Gaddafis Gegenspieler

Kampfzone Benghazi Neben der Suche nach den politischen Konsequenzen der Libyen-Intervention drängt sich immer stärker die Frage auf, welche Klientel der Westen da eigentlich beschützt

Nur wenig ist über die Zusammensetzung und politische Ausrichtung des Nationalen Übergangsrates bekannt, der die Kontrolle über Benghazi und andere Teile Libyens ausübt. Nicht einmal sein Name steht eindeutig fest. Gelegentlich ist auch vom „Revolutionsrat“ die Rede, der sich aus elf namentlich bekannten Mitgliedern rekrutiert, während die Identität der restlichen 20 angeblich aus Gründen der Sicherheit zurückgehalten wird.

Mustafa Abdul Jalil, der frühere Justizminister, der dem Rat vorsitzt, wurde von Gaddafi zum Verräter erklärt und mit einem Kopfgeld von 400.000 Dollar bedacht. In einem Interview mit der US-Website Daily Beast forderte Jalil die internationale Gemeinschaft dazu auf, „unseren Rat als den einzigen Repräsentanten des libyschen Volkes anzuerkennen“. Auch wenn von den westlichen Mächten bislang nur Frankreich diesem Wunsch nachgekommen ist, so unterstützen doch auch Großbritannien, die EU und Teile der Arabischen Liga den Übergangsrat. Auch Hillary Clinton traf vor einer Woche mit einem Ratsmitglied zusammen, um zu erörtern, wie die USA helfen könnten.
Jalil behauptet, der Rat werde von der Bevölkerung unterstützt und beziehe seine Legitimität von den Gremien vor Ort, die von den Revolutionären in jedem Dorf und jeder Stadt eingerichtet worden seien. „Wir streben ein neues, demokratisches, ziviles und bürgerliches Libyen an, das von einer demokratischen und zivilen Regierung und einem Mehrparteiensystem geführt wird. Die Mitglieder des Rates wurden ohne Ansehen ihrer politische Ansichten oder Neigungen ausgewählt“, so Jalil.

„Das ist nicht die ganze Wahrheit“, sagt Venetia Rainey, die für das Online-Magazin First Post schreibt. „Die Schlüsselfiguren des Rates, zumindest diejenigen, die wir kennen, stammen allesamt aus der im Nordosten angesiedelten Stammeskonföderation der Harabi.“ Dies gilt auch für Jalil und Generalmajor Abdul Fattah Younis, ehemals Innenminister Gaddafis, der ebenfalls zu den Rebellen übergelaufen ist. „Auch wenn der Einfluss der Stämme zurückgegangen ist, bestehen die Spaltungen weiter fort. Die Haltung der Haribi zu Gaddafi ist nicht notwendigerweise identisch mit der Haltung der restlichen Libyer“, vermerkt Rainy.

Islamistische Tradition

Westliche Stämme wie die Hasoony, die zu Gaddafi stehen, wurden in der Vergangenheit auf Kosten der Harabi und anderer bevorzugt, wie das Wall Street Journal aus Benghazi berichtet. „Schon früh in seiner Amtszeit nahm der Oberst die mächtigen Stämme im Osten ins Visier, verteilte deren Land an andere und versah nur wenige von ihnen mit einflussreichen Posten ... Dass die schwächeren Stämme im Sog der Revolte nun gestärkt wurden, kann helfen zu erklären, warum die Anhänger Gaddafis verzweifelter an ihrer Macht festhalten, als dies Nutznießer der Regime in Tunesien und Ägypten taten. „Die wissen, dass es ihnen nicht besonders gut ergehen wird, wenn das Regime abgewirtschaftet hat“, meint der Libyen-Experte Jason Pack von der Universität Oxford gegenüber dem Blatt.

Der Osten Libyens hat zudem eine andere religiöse Tradition als der Rest des Landes, was sich nach Ansicht von Andy Stone, Kolumnist der Nolan Chart Website, im Nationalen Übergangsrat der Rebellen niedergeschlagen hat. „Wir haben es hier nicht mit einer Art Solidarnosc zu tun. Die Revolte begann mit Protesten zwischen dem 15. und 17. Februar, die von einer Gruppe organisiert wurden, die sich Nationalkonferenz der libyschen Opposition nennt – einer 2005 in London gegründeten Mantelorganisation. Die Proteste waren eindeutig fundamentalistisch-religiös motiviert und sollten an die Demonstrationen gegen die 2006 in dänischen Zeitungen veröffentlichten Mohammed-Karikaturen erinnern, die in Benghazi besonders gewalttätig ausfielen und in Anti-Gaddafi-Demonstrationen umgeschlagen waren.“

Stone argumentiert weiter, dass ein Großteil der Opposition im Osten in der ausgeprägten islamistischen Tradition der Region verwurzelt sei, was sich zum Beispiel in der großen Zahl ostlibyscher Jihadisten bemerkbar machte, die sich am Krieg im Irak beteiligt hatten – nur aus Saudi-Arabien kamen mehr. Des weiteren habe die al-Qaida nahestehende und gegen Gaddafi gerichtete libysch-islamische Kampfgruppe, von deren Mitgliedern viele in Afghanistan gekämpft haben, in der Region große Sympathien gefunden. „Es sind eben diese religiös und ideologisch geschulten Ost-Libyer, die nun bewaffnet und gegen Gaddafi in Stellung gebracht werden. Dessen Behauptung, dass seine Gegner ausnahmslos al-Qaida angehörten, ist zwar überzogen, aber auch nicht allzu weit hergeholt. Wer behauptet, die Ost-Libyer würden für säkulare, liberale Werte stehen, trägt eine gewaltige Beweislast“, so Stone.

Hat Freiheit eine Priorität?

Ein ehemaliger britischer Diplomat, der sich gut in Libyen auskennt, hält diese und andere Behauptungen, dass Islamisten die Oppositionsbewegung im Osten dominierten, für übertrieben. Das Gros der Bevölkerung in Benghazi und anderen Städten sei religiös gemäßigt und fühle sich vorrangig durch ihre Opposition zu Gaddafi angetrieben.
Aber Zweifel über die Motive der Rebellen und ihre Fähigkeit, ihre bislang bekannten Ziele zu erreichen, werfen weitere Fragen über die Aktionen der Kräfte auf. „Welche Verantwortung haben wir gegenüber den Stammesfehden, die wir möglicherweise vom Zaun gebrochen haben?“, fragte der amerikanische Kolumnist George Will. „Wie lange sind wir bereit, die Teilung Libyens zu überwachen? Viele Journalisten nennen Gaddafis Gegner Freiheitskämpfer und vielleicht sind sie dies auch. Aber keiner, der sie so nennt, weiß wirklich, wie die Aufständischen zueinander stehen, was sie unter Freiheit verstehen oder ob Freiheit überhaupt irgendeine Priorität für sie hat.“


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Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Simon Tisdall | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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