Es geschah im Namen Amerikas

Terror Am 19. April 1995 starben in Oklahoma 168 Menschen bei einem Anschlag rechter Extremisten. Der Feldzug gegen ­Barack Obama erinnert in Vielem an die Zeit vor 15 Jahren

Am 18. April war Baylee Almons 16. Geburtstag. Es gab eine Party und Kuchen. Wie in jedem Jahr kamen ihre Stiefschwester Bella und ihr Stiefbruder Brooks. Auch für Baylee wurde ein Gedeck aufgetragen, doch wie in jedem Jahr konnte sie nur in den Gedanken ihrer Familie anwesend sein. Am 19. April 1995 – einen Tag nach ihrem ersten Geburtstag – war Baylee Almons unter den 168 Menschen – darunter 19 Kinder und Babys – die durch einen Bombenanschlag auf amerikanischem Boden ums Leben kamen.

Um 9.01 Uhr an jenem 19. April vor 15 Jahren, als gerade ein scheinbar normaler Arbeitstag begann, explodierte der Sprengsatz vor dem Alfred-P-Murrah-Gebäude in Oklahoma City. Gelegt hatte ihn nicht etwa ein islamistischer Fundamentalist, der seinen Anschlag im fernen Afghanistan plante, sondern eine paramilitärische Miliz von Amerikanern, die sich selbst „Patrioten“ nannten. Ihr Anführer Timothy McVeigh war Veteran des ersten Golfkriegs von 1991 und wurde 2001 hingerichtet. Sein wichtigster Komplize Terry Nichols sitzt zu lebenslanger Haft verurteilt im Zuchthaus.

Auflauf der Tea Party

„McVeigh war einer von uns“, sagt Baylees Mutter Aren Almon-Kok, die heute in zweiter Ehe mit einem Kriegsveteranen verheiratet ist, der im selben Golfkrieg verwundet wurde. „McVeigh war Amerikaner, wie Baylee und ich. Er ging in das Gebäude und sah die Tagesstätte, in der die Kinder spielten – er wusste, dass sie dort waren. Warum tat er das? Es gibt keine Antwort auf diese Frage. Ich habe immer gesagt, es ging mir nicht darum, ihn sterben zu sehen, um mit der Sache abschließen zu können. Man kann damit nicht abschließen. Ich wollte mir niemals anhören müssen, wie sich McVeigh erklärte und rechtfertigte.“ Die Tatsache, dass die 168 Toten von Oklahoma City Amerikaner waren, die von Amerikanern im Namen Amerikas umbracht wurden, hat es der Nation in mancher Hinsicht schwerer gemacht, den Vorfall aufzuarbeiten, als 9/11 und den weniger komplizierten Feind al-Qaida. „Es macht einen riesengroßen Unterschied, dass es sich in diesem Fall um unseren eigenen Terrorismus handelte“, meint Almon-Kok. „Danach konnte man auf nichts mehr vertrauen. Ich konnte mich nur daran festhalten, dass die Stadt in der Zeit danach alles tat, was in ihrer Macht stand. Es hat mich beruhigt, dass wir ein Rechtssystem haben, das in den meisten Fällen funktioniert. Nur beantwortet dies nicht die Frage, weshalb amerikanische Landsleute unsere Kinder töten wollten.“

Vielleicht ist das der Grund, weshalb die Bombe von Oklahoma im kollektiven Gedächtnis der Amerikaner nicht die Rolle spielt, die sie spielen sollte. Als Ex-Vizepräsident Al Gore vor kurzem über die extreme Rechte interviewt wurde, erwähnte er Oklahoma mit keinem Wort. Auch in den Medienberichten über die Verhaftung potentieller rechtsextremer Terroristen im März, die Ableger einer Bürgerwehr aus Michigan sind, zu denen einst McVeigh zählte, fehlte der Verweis auf jenen Tag im April 1995. Amerika ist im Umgang mit diesem Feind aus den eigenen Reihen extrem unbeholfen. Viele fürchten das Echo, das ein Verweis auf die Verbindung zwischen der Causa McVeigh und den jetzigen Kampagnen gegen die Regierung Obama auslösen könnte. „Es flößt mir Angst ein, dass unsere Gesellschaft heute so ähnlich aussieht wie 1995“, sagt Kari Watkins, Direktorin des Oklahoma National Memorial. „Die Bürgerwehren sind wieder da. Es herrscht eine Sprache, die von extremistischer Gesinnung und Hass gegen die Regierung getränkt ist.“ Die rechtsnationale Tea Party hat ausgerechnet den 15. Jahrestag des Attentats auserkoren, um landesweit in den Hauptstädten vieler Bundesstaaten gegen die Regierung Sturm zu laufen. Nur Oklahoma blieb ausgeklammert. „Wie können sie es wagen, in diesem Moment ihren Hass zu versprühen“, meint der Polizist Keith Simonds, der bei der Rettungsaktion 1995 mittendrin war. Keiner wolle die Tea Party mit McVeigh gleichsetzen. Aber da brauche es doch nur ein paar gefährliche Terroristen, die etwas falsch verstehen, meint Kari Watkins vom Oklahoma-Memorial.

