Ganz im Ernst

Porträt Patti Smith wollte Bücher schreiben, wurde aber erstmal Rock-Star, Stil-Ikone und Künstler-Muse. Jetzt hat sie auch einen ­Literaturpreis. Wie hat sie das geschafft?

Als Patti Smith in den späten Sechzigern in New Yorker Buchläden jobbte, verzichtete sie oft darauf, sich ein Mittagessen zu holen, um das Geld für Zeichenutensilien zu sparen. Sie wickelte Bücher ein, stand an der Kasse, bestückte Regale mit den Gewinnern des National Book Award. „Damals“, so erzählte eine sichtlich berührte Smith ihrem Publikum vergangenen November bei einer Lesung, „träumte ich davon, mein eigenes Buch zu besitzen, eines zu schreiben, das ich dann auf ein Regal stellen könnte“. Nie hätte sie sich träumen lassen, einmal auch Besitzerin eines National Book Awards zu sein.

Als Zuhörer der Lesung empfand man es nur als konsequent, dass sich ihr inzwischen preisgekröntes Buch Just Kids genau mit jener Zeit beschäftigt, in der sie in New Yorker Buchläden jobbte – und natürlich mit dem Mann, der sie in dieser Zeit begleitete: Robert Mapplethorpe. Er baute sie auf, wenn sie an sich zweifelte: „Er weigerte sich, zuzuhören, wenn ich meine Fähigkeiten in Frage stellte.“ Mapplethorpe ließ sie daran glauben, dass ihre Kunst und ihre Träume wichtig waren. Und auch daran, dass diese sich durchsetzen würden – wenn sie nur lang genug an ihnen festhielt.

Zugegeben, Mapplethorpe hatte es auch mit einer gelehrigen Schülerin zu tun. Smiths Wagemut war groß und trotz extremer Armut (ihre ersten Nächte in New York verbrachte sie auf Parkbänken im Central Park), wusste sie, was sie wollte: „Als ich noch Bücher in Regale räumte, sprachen mich bereits Leute aus der Musikbranche an, sahen Potenzial in mir und machten mir bereits 1971/72 ziemlich lukrative Angebote, Alben aufzunehmen. Allerdings nicht so, wie ich das wollte“, erzählt Smith bei unserem Treffen in einem kleinen Hotel im Pariser Stadtzentrum. „Diese Musik-Leute hatten immer eine genaue Vorstellung von dem, was ich sein sollte – oder wie sie mich umformen könnten. Das Geld hat mich aber nicht gereizt.“

Etwas Wundervolles schaffen

Gab es je eine Situation, in der es ihr schwer fiel, den Verlockungen des Geldes zu widerstehen? „Nein“, die Antwort kommt prompt und unmissverständlich. „Wenn Dir jemand eine Million Dollar anbieten würde, und du müsstest all dem entgegengesetzt handeln, was dich ausmacht – ich würde keine Sekunde überlegen.“ Solche Entscheidungen hätten ihr nie schlaflose Nächte bereitet. „Gequält hat mich da schon eher die Frage, welcher Vers in welches Gedicht passt oder welches Wort in welchen Satz. Ich will immer etwas wirklich Wundervolles schaffen.“

Patti Smith hat eine einzigartige Präsenz, der man sich bei einem persönlichen Treffen nicht entziehen kann. Zu dieser Präsenz gehört natürlich auch das markante Aussehen der 64-Jährigen – das starke, maskuline Gesicht und das strohige Haar, die dunkle Mütze und der übergroße Mantel, der nicht so recht in das vornehme Pariser Hotel passen mag. Doch mehr noch gehört dazu ihre Wertschätzung für das menschliche Staunen, ihre Offenheit gegenüber der Arbeit und der Begeisterung anderer. Diese Fähigkeit war auch eine Überlebensstrategie: Denn obwohl ihre Karriere eine stürmische – und nach 1975, als sie mit dem Debütalbum Horses zum Rockstar aufstieg, auch eine widerspenstige – war, ist sie von wechselseitiger Verehrung und Respekt geprägt. Smith suchte und sammelte Idole und Freunde, die sie Sachen lehren konnten und sie weiterbrachten. Sie liebte es, sich von anderen Künstlern inspirieren zu lassen. Es ist eine angenehm unironische Leidenschaft: „Ich bin kein ironischer Mensch“, sagte sie einst. „Ich finde nicht immer die richtigen Worte. Manchmal liefere ich nur Mist ab, aber eins bin ich nie: ironisch.“

