Porträt Joanna Rakoff arbeitete als junge Frau in der Agentur, die J. D. Salinger betreute. Die Briefe an ihn durfte sie nicht weiterleiten, deshalb beantwortete sie sie selbst
Sie öffnet barfuß, den Saum ihres Kleids hält sie in den Händen gerafft. Sie wohnt in einem auf stilvolle Art heruntergekommenen Schindelhaus in Cambridge, Massachusetts. Wie Joanna Rakoff da in der Tür steht und leise spricht, wirkt sie viel jünger als 42. Und man würde auch nicht sofort darauf tippen, dass sie die Autorin des Buchs ist, über das gerade jeder in der amerikanischen Literaturszene spricht.
Bereits Monate vor dem Erscheinen ihres autobiografischen Romans mit dem Titel My Salinger Year wurde Rakoff mit Presseanfragen überhäuft. Dementsprechend nervös ist sie bei unserem Gespräch, das kurz vor der Veröffentlichung des Buchs Anfang Juni stattfindet: „Bei meinem ersten Roman habe ich keine einzige Rezension ge
inzige Rezension gelesen. Das war aber relativ einfach. Dieses Buch ist persönlicher – und dann ist da das Salinger-Thema. Es war der Grund, warum ich das Buch lange nicht schreiben wollte. Ich wollte nicht als eine weitere Person gesehen werden, die aus seinem Leben Kapital schlägt.“Jerome D. Salinger, der Schöpfer des Fänger im Roggen, zählt zu den mythenumranktesten Figuren der amerikanischen Literaturgeschichte. „Die Leute lieben ihn“, sagt Rakoff. „Sie sind ihm ergeben. Mir ist wichtig, dass sie verstehen: Ich bin nicht eine von denen, die ihn vernichten wollen. Er war kein Spinner. Er war freundlich, liebenswürdig, geduldig und respektvoll. Das wollte ich zeigen.“Nur eine Stimme am TelefonDie Wahl des Titels ist marketingtechnisch aber natürlich clever. Salinger verkauft sich gut. Der Titel führe aber auch in die Irre, sagt Rakoff. Salinger tauche nur ein paar Mal kurz auf den Seiten ihres Buchs auf – und das meist nur als etwas verwirrte, zu laute Stimme am Ende einer Telefonleitung. Eigentlich hat Rakoff eine atmosphärisch dichte Coming-of-Age-Story geschrieben, in der viele Bücherenthusiasten sich schaudernd wiedererkennen werden. My Salinger Year erzählt davon, wie es ist, in eine große Stadt zu ziehen, den ersten Job anzunehmen und zu versuchen, mit einem winzigen Gehalt über die Runden zu kommen, während die eigenen Träume einer nach dem anderen an der Wirklichkeit zerschellen und das Liebesleben im Chaos versinkt. Es geht um die aufregende Zeit im Leben einer jungen Frau, in der Angst und Euphorie scheinbar nahtlos ineinander übergehen. Die große Freiheit! Alles könnte passieren in der großen, weiten Welt. Aber wie gehört man selbst da rein? Und wie schafft man es, den Mund aufzumachen und zu zeigen, dass man mehr kann als tippen?Rakoffs Version dieser Geschichte hat noch einen zusätzlichen Dreh. Die Stelle, über die sie in ihrem Buch schreibt, ist eine als Assistentin einer Literaturagentin, deren berühmtester Klient J. D. Salinger aka Jerry ist – der berühmteste aller Einsiedler. Lockere Unterhaltungen mit dem prominenten Autor sind streng verboten, über sein Leben darf nur unter Androhung des sofortigen Todes etwas der Öffentlichkeit preisgegeben werden. Und die Agentin? Rakoff bezeichnet sie nur als „meine Chefin“, ihren Arbeitsplatz als „die Agentur“. So verstärkt sich noch der Eindruck, die Heldin habe sich dem literarischen Pendant eines religiösen Kults angeschlossen.Die echten Namen der Beteiligten lassen sich aber schnell googeln: Bei der strengen Chefin handelt es sich um Phyllis Westberg von der Agentur Harold Ober Associates. Westberg lebt noch, die Agentur, bei der sie arbeitete, existiert ebenfalls noch. Sie verwaltet seit dem Tod Salingers im