Im amerikanischen Unterholz hatte sich während der neunziger Jahre etwas zusammengebraut. Männer und ein paar Frauen vom äußeren rechten Rand bildeten Milizen, robbten in Tarnanzügen durch abgelegene Waldgebiete und spielten Krieg gegen einen Feind, den sie vage als „Bundesregierung“ ausmachten. Es sollte einen Aufstand gegen die Neue Weltordnung geben, der die US-Regierung angeblich sklavisch diente. In Nevada existierte ein Ort, von dem die Milizen glaubten, ein abgestürztes UFO sei dort entfernt worden, weil die Regierung mit Außerirdischen zusammenarbeite. In Arizona gab es ein Trainingscamp, das von Wiliam Cooper, einem Bekannten Timothy McVeighs, geleitet wurde.

Die Birnbäume blühten

Cooper hatte 1991 in seinem Buch Behold a Pale Horse darauf beharrt, das Untersuchungsgefängnis von Oklahoma City sei ein „Konzentrationslager“ für Gegner der Neuen Weltordnung des Antichristen. Im November 1994 rief er über seinen Radiosender zu den Waffen: Die Bürgerwehren sollten sich bereit halten, innerhalb von sechs Monaten „den Krieg zu beginnen“. Unmittelbar vor dem Anschlag drängte Robert Millar, Anführer der Schwadronen in Oklahoma, seine Anhänger, „gegen die Regierung jede Maßnahme zu ergreifen, die nötig sei“. Eine Woche später parkten McVeigh und Nichols einen Ryder-Laster mit 2,15 Tonnen Ammoniumnitrat und Heizöl vor dem Murrah-Gebäude, zündeten eine Lunte und gingen weg.

In den Tagen, bevor Baylee Almon und 167 andere starben, hatten die Birnbäume in Oklahoma City zu blühen begonnen. Eine tief religiöse Stadt feierte die Auferstehung des Herrn. Baylee Almon hatte ein Lächeln, das mit der Blütenpracht um die Wette strahlte. Doch die Welt sollte sie anders kennen lernen – tot in den Armen eines Feuerwehrmanns, das wohl bekannteste Bild des Anschlags. „Dieses Foto entwickelte ein Eigenleben“, erzählt Almon-Kok in einem Videointerview für die Gedenkstätte. „Es raubte mit die Erinnerung, wie Baylee lebend ausgesehen hatte. Ich versuchte, vor Gericht zu erwirken, dass diese Aufnahme nicht auf T-Shirts gedruckt werden durfte. Ohne Erfolg, da Baylee keine Prominente war. Wäre sie Michael Jordan gewesen, hätten wir Recht bekommen. Das Kind auf dem Bild ist nicht meine Tochter. Mein Kind war ein wunderschönes kleines Mädchen, das gern spielte.“

Am meisten belastet es Almon-Kok bis heute, stets gefragt zu werden, weshalb sie Baylee einer Kindertagesstätte in einem öffentlichen Gebäude anvertraut habe. „Ich konnte darauf nur antworten, ich hatte erwartet, meine Tochter sei dort sicher.“

So hat Almon-Kok einen bemerkenswerten Kreuzzug gestartet: Sie setzte sich dafür ein, dass in allen staatlichen Kindergärten bruchsicheres Glas verbaut werden muss. Im September 2000 unterzeichnete Bill Clinton den Gesetzentwurf HR 4159 – besser bekannt unter dem Namen „Baylee-Gesetz“ –, der dekretiert, dass in allen öffentlichen Gebäuden Sicherheitsglas verwendet werden muss. In Oklahoma City hätte das am 19. April 1995 viele Menschenleben gerettet. Almon-Kok: „Als nach 9/11 die Menschen gezeigt wurden, die mit Fotos ihrer Angehörigen durch die Trümmer des World Trade Center streiften, dachte ich: Das kenne ich.“ Als sie später Washington besuchte, kamen Mitarbeiter des Pentagon, um sie als Lebensretterin zu feiern. Sie alle hatten im Verteidigungsministerium in der Nähe der Stelle gearbeitet, an der das Flugzeug einschlug. Kurz vor dem 11. September 2001 waren dort neue Scheiben eingebaut worden.