Welche Einflüsse waren zu Beginn ihrer Karriere die wichtigsten? Sie nennt Rimbaud, dessen Illuminationen sie als Teenager aus einem Second-Hand-Buchladen stahl und dessen magische Dichtungen und ausgelassenes Leben sie seitdem inspirieren; den englischen Dichter William Blake und Jim Morrison, den sie auf der Bühne mit den Doors sah und erlebte, wie sein Auftritt sich in mehr verwandelte als ein Rock-Konzert, in eine Performance.

Sam Shepard inspirierte sie ebenfalls. Smith lernte den Schauspieler und Schriftsteller kennen, als er Anfang der Siebziger in einer Band spielte. Sie wurden ein Liebespaar. Sein Ratschlag: „Wenn du an deine Grenzen stößt, reiß sie einfach ein.“ William Burroughs, den sie traf, als sie mit Mapplethorpe im Chelsea Hotel lebte, lehrte sie ebenfalls etwas: „William sagte: ‚Wenn du deinen Namen aus dem Dreck hältst, wird er eines Tages mehr wert sein.‘ Und obwohl ich nur Smith heiße, fand ich diesen Ratschlag brauchbar.“ Als sie sich verliebte und eine Familie gründete, wählte sie dafür mit dem Gitarristen Fred „Sonic“ Smith von der Band MC5 natürlich auch einen Partner, von dem sie überzeugt war, er könne sie etwas lehren.


Als er 1994 an einem Schlaganfall starb und sie mit zwei kleinen Kindern zurückließ, fühlte sie sich völlig verloren. „Das war eine sehr schwere Zeit, als ich entscheiden musste, was ich ohne ihn mit mir anfangen sollte“, erzählt Smith. „In solchen Momenten gehe ich in Gedanken zurück in die Zeit, als ich elf Jahre alt war und wusste, wer ich bin. Sieben Jahre, elf – ich spule diese ganzen Jahre zurück und fange in meinem Kopf noch einmal von vorn an.“

Smith wurde 1946 in Chicago geboren und wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Ihre Mutter war Kellnerin, ihr Vater montierte in einer Fabrik Thermostatgehäuse – Jobs, die gerade genug, manchmal auch nicht genug Geld einbrachten, um vier Kinder zu ernähren. Bücher, Musik und so viel Kunst, wie sie sich leisten konnten, gab es jedoch immer. Ihr Vater nahm Sokrates mit in die Fabrik und rezitierte Platon beim Abendessen, erzählt Smith. Ihre Mutter war in den Dreißigern eine Nachtclub-Sängerin gewesen, sie liebte die Oper und die Vorboten des Rock’n’Roll.

Als Kind träumte Smith von einem Leben als Opernsängerin. Angetan hatten es ihr aber nicht die schmachtenden, romantischen Frauenrollen, sondern die Tenöre, die die Draufgänger singen durften. Es beeindruckte sie wenig, dass von ihr erwartet wurde, sich zu benehmen, wie ein Mädchen im ländlichen Amerika der fünfziger Jahre sich zu benehmen hatte. Ein Mädchen, das später entweder Friseurin oder Hausfrau werden würde. „Und die Jungen gingen dann entweder nach Vietnam oder wurden Polizisten. Mädchen hatte nur diese Alternativen, Jungs hatten nur jene. Ich interessierte mich für keine von ihnen.“ Also war sie die Außenseiterin: „Ich hatte mehr Kontakt mit meinem Hund als mit dem Rest meiner Umwelt.“

Draculas Tochter

Bücher wurden nach und nach zu Smiths Welt und damit auch das Bedürfnis zu ­schreiben. „Alles andere baute darauf auf. Das ist der rote Faden in meinem Leben – der Wunsch zu schreiben.“ Es brachte sie auch zum Singen. „Ich bin keine Musikerin. Ich hätte nie daran gedacht, in einer Rock’n’Roll-Band mitzumachen. Ich wurde da einfach reingezogen.“

