Notstand Halbwegs noch intakte Hospitäler sind mit Lebenden und Toten überfüllt. Daher steht eine Einrichtung wie Dar Al Shifa am Rande des Zusammenbruchs. Über allem lastet die Angst, wie die Al-Ahli-Arab-Klinik von einer Rakete getroffen zu werden
Im Krankenhaus Dar Al Shifa stapeln sich die Toten
Foto: Mahmud Hams / AFP via Getty Images
Im Dar Al Shifa-Krankenhaus von Gaza-City schlafen die Lebenden zwischen den mit Patienten gefüllten Betten, in den Fluren und an anderen Orten des Geländes, während die Toten in der Leichenhalle überhandnehmen. Der Name Dar Al Shifa bedeutet übersetzt „Haus der Heilung“, aber die Menschen hier suchen nicht nur nach Heilung, sondern vor allem eine Zuflucht vor Bomben und Raketen, die stündlich auf Gaza förmlich niederprasseln. Sie beten, das Krankenhaus möge ihnen wenigstens etwas Schutz bieten. An den eisernen Handläufen des Hofes am Eingang sind Decken aufgehängt, um Schatten zu spenden, während Familien mit Kindern und den Resten ihrer Habseligkeiten im Treppenhaus ausharren.
Dar Al Shifa ist nicht nur die größt
46;ßte medizinische Einrichtung im Gazastreifen, sondern zugleich eine Art Nervenzentrum des gesamten Gesundheitssystems. Die lokalen Behörden wie auch Hilfsorganisationen schätzen, dass inzwischen auf dem gesamten Gelände 35.000 bis 40.000 Menschen campieren. „Die Ärzte haben ihre Familien aus Sicherheitsgründen ins Krankenhaus gebracht. Ich habe letzte Nacht auf einem Operationstisch geschlafen“, sagte Professor Ghassan Abu-Sittah, einer der Chirurgen, im Telefonat.„Die Leute haben enorme Angst und glauben, dass dies der sicherste Ort ist. Alles, was ringsherum geschieht, bestätigt ihnen, dass dies der sicherste Ort ist.“ Doch stelle die hohe Zahl der Schutzsuchenden ein Risiko dar, da die hier Gestrandeten Nahrung und Wasser brauchten, wovon es aber so gut wie nichts gäbe. „Dieser Andrang wird zu einem Ausbruch von Infektionskrankheiten führen. Damit droht eine Katastrophe für die öffentliche Gesundheit“, so Abu-Sittah.Medizinische Versorgung in Gaza ist am LimitAls die israelische Artillerie damit begann, den Gazastreifen auch vom Meer aus anzugreifen und ganze Stadtblöcke zu zerstören, nachdem die Hamas-Kämpfer einen mörderischen Überfall auf Israel gestartet hatten, wandten viele ein Verhalten an, das sie bei früheren Angriffen gelernt hatten: Sie flohen ins Krankenhaus.Im zurückliegenden Jahrzehnt war dieses Krankenhauses von Bombardierungen weitgehend verschont geblieben. Am Eingang empfängt ein weitläufiger Bereich vor den Türen der Notaufnahme die Fernsehteams, inmitten der Sirenen von Krankenwagen und dem ständigen Anblick von Patienten, die auf Tragen gebracht werden. Diesmal gerät das Krankenhaus an seine Grenzen. Und jüngste Bemühungen des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, die Notaufnahme zu modernisieren, kommen zu spät.Als vor einer Woche die israelische Regierung eine „vollständige Belagerung“ des Gazastreifens anordnete und die Versorgung mit Wasser, Nahrungsmitteln und Treibstoff unterbrach, hatte das auch für das „Haus der Heilung“ Konsequenzen. Es lief nicht nur Gefahr, ohne Strom dazustehen, sondern auch keine Dieselvorräte mehr für seine Notstromaggregate zu haben. Tage später erließ das israelische Militär einen Evakuierungsbefehl für alle 1,1 Millionen Menschen nördlich des Gaza-Flusses, einschließlich Gaza-City, und forderte sie auf, nach Süden