Es gibt nur wenige Dinge, über die unter Dramatikern, Filmregisseuren, und Journalisten Einigkeit herrscht. Bezüglich einer Sache scheint jedoch ein beinahe universaler Konsens zu bestehen. Und zwar darüber, dass Sie – der Leser, der Zuhörer – die meiste Zeit gelangweilt sind. Man braucht nur mal einen Blick in irgendeinen aktuellen Ratgeber zum Kunstschaffen oder für die Arbeit in den Medien zu werfen – überall wird davon ausgegangen, das Publikum befände sich stets in einem Zustand rastloser Überdrüssigkeit. Wir als Schreibende sollen eine Art Espresso-Schuss liefern. Pack' sie schnell und halt sie fest – sonst wechseln sie den Kanal oder ziehen weiter.
Also bereiten wir Ihnen ein Spektakel, gehen sicher, dass es auf jed
es auf jeder Seite drei Lacher gibt, packen Sie mit der mächtigen Frage „Was wird als nächstes passieren?“, tun was wir können, Sie mit drastischen Darstellungen von Sex und Gewalt zu schocken. Von den besten New-Writing-Theatern zu den aufdringlichsten Musicals, von der Booker-Shortlist bis in die Redaktionsräume der BBC – überall herrscht dieselbe Überzeugung: Die Aufmerksamkeit von Ihnen da draußen geht schnell verloren.Vielleicht sollten wir – wie es gern gemacht wird – der Erfindung der Fernbedienung die Schuld geben. Irgendwann vor dreißig Jahren wurde es möglich, ziellos zwischen den Kanälen hin und her zu springen. Die Programmmacher gelangten zu der Überzeugung, ihre Shows bräuchten schon in den Eröffnungssekunden einen Höhepunkt und im weiteren Verlauf müsse dann einer den nächsten jagen, nur um die Zuschauer dazu zu bewegen, dran zu bleiben.Treffer, Kracher, LacherAber warum bloß hat dieser Anspruch zu packen, zu fesseln, Treffer und Kracher zu landen (die Sprache ist übrigens fast immer der Sprache der physischen Gewalt entlehnt) auf fast jedes andere Medium übergegriffen? Wenn Sie, das Publikum, schon einmal das Buch oder die Theaterkarte gekauft haben, ist es doch immerhin ziemlich wahrscheinlich, dass Sie dabei bleiben auch wenn die Handlung nur allmählich vorankommt oder auch mal abschweift.Wir scheinen in zunehmendem Maße mit jeder Art von Publikum umzugehen, als hielten die Zuschauer eine Phantom-Fernbedienung in der Hand. Wir haben Angst, dass sie uns abspringen.Der polnische Theaterregisseur Krystian Lupa hat keine Angst vor seinem Publikum. Er geht offenbar ganz und gar nicht davon aus, dass wir alle an einer Art Aufmerksamkeitsstörung leiden. In meinem Heimatland Großbritannien werden die meisten noch nie von Lupa gehört haben. Seine Werke sind auf unserer recht inwärts gewandten Insel nicht allzu bekannt, obwohl er im restlichen Europa in aller Munde ist. Ich selbst wusste nichts über Lupa, bis ich vor kurzem in die polnische Stadt Breslau eingeladen wurde, um der Verleihung des Europäischen Theaterpreises – eines einflussreichen Preises für wichtige Personen des zeitgenössischen Theaters - an Lupa beizuwohnen.Ich kam einen Tag zu spät in Polen an um Factory 2 zu sehen, Lupas achtstündige Andy Warhol- Hommage. Vor der Preisvergabe hatte ich allerdings das Glück sein Stück Marilyn anschauen zu können, eine Work-in-Progress-Aufführung von drei Stunden, die sich in eine neunstündige Erkundung des Themas „Persönlichkeit“ einfügen wird. Das Stück entsprach ganz und gar nicht meinen Erwartungen: Ich schätze, ich war von einer Art Spektakel ausgegangen - vielleicht einem abstrakten, vielleicht einem symbolischem – aber auf jeden Fall von einem dramaturgischen Feuerwerk. Doch das Bemerkenswerte an Lupas Arbeit ist deren Schlichtheit, die Langsamkeit, die Längen.Marilyn als würdevolle PersonIn der Kulisse eines sehr realistischem Nachbaus eines Filmstudio-Geländes zeigte Lupa eine Folge langer Dialoge zwischen Marilyn Monroe und verschiedenen Menschen - ihrem Schauspiellehrer, einem Fotografen und einem Türsteher des Studios. Die Unterhaltungen finden statt, während Monroe sich für die Bühnenadaption der Gebrüder Karamasow von Dostojewski vorbereitet (wie sich es angeblich vor ihrem Tod getan hat). Eines ergriff mich bereits früh zu Beginn des Stückes: Das erste Mal sah ich Monroe als eine wirklich würdevolle Person, die nichts mit der Leinwandpersönlichkeit zu tun hatte, die sie geschaffen hatte. Ich sah eine Frau, von der man sich ohne weiteres vorstellen konnte, dass sie Arthur Miller mit ihrem Geist wie mit ihrem Körper verführen könnte.Abgesehen von den fesselnden letzten Minuten, in denen Videos zum Einsatz kamen und plötzlich eine Menschenmenge auftauchte, war die dreistündige Performance langsam und wurde von Gesprächen bestimmt. Anfangs fiel mir das Zuschauen noch schwer. Die Schauspieler schien es gar nicht zu kümmern, ob ich dabei war oder nicht. In Lupas Arbeit geht es um die Gedanken, die Gefühle des Augenblickes und seine Darsteller haben keine Angst sich Zeit zu nehmen. Interesse daran, den Zuschauer durch die Handlung zu hetzen oder Spannung aufzubauen hat Lupa nicht.Ja, zugegebenermaßen war ich zu Beginn frustriert: Dann aber wurde ich von einer enormen Begeisterung ergriffen: Zum ersten Mal wurde ich als Theaterbesucher wie ein Erwachsener behandelt, als jemand der nicht ständig abgelenkt werden muss, der sich dafür entschieden hatte, zu sein wo er war. Und mir wurde Raum für meine eigenen Reaktionen gelassen. Dabei schien es vollkommen in Ordnung, phasenweise voll dabei zu sein, zuweilen aber auch in die eigene Gedankenwelt abzudriften. Dieses Theater hielt sich nicht mit Besorgnis darüber auf, dass ich mich langweilen könnte. Manchmal war es sogar langweilig: wirklich, wirklich langweilig. Aber geisttötend war es nie – und deshalb um so besser.