Mit 20 wurde sie schwanger. Wie sie heute darüber spricht, mit geschlossenen Augen und sehr angespannt, sagt mehr über das damalige gesellschaftliche Klima in den USA aus als über sie selbst. „Tja, wissen Sie – das ist eine riesige Entscheidung für jeden, den es betrifft, besonders für einen jungen Menschen. Es war nichts, das mir leicht fiel. Ich hatte weder den emotionalen noch den finanziellen Rückhalt, um ein Kind großzuziehen. Ich tat einfach das Beste, was ich tun konnte. Wie soll ich das erklären?“ Aus ihrer Autobiografie wird deutlich, dass die Schwangerschaft ihrer Kindheit ein jähes Ende bereitete, ihrem Leben Sinn und Antrieb verlieh: Während sie auf dem Bett saß und sich Mut zusprach, um ihrer Familie die Schwangerschaft zu beichten und zu erzählen, wie sie ein gebildetes, kinderloses Paar als Adoptiveltern für das Baby gefunden hatte, „legte sich ein überwältigendes Gefühl des Bestimmtseins über all meine Ängste. Ich wusste, ich würde eine Künstlerin werden. Ich würde mein Talent unter Beweis stellen.“ Man warf sie aus dem College. Als sie in den Wehen lag, wurde sie von den Krankenschwestern abfällig „Draculas Tochter“ genannt. Hatte sie nach der Geburt je wieder Kontakt mit ihrem Kind? Darüber möchte sie nicht sprechen, sagt sie.

Feministische Ikone

Horses gilt nicht nur als eines der besten Debüts der Popgeschichte und Wegbereiter der amerikanischen Punkbewegung, sondern hatte auch ein Coverbild – fotografiert von Robert Mapplethorpe –, das sofort zu einem ikonografischen Klassiker avancierte. Smith trug darauf ein weißes Hemd, eine ungebundene, schwarze Krawatte und hatte ein schwarzes Sakko über die Schulter geworfen. Selbstbewusst blickte sie in die Kamera. „Es war das elektrisierendste Bild einer Frau meiner Generation, das ich je gesehen hatte“, bemerkte die Feministin Camille Paglia einmal. „Es erhielt sofort einen Platz an meiner Wand, so als handle es sich um eine Ikone. Für mich symbolisierte es nicht nur die Emanzipation der Frau, sondern auch die Verschmelzung von höherer Kunst und Popkultur.“ Allerdings hatte Smith nie im Sinn, irgendetwas außer sich selbst zu repräsentieren, besonders keinerlei politische Bewegung. Sie erforschte lieber weiterhin Wortwelten und Klang­sphären.

Ihre Karriere gab ihr die Möglichkeit, viel zu reisen. Man nannte sie „Godmother of Punk“. Letztlich fand sie darin aber nicht die Erfüllung, nach der sie sich sehnte. Sie begegnete Fred Smith, heiratete und zog mit ihm in eine Vorstadt Detroits, wo sie ohne Führerschein auf einmal im Land der Autos festsaß. „Er wollte dort leben“, sagte sie einem Journalisten vor einigen Jahren. „Er war der Mann.“

Diejenigen, die in ihr ein feministisches Vorbild ausgemacht hatten, fühlten sich betrogen. Sie habe sich verkauft, sie nannten Smith eine „häusliche Kuh“ – Worte, die offenbar noch immer schmerzen. „Ich habe trotzdem gearbeitet. Manche haben behauptet, ich hätte in den Achtzigern einfach nichts gemacht“, sagt sie und hebt die Stimme. „Erst einmal ist Mutter und Ehefrau wohl der härteste Job, den man sich vorstellen kann. Und dann habe ich immer auch geschrieben. Jeden Tag. Just Kids hätte ich nicht schreiben können, hätte ich in den Achtzigern nicht an meinen schriftstellerischen Fähigkeiten gearbeitet.“

