Freche Sexbombe mit Sopran

Selbstverwirklichung Sind wir nicht alle bionisch? Der Popstar Christina Aguilera über Selbstfindung, altersgemäßes Tragen von Cowboyhosen und die Inspiration von Mutterschaft

Was würden Sie tun, wenn Sie das Gefühl hätten, nicht Sie selbst zu sein? Die meisten Menschen würden sich wahrscheinlich nicht in hautenge Bondage Wear zwängen, sich in halbnacktem Zustand mit schwarzer Farbe übergießen oder irgendeines der unzähligen ungehörigen Dinge tun, die Christina Aguilera in ihrem neuesten Video anstellt.

Aber schließlich ist ein internationaler Popstar nicht irgendjemand. Nach einer vierjährigen Pause ist es nachvollziehbar, dass sie mit der ersten Singleauskopplung ihres neuen Albums Bionic, Not Myself Tonight, Eindruck schinden will. Doch seit es Lady Gaga gibt, die in der vergangenen Woche mit dem Videoclip zu ihre Single Alejandro abermals bewies, dass sie die Meisterin der Schock-Effekte ist, reden die Leute nicht mehr ganz so schnell über einen.


Vergleiche waren unvermeidlich, und nicht alle gereichten Aguilera zum Vorteil. Doch sie hält sich mit einem Urteil zurück. „Ich bin schon so lange in diesem Geschäft“, seufzt sie, „aber ich heiße alle Newcomer herzlich willkommen und freue mich auch darüber, wenn ich mit einer etwas gemeinsam habe.“

So oder so, scheinen die in Latex-gekleidete Christina von heute und die Person, als die wir sie aus den Neunzigern kannten, weit mehr als ein gutes Jahrzehnt zu trennen. Als sie 1993 dem New Mickey Mouse Club beitrat, war sie ein piepsiger, sauberer Teenager, der zusammen mit Justin Timberlake und Britney Spears in die Kamera grinste. Ihre Popmusik-Karriere startete sie vor zehn Jahren mit einem selbst-betitelten Debütalbum, dessen erste Single Genie in a Bottle 1999 zum größten Hit in den USA wurde und ihr in Großbritannien einen Ivor-Novello-Award einbrachte. Der Song offenbarte die typisch amerikanische Mischung aus tugendhaftem, widerstrebendem Good Girl und der Libido eines Bad Girl („My body is saying let’s go/But my heart is saying no“). 2002 war es dann aber an der Zeit, sich des guten Mädchens zu entledigen. Sie erfand sich als frechere und freizügigere „Xtina“ neu, folgte dabei der Celebrity-Tradition, sich den neuen Namen in den Nacken tätowieren zu lassen und veröffentlichte ihr zweites Studioalbum Stripped mit der Single Dirty. Neben dem aktuellen Not Myself Tonight-Clip wirkt heute selbst jenes Video, in dem Aguilera unter anderem mit der berühmt-gewordenen Bikini-Cowboyhosen-Kombination zu sehen ist, relativ zahm.

Stört es sie, dass die Leute bei ihrem Namen unweigerlich zuerst „freche Sexbombe“ denken, und dann erst „Sopran“? „Ich halte es für selbstverständlich, dass die Leute wissen, wozu ich stimmlich in der Lage bin“, antwortet sie gelassen. Bescheidenheit vorzutäuschen scheint nicht ihr Ding zu sein, doch wenn man fünf Grammys abgeräumt und über 42 Millionen Platten verkauft hat, kann man auf Bescheidenheit wohl gut und gerne pfeifen. Und Celine Dion, die selbst nicht gerade schwach auf der Brust ist, sagte einmal über Aguilera, sie sei „wahrscheinlich die beste Sängerin auf der ganzen Welt“.

