Furchtloser Geist

Nachruf Andere verlegten sich aufs Wiederkäuen, sie folgte stets neuen Impulsen. Am Montag verstarb Poly Styrene, die als Frontfrau von X-Ray Spex eine Ikone des Punk wurde

Es dauerte nicht lange , bis die Punkrock-Bewegung der siebziger Jahre ihren kreativen Impuls verlor und auf ermüdende Wiederholungen verfiel. Poly Styrene hingegen, die am Montag im Alter von 53 Jahren an Krebs gestorben ist, stellte diesbezüglich eine der wenigen wirklichen Ausnahmen dar. Durch ihr Schaffen mit der Band X-Ray Spex wurde sie zu einer extravaganten Ikone des feministisch inspirierten Punk und sie beschritt auch im Folgenen stets einen äußerst eigenwilligen Weg - das galt für ihre anschließende Solo-Karriere ebenso wie für ihr Privatleben.

Poly Styrene kam als Marianne Joan Elliott-Said im englischen Bromley in der Grafschaft Kent zur Welt. Ihre Mutter , eine britische Rechtsanwaltssekretärin, zog sie allein groß. Ihr Vater war ein verarmter somalischer Aristokrat. Schon in jungen Jahren legte sie eine äußerst freigeistige Haltung an den Tag, lief mit 15 Jahren von zuhause weg und trampte fast ohne einen Groschen in der Tasche von einem Musikfestival zum nächsten.

Unter dem Namen Mari Elliott nahm sie eine Reggae-Single mit dem Titel Silly Billy auf, die es aber nicht in die Charts schaffte. Dann wurde ihr musikalisches Denken mit einem Mal komplett umgekrempelt, als sie einen frühen Gig der Sex Pistols im Pier Pavillon der Stadt Hastings sah. „Sie hatten keinen Vertrag und ich dachte mir, das könnte ich doch auch machen – einfach da rauf gehen und spielen“, erinnerte sie sich später.
X-Ray Spex wurden 1976 gegründet, nachdem sie eine Anzeige geschaltet hatte, in der sie nach „jungen Punks“ für eine Band suchte. Schnell waren sie in der aufkommenden Punkszene akzeptiert und spielten einen ihrer ersten Gigs zusammen mit den Drones und Chelsea im Londoner Roxy Club. Was sie dort sah, faszinierte sie: „Mädchen, die Hundehalsbänder und Leinen trugen, an denen ihre Freunde sie hinter sich herzogen ... Für mich war es eine sehr sonderbare Nacht, aber all diese Menschen schienen glücklich dabei zu sein, sich auf diese Art und Weise ausdrücken zu können.“

Wider alle Klischees

Poly Styrene war selbst alles andere als konventionell. Sie trug eine äußerst uncoole Zahnspange, neonfarbene Bühnenklamotten und war wild entschlossen, nicht den Babydoll-Pinup-Klischees des Showgeschäfts zu entsprechen. „Schönheit ist nichts Schlechtes“, sagte sie „aber ob es der Sache der Gleichberechtigung der Frauen wirklich hilft, muss jede für sich entscheiden.“

Die 1977er Single Oh Bondage, Up Yours! wurde zum bekanntesten Lied der Band – satte Gitarrenriffs, quäkende Saxophone und Styrenes schrille, nebelhornartige Stimme. Die Themen Opferrolle und Konsumismus, die in den Lyrics anklingen, waren typisch für Poly. Die erste Zeile des Songs: „Some people think little girls should be seen and not heard“, schmetterte sie heraus wie eine Granate.

Die Band trat bei einigen der wichtigsten Veranstaltungen der Punk-Ära auf: 1978 spielten sie auf dem Front Row Festival in der Kneipe Hope Anchor in Nordlondoner Stadtteil Islington und dem riesigen Rock Against Racism Konzert im Victoria Park in Hackney, Ost-London, zusammen mit The Clash, Steel Pulse and der Tom Robinson Band. Im November 1978 brachten sie ihr Debütalbum Germ Free Adolescents heraus, das vor Anspielungen an eine konsumistische, abgestumpfte und hirntote Gesellschaft nur so strotzte.

Falsche Diagnose

Dann aber verließ Poly Styrene 1979 plötzlich die Band. Sie fühlte sich ausgelaugt von dem Tourleben. Später wurde ihr fälschlicherweise Schizophrenie attestiert und man steckte sie mehrere Monate lang in eine psychatrische Anstalt. Die Ärzte diagnostizierten schließlich eine manische Depression. 1980 nahm sie ihr erstes Solo-Album Translucence auf, bei dem sie die rauen Gitarren von X-Ray Spex gegen einen jazzigeren und sanfteren Sound eintauschte. 1983 trat sie der Hare-Krischna-Bewegung bei und lebte eine zeitlang in der britischen Zentrale der Sekte, Bhaktivedanta Manor.

1991 kamen X-Ray Spex noch einmal zusammen und spielten einen ausverkauften Gig in der Brixton Academy in London. 1995 tauchten sie abermals auf, dieses Mal mit ihrem zweiten Album Conscious Consumer. 2004 veröffentlichte Poly das Soloalbum Flower Aeroplane mit einer Reihe beruhigender musikalischer Mantras. Eine weitere ausgelassene Reunion von X-Ray Spex 2008 im Londoner Roundhouse löste einen neuen Kreativschub aus und führte unter anderem zu dem Song Black Christmas, den sie zusammen mit ihrer Tochter Celeste aufnahm. Das Lied handelt von Bruce Pardo, der 2008 als Santa Claus verkleidet bei einer Weihnachtsfeier in Los Angeles mehrere Leute umbrachte.

Poly Styrenes Album Generation Indigo, mit originellen, frischen und ein paar überraschend kommerziellen Songs erntete bei seiner Veröffentlichung vor einem Monat fantastische Kritiken. „Ich kanalisiere meine Songs einfach wie ein Medium“, sagte sie über das neue Material. „Wenn meine Freunde sie mögen, freue ich nich darüber, dass sie wohl gut sind.“ Mit den neuen Liedern wollte sie wieder auf Tour gehen.

Bis zum Schluss blieb sie ihrer ursprünglichen Punk-Ästhetik treu: „Die Haltung des Punk besteht weiter“, sagte sie. „Das liegt an dem furchtlosen Geist, die Dinge zum Besseren verändern zu wollen.“

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Adam Sweeting | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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