Sie schrieb damals jeden Tag drei Stunden, zwischen 5 Uhr und 8 Uhr morgens, bis die Kinder aufwachten. „Mit einem Mann und zwei Kindern musste ich lernen, meine Energie einzuteilen und diszipliniert zu sein. Das war eine sehr nützliche Erfahrung. Zuerst habe ich mich dagegen gewehrt, aber es hat mir gut getan.“ Mit ihrem Mann nahm sie auch ein Album auf, es floppte. Sie veröffentliche Gedichtbände und schrieb „viele unfertige Bücher“, einige schloss sie auch ab, aber veröffentlichte sie nicht. Momentan arbeitet sie gleichzeitig an einer Fortsetzung von Just Kids und an einer Detektivgeschichte, erzählt sie. Im Februar soll auch die Arbeit an ihrem neuen Album abgeschlossen werden.

Mit Dylan auf Tournee

Nach Freds Tod fand Smith zwangsläufig den Weg zurück auf die Bühne, um ihre Familie durchzubringen. Freunde unterstützten sie dabei: Ihr Anwalt organisierte für die Kinder Plätze in einer progressiven Privatschule; R.E.M.-Frontmann Michael Stipe, der Horses als Anstoß für seine eigene Karriere beschreibt, suchte ein neues Haus für sie und Bob Dylan lud sie ein, mit ihm auf Tournee zu gehen. Heute arbeitet sie immer häufiger mit ihren Kindern zusammen – ihr Sohn ist Gitarrist und mit Meg White von den White Stripes verheiratet. Erst am Abend vor unserem Interview spielte Smith in Paris einen Gig mit ihrer Tochter, einer Komponistin.

Den Vormittag vor unserem Treffen verbrachte sie damit, sich immer wieder PJ Harvey anzuhören, erzählt Smith. „Sie hat dieses neue Lied, The Words That Maketh Murder – was für ein grandioser Song. Er macht mich einfach glücklich zu existieren. Jedes Mal, wenn jemand – mich eingeschlossen – etwas Wertvolles erschafft, macht es mich froh, am Leben zu sein.“ Ihr Gesicht strahlt, ihre Augen leuchten. Und ich bin fest davon überzeugt, dass die Freude, die ihr diese Dinge bereiten, die Offenheit für sie und das Bedürfnis, selbst solche Dinge zu schaffen – dass all dies viel spannender und inspirierender ist, als als Ikone für bestimmte politische Überzeugungen zu dienen.

Aida Edemariam führt für den Guardian vor allem porträtierende Gespräche.Im Freitag erschien von ihr zuletzt ein Porträt von Nana Mouskouri.

Als Patti Smith im Sommer 1967 Robert Mapplethorpe in New York trifft, ist das der Beginn einer Beziehung, die die amerikanische Popkultur nachhaltig prägen wird. Beide sind 20, haben kein Geld und wissen nur, dass sie Künstler werden wollen. Eine Zeitlang sind sie ein Liebespaar und leben im Chelsea Hotel, wo sie unter anderem Janis Joplin, Allen Ginsberg und Sam Shepard kennenlernen. Nachdem sich Mapplethorpe als homosexuell geoutet hat, wandelt sich die Beziehung zwischen ihm und Smith zu einer lebenslangen Künstler-Freundschaft. Sie macht als Sängerin Karriere, er als Fotograf und bildender Künstler. 1975 nimmt er das legendäre Foto für Smiths Debüt-Platte Horses auf. 1989 stirbt Mapplethorpe an Aids. Smith erzählt von ihrer besonderen Freundschaft in dem 2010 erschienen Buch (Kiepenheuer & Witsch), für das sie im November den amerikanischen National Book Award erhielt. Welche zentrale Rolle Smith für das Werk von Mapplethorpe spielte, zeigt bis zum 27. März auch eine Retrospektive des Fotografen im C/O Berlin (co-berlin.info). Ein Raum der Ausstellung ist allein Bildern gewidmet, die Mapplethorpe über die Jahre von Patti Smith machte. jap

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Übersetzung: Therese Hopfmann
Geschrieben von

Aida Edemariam | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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