Eines Tages – wenn es nicht schon so weit ist – wird der Fall Trafigura in den Wirtschaftsschulen durchgenommen werden. Die Aufgabenstellung für aufstrebende Betriebswirte könnte dann so lauten: Sie sind für eine große, aber angenehm unbekannte Handelsfirma mit Sitz in London verantwortlich und haben ein lästiges PR-Problem. 3.000 Meilen weit weg, in einem der ärmsten Länder der Welt, behaupten 30.000 Afrikaner gesundheitliche Schäden erlitten zu haben, weil Ihr Unternehmen dort Giftmüll entsorgt hat. Es kommt zu einem der größten Gerichtsprozesse der Geschichte. Schlimmer noch, ist nun auch noch ein Pulk Journalisten an Ihrem Fall dran.
Was tun? Die Lehrbücher der Betriebswirtschaft werden eine Kombination von Zuckerbrot und Peitsche vorschlagen. Für das Zuckerbrot ist bei Ihnen Lord (Tim) Bell zuständig, der schon für die Wahlkampfkampagnen Margaret Thatchers ähnliches vollbracht hat. Ihm wird es obliegen, die Marke Trafigura in der öffentlichen Wahrnehmung positiv neu zu positionieren. Er würde dann vielleicht vorschlagen, dass Sie offizieller Sponsor der British-Lions-Tour durch Südafrika und eines Kunstpreises werden. Für das Schwingen der Peitsche heuern Sie Großbritanniens berüchtigtste Anwaltskanzlei Carter-Ruck an – die sich gerne mit ihrem Ruf brüsten, lästige Chefredakteure mundtot zu machen.
Eine Zeitlang geht alles gut, zumindest mit der Peitsche. Carter-Ruck verteilen Drohbriefe in Redaktionen von Oslo bis Abidjan. Sie gehen gerichtlich gegen die BBC vor. Und sie bringen einen Richter dazu, ein vertrauliches, aber peinliches Dokument zu unterdrücken, das in die Hände der Presse geraten ist. Ein neuer Begriff entsteht: „Super-Injunctions“ (Injunctions sind gerichtliche Unterlassungsverfügungen)- demzufolge Gerichtsprozesse und -beschlüsse an sich geheim sind.
Gute Arbeit, überall kreisen dicke Schecks. Dann aber beginnt die Sache rasant aus dem Ruder zu laufen, als bekannt wird, dass der Parlamentsabgeordnete Paul Farrelly eine Anfrage zu der Verfügung und dem leidigen Dokument an das Parlament gestellt hat. Das wäre bereits schlimm genug, denn unbequemerweise hat die Presse in Großbritannien seit 300 Jahren das bestätigte Recht, über alles zu berichten, was Parlamentsabgeordnete sagen oder tun. Dann gab es noch eine ärgerliche Geschichte auf der Titelseite des Guardian. Und Twitter.
Es bedurfte nur eines Tweets, um die virtuelle Lunte in Brand zu setzen. Um fünf nach neun tippte ich: „Nun wird der Guardian aus Gründen, über die nicht berichtet werden darf, daran gehindert, über Parlamentsvorgänge zu berichten. Hat John Wilkes umsonst gelebt?“ Twitter-Gegner frotzeln gerne, dass mit 140 Zeichen nichts von Wert zum Ausdruck gebracht werden könne. Meinen 104 Zeichen gelang das durchaus. Als ich nach einem Zwischenstopp zum Essen mit Freunden zu Hause ankam, surrte es bereits in der Twittersphäre. Twitterer hatten Farrellys Anfrage ausfindig gemacht, die relevanten Links veröffentlicht und hatten sich in den Fall festgebissen. Am Dienstagmittag war „Trafigura“ dann einer der häufigst eingegebenen Suchbegriffe Europas, woran auch die ReTweets des britischen Schauspielers, Drehbuchautors, Schauspielers und Regisseurs Steven Fry und seinen 830.000 Followern ihren Anteil hatten.
