Gebt doch wenigstens zu, dass ihr Angst habt

Charlie Hebdo Journalisten leben mit der Lüge, den Mächtigen furchtlos die Meinung zu geigen – dass sie sich aus Angst auch selbst zensieren, gestehen sie sich dabei nicht ein

In Großbritannien gibt es ein Blasphemie-Gesetz. Es wurde zwar von keinem Parlament verabschiedet und nie haben die Bürger darüber abgestimmt. Es gibt keine Richter, die über seine Anwendung wachen und keine Jury entscheidet über etwaige Verstöße. Es gibt keine Möglichkeit, ein Urteil, wenn es erst einmal gesprochen wurde, anzufechten, und wer gegen das Gesetz verstößt wird mit dem Tode bestraft. Nicht die Polizei sorgt für seine Einhaltung, sondern eine Angst, die noch nicht einmal als solche benannt wird. Wir fürchten uns sogar davor zugeben, dass wir Angst haben.

Wir sind Feiglinge. Es ist das eine, zu sagen, man finde die Karikaturen von Charlie Hebdo nicht gut. Doch die BBC, Channel 4 und viele Zeitungen scheuen sich, überhaupt irgendwelche Darstellungen Mohammeds auszustrahlen oder abzubilden. Sie könnten diese Selbstzensur wenigstens einräumen und sagen, sie hätten Angst um ihre Mitarbeiter – damit würden sie sich einen Rest ihres Ansehens bewahren. Sie könnten erklären: „Unsere Selbstzensur hat nichts mit Respekt zu tun. Wir hassen Leute, die ihre Tabus mit Kalaschnikows durchsetzen. Aber wir wollen uns nicht unser ganzes Leben lang verstecken müssen wie Salman Rushdie. Oder auf der Straße erstochen werden wie Theo van Gogh. Oder miterleben müssen, wie man uns die Tür mit einer Axt einschlägt wie Kurt Westergaard. Also halten wir uns zurück.“

Ein ehrliches Eingeständnis, dass die Einschüchterung funktioniert, würde mit der Mär aufräumen, Journalisten würden den Mächtigen stets furchtlos und unerschrocken die Wahrheit entgegenschmettern. Und es wäre eine kleine Geste der Solidarität mit säkularen Pakistanern, die bedroht werden, weil sie die Barbarei im Namen Gottes ablehnen, oder britischen Eltern, die krank vor Sorge sind, weil sie befürchten, ihre Söhne könnten sich dem IS anschließen.

Stattdessen leben viele Journalisten, Künstler und Comedians seit Jahren mit der Lüge, sie würden es mit den Mächtigen aufnehmen. Dabei tun sie das nur solange die Mächtigen, die sie angreifen, nicht gewaltbereit sind und uns im Zweifel sogar töten würden.

Der Massenmord an den Karikaturisten von Charlie Hebdo, den Polizisten und Juden wird unsere Welt verändern – fast mit Sicherheit zum Schlechten. Es sei denn, wir schaffen es, die Angst und die Selbstzensur zu überwinden, die nicht nur in den Medien weit verbreitet ist.

Als Kollegen in der vergangenen Woche Historiker anfragten, in einem Londoner Museum über die lange Geschichte von Mohammed-Darstellungen in der Kunst zu sprechen, versuchten Pressesprecher sie panisch zum Schweigen zu bringen. Der Historiker Tom Holland, der Morddrohungen erhielt, nachdem er den Schöpfungsmythos des Islam infrage gestellt hatte, sagte: „Ich kenne kein anderes Gebiet der Geschichtswissenschaft, wo die Debatte so von Angst bestimmt ist.“ Er hofft zwar, dass die Geschichtswissenschaft auch weiterhin an der Überzeugung festhält, dass der Koran von Menschen geschrieben wurde, zweifelt aber daran, dass Journalisten diesbezügliche Forschungsergebnisse allzu bereitwillig an die Öffentlichkeit tragen werden.

Die Kapitulation, von der ich spreche, ist nicht gerade klein. Im 19. Jahrhundert hat die Textkritik deutscher Gelehrter gezeigt, dass es sich bei dem, was die Bibel als Wort Gottes ausgab, um ein Durcheinander einander widersprechender Geschichten handelt. Für Christen- und Judentum war das ein ebenso schwerer Schlag wie die Erkenntnisse Darwins. Jeder, der das gleiche heute auch mit dem Koran und die Hadith wiederholen will, muss vielleicht mit der Angst leben, dass ihm dasselbe widerfährt wie den Karikaturisten von Paris.

Mein Freund und Genosse Maajid Nawaz war Dschihadist, bevor er zum Liberalismus konvertierte und versteht, wie diese Leute ticken. Er glaubt, die Menschen verstünden immer noch nicht, dass es den radikalen Islamisten nicht nur darum geht, ihre Tabus mit Waffengewalt durchzusetzen. Vielmehr wollten sie einen Bürgerkrieg entfachen, dafür sorgen, dass die Rechtsradikalen Zulauf erhalten, ein normales Zusammenleben zwischen Muslimen und Nichtmuslimen nicht mehr möglich ist und die europäischen Moslems so zu der Einsicht bringen, dass sie nur in einem Kalifat leben können. Wenn man einer ihrer Forderungen nachkommt, werden sie den Druck weiter erhöhen und zu der nächsten Forderung übergehen.

Wenn man sich die Inhalte und Forderungen ansieht, dann zerbröseln die Unterschiede zwischen den Fanatikern von Paris und dem, was etwa in Saudi Arabien gängige Rechtspraxis ist. Das Land gilt als Partner Großbritanniens, erhält jede Menge Waffen und Rüstungsgüter und verbreitet massiv Propaganda in britischen Moscheen und Universitäten. Zur gleichen Zeit, in der Paris aussah wie ein Kriegsgebiet, wurde in Saudi Arabien Raif Badawi ausgepeitscht, weil er den Islam beleidigt hatte. Wenigstens haben sie ihn nicht umgebracht, denken Sie sich jetzt vielleicht. Doch wenn das Religionsgericht ihn schuldig befunden hätte, vom Glauben abgefallen zu sein, hätte es auch die Todesstrafe verhängt.

Liberale Europäer müssten in Anbetracht von Badawis Auspeitschung innehalten und sich fragen, ob es wirklich stimmt, dass sie kein gutes Gefühl dabei haben, den Glauben der „Ohnmächtigen“ und „Marginalisierten“ zu kritisieren. Die saudische Monarchie ist nur allzu mächtig, das gleiche gilt für die anderen Diktaturen des Nahen und Mittleren Ostens. Doch auch der Arbeitslose mit dem Gewehr ist mächtiger als ein unbewaffneter Pariser Journalist. Der marginalisierte Geistliche mag ein schweres Leben haben, doch wenn er in einem Scharia-Gericht sitzt und britische Muslima nach frauenfeindlichen Gesetzen richtet, dann muss man Angst vor ihm haben.

Liberale Europäer sollten ihren Grundsätzen treu bleiben und sich mit Dissidenten, Liberalen, Linken und Freidenkern in den moslemischen Communitys verbünden.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung der gekürzten Fassung: Holger Hutt
Geschrieben von

Nick Cohen | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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