Allerdings war „worst dressed“ am Anfang dieses Jahrzehnts ein mindestens ebenso häufiges Etikett. Glücklicherweise ist Aguilera nicht der Typ, der sich um so etwas schert. Im Rückblick auf einige dieser Outfits meint die auf Staten Island geborene Sängerin: „Ich hatte zum Glück eine Phase, in der ich spielen und ein bisschen verrückt sein konnte. Ich bin froh, dass ich das in jungen Jahren größtenteils erledigt habe, denn mit 60 wäre es kaum okay, Cowboyhosen zu tragen.“

Ich lege Protest ein. Sie lacht ungezwungen, was bei ihr selten vorkommt: „Nun, wir werden sehen, wie lange die Hose sich hält, ok, Ok? Wir werden sehen, ob ich mich in dem Alter noch in die Mistdinger zwängen kann.“

Wenn Aguilera über die „jungen Jahre“ spricht, dann klingt das, als sei sie vorzeitig gealtert, denn schließlich ist sie erst 29. Doch bekanntermaßen steht sie seit ihrem sechsten Lebensjahr auf der Bühne. Sie wuchs nach der Scheidung ihrer Eltern – der Vater ein Seargant der US-Armee, die Mutter Spanischlehrerin – in Pittsburgh auf. Damals, in den Achtzigern, war sie dort als „das kleine Mädchen mit der großen Stimme bekannt“. Der Legende nach sollen die anderen Mädchen stets das Weite gesucht haben, wenn sie bei lokalen Talentwettbewerben antrat.


Glücklicherweise setzt sie heute mehr auf den schwesterlichen Geist der Zusammenarbeit, wie die vielen Mitwirkenden auf Bionic belegen, zu denen auch die Feministinnen von Le Tigre zählen. Aguilera hat keine Scheu, die üblichen feministischen Statements zu äußern: „Ich glaube, dass wir Frauen diese übermenschliche Eigenschaft haben“, sagt sie. „Wir erschaffen Leben, wir geben Leben, wir sind der Quell des Lebens für unsere Kinder – wir sind alle ganz schön bionisch.“

Daher auch Bionic, der Titel ihres Albums, das allgemein gute Kritiken bekam. Sie fügt hinzu: „Ich glaube nicht, dass die Kreativität so aus mir herausgeströmt wäre, wenn ich nicht meinen Sohn bekommen hätte und eine frischgebackene Mutter gewesen wäre.“

2005 heiratete sie den Marketing-Experten Jordan Bratman, 2008 wurde ihr Sohn Max Liron Bratman geboren. Sie hätte durchaus gerne mehr Kinder, sagt sie, doch fürs Erste „ist Bionic mein Baby, und so ist das nun einmal.“ Stört sich ihr Mann daran? „Es gibt durchaus Momente, in denen er nicht möchte, dass ich über meine Arbeit spreche“, sagt sie. „Ich verstehe das gut, aber als die Frau, die ich bin, muss ich mich in all meinen Facetten erfüllt fühlen.

Es scheint, dass Selbstverwirklichung und Sexiness für Aguilera untrennlich zusammengehören. Wer den Verdacht hat, dass ihre Mutterschaft sie gemäßigt haben könnte, sollte sich eines Besseren belehren lassen.

„Eine Zeitlang gehört dir dein Körper nicht mehr und du bist gerne bereit, ihn deinem Kind zu überlassen. Doch jetzt fühle ich mich noch selbstbewusster und wohler mit dem, wozu mein Körper in der Lage ist“, erklärt sie. „Dazu kommt, dass ich von Natur aus eine sehr sexuelle Person bin. Deshalb habe ich mich auch bereit erklärt, bei Burlesque mitzuspielen – Ich glaube, die Kunst der Erregung ist eine wunderschöne Kunstform.“

Burlesque wird in den USA im November in die Kinos kommen. Sie spielt darin ein Mädchen aus der Provinz, das von der Cocktail-Kellnerin zum Bühnenstar aufsteigt. Ihr Song Not Myself Tonight gehe darauf zurück, sagt sie, dass sie sich am Set oft irgendwie verloren fühlte. „Ich hatte das Gefühl, ich würde mich an diese Welt verlieren, weil ich jeden Tag in diesem Paralleluniversum und mit diesen Menschen zusammen war. Doch gegen Ende des Drehs war da diese angestaute Energie und Frustration, die ich rauslassen musste. Bionic ist meine ´Ich scheiß drauf und ich finde wieder zu mir selbst´-Platte!“

Gott behüte, dass einer Christina Aguilera zu widersprechen wagt, doch wir können wohl mit Sicherheit sagen, dass es in ihrem Fall nichts Neues ist, wenn sie einfach „drauf scheißt“.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Holger Hutt/ Christine Käppeler
Geschrieben von

Hermione Hoby | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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