Die Gerichtsverhandlung gegen McVeigh in Denver war für die Überlebenden ein Martyrium. Die Medien entwickelten eine absurde Faszination für den Massenmörder. Der Schriftsteller Gore Vidal führte einen Briefwechsel mit ihm. Unter Pseudonym erschien ein Buch, in dem McVeigh die toten Kinder als „Kollateralschaden“ und die Angehörigen der Toten als „Trauerhaufen“ bezeichnete. Catherine Alaniz, die am 19. April 1995 ihren Vater verlor, erinnert sich: „McVeigh saß auf der Anklagebank und lächelte uns süffisant an. Wir durften weder weinen noch sonst irgendwelche Gefühle zeigen. Dennoch blieb ich mit meiner Mutter in Denver und begann, dort in einer katholischen Gemeinde für Obdachlose zu arbeiten.“

Auch der Polizeibeamte Keith Simonds flog zum Prozess, um seine Aussage zu machen. Er hatte am Morgen des 19. April 1995 um sieben Uhr seinen Dienst angetreten, als er die Explosion hörte und die Rauchwolke sah. Dann empfing er einen Funkruf von der Ostseite des Gebäudes: „Wir haben Verwundete hier. Ich bin im Untergeschoss. Jemand muss das Wasser abdrehen, hier unten überschwemmt alles.“ – Als keiner der Feuerwehrleute bereit war, Simonds zu begleiten, stieg er allein zu seinem Kollegen ins Wasser. „Das Gebäude war komplett eingestürzt, wir mussten uns über die Trümmer zu dem Opfer vorarbeiten. Sharon Littlejohn steckte fest. Reifen explodierten, das Wasser stieg, und ich sagte zu meinem Kollegen: ‚Nimm du die Beine, ich nehme den Oberkörper.‘ Als wir endlich draußen waren, sagte ich zu Sharon: ‚Ma’am, können Sie das Licht sehen? Alles wird gut‘. Da haute mich der Anblick ihres Arms beinahe um – ich hatte die ganze Zeit einen frei gelegten Knochen festgehalten.“

Während seines zweiten Fluges nach Denver versuchte eine junge Frau, die zwei Reihen vor Simonds saß, Freiwillige für eine Weihnachtsparty zugunsten von Obdachlosen zu gewinnen, die von einer Kirche in der Nähe des Gerichts organisiert wurde. „Ich dachte, sie würde nie locker lassen“, erinnert sich Simonds. „Wie wäre es, wenn ein paar von euch Polizisten mitmachen?“ fragte sie. Simonds ließ sich breitschlagen, vielleicht auch, weil er sich der jungen Frau verbunden fühlte. Ihr Name war Catherine Alaniz, inzwischen heißt sie Simonds. Der Polizist hatte seine künftige Frau getroffen.

Kein Friedhof

Heute leben die Simonds und ihre Patchwork-Familie in Noble, einem Vorort von Oklahoma City. Ein Haushalt mit schnatternden Teenie-Mädchen, mit Gebeten vor dem Essen, einer Laube im Garten und einer Vitrine im Wohnzimmer, die an Catherines getöteten Vater und die Tapferkeit eines Polizeibeamten erinnert. „Wir leben in dieser Welt, in der alles immer sofort bewältigt sein soll“, sagt Catherine. „Aber das funktioniert nicht, man kann nicht einplanen, wann man von einem Verlust übermannt wird. Es gibt keinen Grund, weshalb der 15. Jahrestag einfacher oder schwieriger sein sollte als der fünfte oder 14.“

Das Gedenken an den Jahrestag wird im Oklahoma National Memorial abgehalten, von dem Hinterbliebene und Überlebende sagen, dass sie sich dort zuhause fühlen. Aufgehoben, getröstet, wenn nicht geheilt. „Ich liebe diesen Ort“, sagt Catherine Simonds. In Zeiten, da viel darüber nachgedacht wird, welchen Zweck ein Mahnmal haben soll, wirkt das wie ein leuchtendes Vorbild. Zum Teil wurde es über dem tiefen Abgrund erbaut, den das Murrah-Gebäude hinterließ, und gibt den Blick frei auf einen Rasen mit 168 leere Bronzestühle, auf denen die Namen der Toten eingraviert sind. Wenn es dunkel wird, werden die Unterseiten beleuchtet, so dass die Stühle der Toten auf einem Leuchtfeuer aus Licht schwimmen. An beiden Enden stehen große „Tore der Zeit“: Auf dem einen steht die Uhrzeit 9.01 Uhr, letzter Moment der Unschuld für die Stadt, auf dem anderen 9.03 Uhr – „der Moment, der uns für immer veränderte“.

Die Gestalter des New Yorker Mahnmals für den 11. September 2001 waren immer wieder hier, um sich anregen zu lassen. Im Inneren verfolgt der Besucher die Ereignisse jenes Tages: Von der trügerischen Normalität 9.01 Uhr, über die Explosion, das Chaos, die Klaustrophobie der Eingesperrten bis zur den Rettungsaktionen. Erzählt bekommt man sie über die Videoprojektion der Augenzeugenberichte. Ganz am Ende steht ein erlösendes Licht: Durch ein Fenster sieht man auf die Stühle der Toten. „Es ist kein Friedhof, den die Leute besuchen, um zu trauern“, glaubt Direktorin Kari Watkins. „Es ist ein Ort, um zu erinnern und zu lernen.“

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Übersetzung: Christine Käppeler
Geschrieben von

Ed Vulliamy | The Guardian

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