Vieler der Twitterer gaben nur ihre Entrüstung oder ihre Unterstützung kund. Andere suchten in den Weiten des World Wide Web nach zurückgehaltenen Informationen. Ein oder zwei Rechtsexperten legten den Parlamentary Papers Act (d. Rd.: der jeder britischen Zeitung die Veröffentlichung von Parlamentsdebatten erlaubt) von 1840 dar, für den Fall, dass er eine Hilfe sein könnte. Gemeinsame #Hashtags wurden eingerichtet, um das Material einfach auffindbar zu machen.
Eine Stunde vor unserem Gerichtstermin warf Trafigura das Handtuch. Das Lehrbuch-Zeugs – aufwändiges Zuckerbrot, teure Peitsche – war von einer Zeitung und der Massenkollaboration völlig fremder Leute im Netz beiseite gefegt worden. Bei Trafigura dachte man, man könne sich Stillschweigen erkaufen. Eine Kombination alter (Guardian) und neuer (Twitter) Medien hatte zu trauriger Berühmtheit gebracht, was unter den Teppich gekehrt werden sollte.
Das Trafigura-Fiasko sollte ehrgeizigen BWL-Studenten und Möchtgern-Journalisten als Lehrbeispiel dienen. Vielleicht werden diese dann John Wilkes Tribut zollen, jenem lüsternen Schreiberling und Parlamentsabgeordneten, der sein Leben für das Recht riskierte, über Parlamentsvorgänge zu berichten. Auch damals, im 18. Jahrhundert war eine zeitgenössische Version des Crowd-Sourcing im Spiel.
Alan Rusbridger ist Chefredakteur des Guardian
Chronik des Trafigura-Skandals
August 2006 Wagenladungen chemischen Mülls werden von dem Frachtschiff Probo Koala illegal an mehreren Stellen in der Nähe von der Stadt Abidjan (Elfenbeinküste) abgeladen. Das Schiff war von dem multinationalen Ölunternehmen Trafigura gechartert worden. In den darauffolgenden Wochen berichten Zehntausende von Menschen von einer Reihe ähnlicher Symptome, darunter Atemprobleme, Übelkeit und Durchfall.
Februar 2007 Ein britischer Anwalt wird beauftragt, im Namen Tausender Menschen aus Abidjan eine Sammelklage zu erheben, um Schadensersatzforderungen geltend zu machen. Die Menschen sind der Überzeugung, dass die Abfälle sie krank gemacht haben. Trafigura weist jede Verantwortung von sich und zahlt noch im selben Monat 100 Millionen Pfund Sterling an die ivorische Regierung, damit diese den Müll wieder entsorgt. Das Unternehmen gibt an, man habe in gutem Glauben dem amtlich zugelassenen lokalen Vertragspartner Compagnie Tommy mit der Entsorgung beauftragt.
Oktober 2008 Der Chef von Compagnie Tommy wird zusammen mit einer weiteren Person wegen der illegalen Müllentsorgung verhaftet.
Mai 2009 Die BBC gelangt in den Besitz von Dokumenten, die auf die Zusammensetzung von Teilen der Schiffsladung und die Gefährlichkeit des Abfalls schließen lassen. Im selben Monat erklärt Trafigura, man werde das BB2-Programm Newsnight wegen Verleumdung verklagen.
September 2009 Der Guardian veröffentlicht Material, welches nach Auffassung des Blattes beweist, dass Trafigura den Grad der Verschmutzung zu vertuschen versuchte. Zuvor hatte der Guardian Einsicht in firmeninterne E-Mails gehabt, die darauf hindeuteten, dass Mitarbeiter um die Gefahren bei der Entsorgung wussten. Noch in derselben Woche erklärt Trafigura sich bereit, jedem der 30.000, die glauben, krank gemacht worden zu sein, 1.000 Pfund Sterling zu zahlen.
12. Oktober 2009 Trafiguras Rechtsanwaltskanzlei Carter-Ruck, versucht den Guardian daran zu hindern, über eine parlamentarische Anfrage des Labour-Abgeordneten Paul Farrelly aus Newcastle-Under-Lyme in dieser Sache zu berichten. Nach einem Schrei der Empörung von seitens der Abgeordneten wird der Versuch aber am darauffolgenden Tag aufgegeben.
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