Simon Henig, der Bezirksvorsitzende der Labour-Partei in der Grafschaft Durham, verzieht den Mund, murmelt etwas vor sich hin und tippt in die Tasten seines Taschenrechners. Was dann im Kreis einiger Parteimitglieder folgt, ist eine erste Analyse: Was bedeutete das radikale Sparprogramm des konservativen Schatzkanzlers Osborne für die Städte und Gemeinden dieses Wahlkreises?
„Was passieren soll, haben wir uns in einem Worst-Case-Szenario genauso gedacht“, sagt Henig mit einem Blick auf sein Zahlen-Gekritzel. Er gehe davon aus, das bisherige Jahresbudget von 500 Millionen Pfund für Durham werde in den nächsten vier Jahren um 100 Millionen schrumpfen. „Wir müssen einige schmerzhafte Entscheidungen treffen. Orten wie der einstigen Stahlstadt Consett, die schon in der Vergangenheit unter mageren Zeiten gelitten und das nur mit Hängen und Würgen überstanden haben, drohen erneut schwere Jahre.“
46 Prozent des öffentlichen Etats der Grafschaft entfallen auf Gehälter, deshalb wird es unvermeidlich sein, dass Stellen kassiert werden. Jeder Sektor des öffentlichen Dienstes wird bluten müssen, angefangen bei Bibliotheken und Freizeitklubs, über die Abfallentsorgung und das Busnetz bis hin zu zur Betreuung der Bedürftigen. Da die Pflege alter und behinderter Menschen den größten Posten des Budgets ausmacht, werden diese Dienste drastisch gekürzt.
„Im Idealfall würden wir daran nicht rühren. Doch ich will ehrlich sein – wir werden gar keine Wahl haben“, meint Henig. Wer bereits in einer unsicheren Lage sei, den werde es am härtesten treffen. „Die Reichen in Großbritannien nutzen weder Bibliotheken noch öffentliche Verkehrsmittel. Der ärmere Teil der Gesellschaft benötigt diese Dienste dringender als der wohlhabende. Ich glaube nicht, dass sie in Westminster verstehen, wie die Menschen unter dem leiden werden, was diese Regierung beschlossen hat.“
Es ist die brutale Wahrheit, auch wenn die Budgets der Ministerien bis 2014 im Durchschnitt um effektive 19 Prozent gekürzt werden – die tiefsten Einschnitte von mindestens 18 Milliarden Pfund gibt es bei Sozialausgaben und damit den Ärmsten. Dies war der Punkt, an dem Schatzkanzler Osborne bei seiner ansonsten ausgefeilten Rede im Unterhaus ins Schwitzen und Schwatzen kam und technische Erklärungen herunter hechelte, deren Konsequenzen alles andere als technischer Natur sein werden. Frauen, Familien, Kranke, Jugendliche mit geringen Einkommen und Millionen von Angestellten im öffentlichen Dienst zahlen die Zeche für den von Banken und Bankern verschuldeten Zusammenbruch des Weltfinanzsystems. Premier Cameron und George Osborne scheinen darauf zu hoffen, dass die Gemeinden die bei ihnen vorgesehenen Kürzungen von 30 Prozent oder die Busnetzbetreiber die um ein Fünftel reduzierten Zuschüsse ergeben hinnehmen.
Wenn das Sinnbild der letzten Krise, mit der Durham zu kämpfen hatte, arbeits- und hoffnunslose Minen- und Stahlarbeiter waren, findet sich die zeitgemäße Entsprechung mit den weiblichen Angestellten im öffentlichen Dienst. Es sind die Kinder und Enkel der Stahlarbeiter von einst, die im öffentlichen Sektor eine Beschäftigung fanden, als die Stahlwerke ihre Tore verriegelten. Nun geraten sie in die Schusslinie: Bibliothekarinnen, Pflegerinnen, Krankenschwestern, Angestellte der Arbeitsämter, Mitarbeiter der Finanz- und der Kindergeldbehörde.
