht angingen, was dazu führte, dass die Zahl der Luftschläge zwar reduziert wurde, nächtliche Hausdurchsuchungen dafür aber zugenommen haben, die zwar weniger Todesopfer fordern, aber oft als große Beleidigung empfunden werden und ganze Dörfer verängstigen. Zugleich hat die Strategie, die Truppen in umkämpften Gebieten näher an die afghanischen Dörfer heranzuführen (pushing), um so die Bevölkerung zu schützen, dazu geführt, dass diese Gebiete durch den vermehrten Einsatz von Selbstmordattentätern für Zivilisten wesentlich gefährlicher geworden sind.

Es nützt auch wenig zu versprechen, die Übergriffe auf Zivilisten zu beenden und die Korruption einzudämmen, wenn die internationalen Streitkräfte und Nachrichtendienste auch weiterhin afghanische Sicherheitsdienste engagieren, die oft von Kriminellen und Aufständischen unterwandert sind.

Die einzige Chance

Dass dieses zutiefst inkonsistente Vorgehen beim Schutz der Zivilbevölkerung der Rhetorik des Westens widerspricht, lässt die Afghanen an allen Versprechen zweifeln, die ihnen gemacht werden. Mehr als alle Statistiken über gefangene Taliban oder gebaute Straßen, sollte der NATO der Graben zwischen Afghanen und der internationalen Gemeinschaft zu denken geben. Grundvoraussetzung für jede belastbare Lösung ist, dass sie auf einer Grundlage des Vertrauens ausgehandelt wird, das angesichts dessen, was in den vergangenen neun Jahren geschehen ist, gegenwärtig fehlt. Viele Afghanen betrachten die internationale Gemeinschaft, besonders die internationalen Streitkräfte, als etwas, mit dem sie sich gezwungenermaßen auseinandersetzen müssen, denn als Partner, dem sie vertrauen.

Der einzig positive Befund unserer Recherchen bestand darin, dass sich die meisten Afghanen, mit denen wir gesprochen haben, trotz der negativen Einstellungen gegenüber der NATO für ein internationales Engagement und die Präsenz ausländischer Truppen aussprachen. Dies legt nahe, dass trotz aller Fehler, die gemacht wurden, immer noch die Möglichkeit besteht, die Situation zu drehen – dies aber nur, wenn es der internationalen Gemeinschaft gelingt, Maßnahmen zu ergreifen, um den Afghanen ein verlässlicher und vertrauensvoller Partner zu werden.

Übersetzung: Holger Hutt

Von George Soros gegründete Hilfsorganisation

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Geschrieben von

Erica Gaston | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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