zu fliehen.Evakuierung der Krankenhäuser ist unmöglichDas Shifa-Krankenhaus und mehrere andere medizinische Einrichtungen signalisierten sofort, eine Verlegung sei unmöglich. Die Weltgesundheitsorganisation WHO sekundierte und bezeichnete die Anordnung zur Räumung von Krankenhäusern als „Todesurteil“ für Tausende von Kranken und Verletzten. In Shifa gebe es bereits keine Betten mehr, sagte Professor Ghassan Abu-Sittah, und Patienten könnten nicht operiert werden, weil die Operationssäle voller Menschen seien. Ganz abgesehen davon, dass die Vorräte an Medikamenten gefährlich zur Neige gingen.Mittlerweile ist die Leichenhalle des Shifa-Krankenhauses – sie hat eine Kapazität für 30 Tote – derart überfüllt, dass sich Krankenhausmitarbeiter gezwungen sehen, die Toten vor einem begehbaren Kühlschrank zu stapeln. Was nichts daran ändert, dass Dutzende nebeneinander auf dem Parkplatz der Klinik liegen, einige in einem Zelt, andere in der prallen Sonne. „Die Leichen stapeln sich auch deshalb, weil die Menschen große Angst haben, ihre Toten zu begraben“, sagte Abu-Sittah.Die Krankenschwester Abu Elias Shobaki meint gegenüber Associated Press (AP), das Krankenhaus sei jetzt ein Friedhof. „Ich bin emotional und körperlich erschöpft. Ich muss mich mühsam davon abhalten, darüber nachzudenken, wie viel schlimmer es noch werden kann.“ Als die Kliniken im nördlichen Gazastreifen wegen des Evakuierungsbefehls und wegen der permanenten Angriffe schließen mussten, gab es keine Alternative, als die Patienten nach Shifa zu verlegen.Einsamkeit der Überlebenden„Derzeit befindet sich etwa ein Viertel aller Patienten im Gazastreifen in Shifa“, sagte Dr. Zaher Sahloul von MedGlobal, das medizinische Zentren in Gaza unterstützt. „Das ist eine zusätzliche Belastung neben den Familien der Ärzte und Krankenschwestern sowie der Patienten und Journalisten, die alle dort untergebracht sind.“ Eines Abends entschloss sich Doktor Medhat Saidam, der seit 2008 in diesem Krankenhaus arbeitete, seine Schwester auf dem Weg nach Hause zu begleiten, wo 30 seiner Familienmitglieder Zuflucht gesucht hatten. Er entschied sich, über Nacht bei ihnen zu bleiben. Um ein Uhr morgens wurde er zusammen mit allen anderen getötet.„Wir können nur noch die lebensrettenden, unumgänglichen Operationen vornehmen. Nicht nur, weil die Vorräte erschöpft sind, sondern vor allem das Personal erschöpft ist “, sagte Professor Abu-Sittah. „Bei vielen wurden nahe Angehörige getötet, andere versuchen gerade, ihre Familien in Sicherheit zu bringen.“Der Mediziner Abu-Sittah atmet mit den tiefen Zügen eines entkräfteten Menschen, während er einige der Fälle beschreibt, mit denen er gerade konfrontiert war. „Heute Morgen hatten wir zwei Kinder aus verschiedenen Orten zu behandeln, beide schwer verletzt, beide mit dem Begleitpapier versehen: ,Verwundetes Kind, keine überlebende Familie‘.“ Es seien die herzzerreißendsten Dinge, die man jemals zu sehen bekam. „Es fällt einem schwer zu verstehen, während die Notaufnahme voller schreiender Angehöriger und Patienten, herumrennender Ärzte und Krankenschwestern ist, an einen ruhigen Ort zu kommen, an dem ein Rollwagen mit einem verwundeten Kind steht und niemand außer dem medizinischen Personal in der Nähe ist. Dies ist ein Krieg gegen Kinder. Selbst die Überlebenden werden den Rest ihres Lebens allein verbringen.“
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