Kinder und Enkel
Rund 40 Prozent aller Beschäftigten der Stadt Consett arbeiten im öffentlichen Dienst. Beinahe jeder kennt einen, den die Angst um seinen Arbeitsplatz nicht mehr los lässt. Wenn landesweit 500.000 Stellen im öffentlichen Dienst entfallen, werden Orte wie Consett besonders betroffen sein. „Die Ungewissheit verfolgt uns beim Essen und im Schlaf, wir saugen sie mit jedem Atemzug ein. Die Moral ist am Boden“, sagt die 53-jährige Altenpflegerin Anne Taylor. Sie hat vom Bezirksrat bereits die offizielle Benachrichtigung erhalten, ihre Stelle müsse überprüft werden. Wie so viele, mit denen ich in Consett spreche, will sie nur unter Pseudonym zitiert werden, um unter gar keinen Umständen ihren Job zu gefährden. „Nüchtern betrachtet werde ich vermutlich gefeuert“, glaubt Taylor. „Das Heim wird an einen privaten Investor verkauft. Und wer dann noch bleiben darf, muss sich mit dem Minimallohn begnügen.“
Bis definitiv feststeht, welche öffentlichen Finanzen für den Bezirk Durham ab 2011 zur Verfügung stehen, werden Wochen vergehen. Und es wird Monate dauern, bis das ganze Ausmaß der von Schatzkanzler George Osborne verkündeten Sparmaßnahmen ersichtlich wird. Die Aussicht eines erneuten Stellenabbaus lastet wie ein Alpdruck auf den Menschen. Die allgemeine Furcht erinnere sie an die Monate, bevor im September 1980 die Stahlwerke schließen mussten, erzählt Anne Taylor. Damals wurden 3.600 Stellen über Nacht gestrichen, was die Arbeitslosigkeit unter den Männern der Stadt auf beinahe 100 Prozent trieb. „Die meisten von uns kennen das. Wir haben es überlebt, trotzdem steht uns eine Ochsentour bevor. Wir müssen hart im Nehmen sein und den Kopf hochhalten, wie wir das schon einmal getan oder wenigstens versucht haben.“
Es steht außer Frage, dass die Folgen der angekündigten Sparmaßnahmen zunächst nicht so katastrophal sein werden, wie es einst der Rauswurf der Stahlkocher von Consett war, aber den Bewohnern der Stadt, die am Hochofen gearbeitet und dann auf Stellen im öffentlichen Sektor umgeschult haben, kommt alles, was jetzt geschieht, unangenehm bekannt vor.
Der 53-jährigen Bibliothekarin Margaret Anderson wird zu Wochenbeginn von den Behörden versichert, ihr Arbeitsplatz sei sicher, auch wenn es Gerüchte gäbe, dass die Bezirksverwaltung bereits prüfe, welche der 39 Büchereien man sich in der Grafschaft noch leisten könne. Als einstige Stahlarbeiterin hat Anderson das Gefühl, es läuft ein Film ab, dessen Episoden sie längst kennt. „Wir hätten 1980 nie gedacht, dass sie das Stahlwerk kassieren, aber es war eine politische Entscheidung. Und auch jetzt ist es eine politische Angelegenheit. Ist es unsere Schuld, dass die Banken in Schwierigkeiten geraten sind? Unglaublich, fast gegen Ende meines Berufslebens holt mich die Ungewissheit wieder ein.“ Sie erinnert sich, wie es nach dem Ende der Stahlproduktion für die Älteren geradezu unmöglich war, neue Arbeit zu finden. „Jetzt bin ich in der gleichen Situation und frage mich: Wird mich irgendjemand bei meinem Alter noch anstellen wollen?“
Hunde- und Katzenfutter
Extrem gefährdet durch Stellenkürzungen sind Frauen im Niedriglohnsektor, warnen die Wohlfahrtsverbände der Grafschaft. Nach Angaben des Gewerkschaftsdachverbandes (TUC) sind 47 Prozent der Frauen in dieser Region Angestellte des öffentlichen Dienstes – der Anteil ist dreimal so hoch wie bei Männern. Doch die Ungewissheit zermürbt sie alle, Männer wie Frauen, Jüngere und Ältere, jede Generation.
Die 86-jährige Isabel Beadle besucht um die Mittagszeit einen Tanztee in Consett. Sie gehört zu denen, die es hart trifft, wenn der Busverkehr eingeschränkt wird. Ihr Dorf liegt anderthalb Meilen entfernt, sie braucht den Bus, um einzukaufen und Freunde zu treffen. „Ich besitze kein Auto und kann die Strecke nicht zu Fuß gehen“, erzählt sie. „Der einzige Laden in meinem Dorf verkauft allein Hunde- und Katzenfutter, damit kann ich nichts anfangen.“
Die Alten und Gebrechlichen in und um Consett sind gesundheitlich angeschlagen, sie leiden am Erbe der Stahlindustrie und deshalb an der vorgesehenen Kürzung ihrer Erwerbsunfähigkeitsrenten. Bevor 1980 die Werke schlossen, färbte der Industriedunst frischgefallenen Schnee in Consett blitzschnell rosarot. Die extreme Luftverschmutzung in den Werkhallen wie in der Stadt selbst hat bei vielen ehemaligen Stahlarbeitern zu schweren Atemwegserkrankungen geführt. Ihre Invalidität kostete Arbeit und Rentenanspruch, auch Lebenszeit. Jetzt wird ihnen die Entschädigung dafür gekappt.
Phil Burke, der als Betreuer für Menschen mit Behinderungen arbeitet, sieht etwa 70 Senioren beim Tanztee und Foxtrott zu. Die Tänzer tragen gedeckte Farben und beige Strickjacken, die Frauen golden und silbern glitzernde Schuhe, die auf dem staubigen Boden ein kratzendes Geräusch hinterlassen, während sich alle über die Tanzfläche schieben.
Optimismus und Ohnmacht
Sowohl Burkes Arbeitsplatz als auch diese täglichen Ausflüge, zu denen er mit seiner Behindertengruppe aufbricht, sind von den angekündigten Sparmaßnahmen bedroht, wenngleich noch nicht klar scheint, ob die zusätzlichen zwei Milliarden Dollar, die das Kabinett von Premier Cameron für die Sozialdienste angekündigt hat, die Bezirke ein wenig vom Spardruck entlasten. „Es geht hier um Lebensqualität“, meint Burke. „Die Ausflüge bieten den Behinderten geistige Beschäftigung. Sie machen ihr Leben reicher. Es wäre ein Jammer, würde ich meinen Job verlieren.“
Die Unruhe ist in der ganzen Stadt spürbar. Im Amtsgericht von Consett warten Angestellte auf die Entscheidung, ob ihre Behörde nach einer von der Regierung im Juni angekündigten Prüfung geschlossen wird. Polizeiinspektor Dave Turner rechnet damit, einige Beamte zu verlieren, was bedeutet, dass er Streifen an Wochenenden und in der Nacht nur noch eingeschränkt besetzen kann. „Wir sollen mit weniger Geld für den Bürger dieselben Dienste wie bisher leisten“, sagt er mit entschlossenem Optimismus. Er sorge sich auch darum, was das Spardiktat für die Jugendzentren bedeute, die dazu beigetragen hätten, dass in der Gegend asoziales Verhalten seltener wurde.
Auf der anderen Straßenseite steht das örtliche Büro der Young Men‘s Christian Association (YMCA). Sein Chef Billy Robson fragt, was angesichts der gekürzten Etats von den Programmen übrig bleibt, mit denen Jugendlichen ohne Ausbildung bei der Arbeitssuche geholfen werden soll. Ebenso kämpfen die Angestellten der Bürgerberatung mit den permanenten Etat-Unsicherheiten, die ihre Fähigkeit beschneiden, Schulden beladene Bürger zu beraten. Erst Ende März 2011 wird entschieden sein, ob die Regierung zwei Schuldenberater weiter finanziert. Cliff Laws, der eine Beratungsstelle leitet, bemängelt: „In dieser Region sind enorm viele Menschen verschuldet. Wenn noch mehr ihre Arbeit verlieren, werden erst recht viele in die Schuldenfalle geraten. Allein im zurückliegenden Jahr ist die Zahl derer, die unsere Hilfe brauchen, um 50 Prozent gestiegen.“ Die Argumente, die von der Regierung für eine „big society“ vorgebracht werden, könnten ihn nicht überzeugen – es werde schlichtweg nicht funktionieren, dass die Arbeit von Freiwilligen übernommen wird, sagt er. „Es wird nicht klappen, wenn der Staat sich zurückzieht und gleichzeitig die finanzielle Unterstützung für den Freiwilligen-Sektor kürzt.“
Labour-Politiker Simon Henig steht ein unbequemes Ringen mit dem Etat ins Haus. Er glaubt, dass die Regierung bewusst versucht hat, den Bezirksverwaltungen überflüssige bürokratische und administrative Handlungen vorzuwerfen, um diese dann schmerzlos kürzen zu können. „Sie haben in London für die Idee getrommelt, dass wir uns die ganze Verwaltung und Bürokratie sparen können“, so Henig. „Doch Verwaltungskosten machen gerade einmal fünf Prozent unseres Budgets aus. Mehr ist durch Effektivität nicht einzusparen.“
Amelia Gentleman ist Reporterin beim Guardian
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