Jahr 2010 dessen Nachlass.Das Fortbestehen der Agentur wirkt nach der Lektüre von Rakoffs Buch, das um das Jahr 1996 herum spielt, aber wie ein kleines Wunder. Es ist die Ära des Dotcom-Booms, in der Literaturwelt die Zeit der schwindelerregenden Auktionen und riesigen Vorschüsse. In Manhattan arbeiten Autoren, Lektoren und Agenten alle am Computer und benutzen exzessiv E-Mails als ein Mittel, um unangenehme Gespräche zu vermeiden. In „der Agentur“ jedoch gelten noch die Regeln der alten Zeit. In dem holzvertäfelten, grabesstillen Büro steht kein einziger Computer. An ihren ersten Tag bekommt Rakoff eine klobige Schreibmaschine und ein Diktiergerät. Wenn Manuskripte zur Begutachtung herausgegeben werden, wird deren Status nicht am Computer festgehalten, sondern auf blassrosa Karteikarten, auf denen in sanskritähnlichen Abkürzungen steht, welcher Lektor welches Verlags gerade welche Version liest. Einmal findet die Protagonistin die Karte für das Manuskript vom Fänger im Roggen, auf der vermerkt ist, dass es einmal abgelehnt wurde. „Die meisten Verlage auf den Karten existierten aber damals schon nicht mehr“, sagt Rakoff.Falls Rakoffs Chefin und ihre Kollegen wissen, dass im Rest der Welt anders gearbeitet wird, lassen sie es sich nicht anmerken. Sie geben sich überlegen, als wollten sie sagen: Wir machen die Dinge hier anders. Manchmal geht das allerdings auch nach hinten los. Entsetzt erlebt Rakoff, wie eine Bestseller-Kinderbuchautorin abwandert, aus Verdruss über die Vorsintflutlichkeit der Agentur. Insbesondere Rakoffs Chefin scheint einem anderen Zeitalter anzugehören. Sie trägt Nerzmäntel und Kopftücher, raucht den ganzen Tag und erinnert zugleich an Don Corleone und Lauren Bacall. „Sie glich eher einer Leichenbestatterin als einer Literaturagentin“, sagt Rakoff.Nur wenn Jerry am Telefon ist, scheint die Chefin wirklich zum Leben zu erwachen. Jerry entscheidet sich, seine letzte Veröffentlichung, die Novelle Hapworth 16, 1924 bei einem Kleinverlag in Virginia als Buch herauszubringen. Sagt Rakoffs Chefin ihm, dass das eine schlechte Idee sein könnte? Nein, was Jerry sagt, gilt. Und so können sie in der Agentur nur zusehen, wie der ungewöhnliche Deal mit Ansage in einer Katastrophe endet. Der kleine Verlag kann keine Diskretion gewährleisten, jemand plaudert gegenüber einer Lokalzeitung den Plan aus – und ein erzürnter Salinger lässt daraufhin die Sache platzen.Als Rakoff erstmals den Mut aufbringt, mit Salinger selbst zu reden, erweist er sich als sehr freundlich. Er ist extrem schwerhörig und versteht ihren Namen falsch, ermutigt sie aber auch, selbst weiterzuschreiben. Zu Gesicht bekommt sie ihn nur ein einziges Mal, als er in die Agentur geht, um mit ihrer Chefin zu Mittag zu essen.Den Texten nicht entwachsenErstaunlicherweise hatte Rakoff bis dahin keines seiner Bücher gelesen, dennoch packt sie der Mythos Salinger. Teil ihres Jobs ist es, Hunderte von Fanbriefen, die der Autor nach wie vor jede Woche kriegt, mit Standardbriefen zu beantworten – an ihn weiterleiten darf sie sie nicht. Es schreiben viele Teenager, die den Fänger im Roggen gerade entdeckt haben, aber auch Weltkriegsveteranen, die in Salingers Erzählungen Trost fanden. Nach dem Lesen dieser Briefe kann Rakoff nicht anders, als ab und zu eine persönliche Antwort zurückzuschicken. Manchmal bietet sie konkrete Ratschläge an, manchmal nur aufbauende Worte. Behalten hat sie nur einen der Briefe an Salinger: „Ich hatte einmal mehr, weil es sich nicht gut anfühlte, sie wegzuwerfen, und sie das Einzige waren, das die Agentur nicht archivierte. Aber ich habe sie alle bei Don gelassen, als ich auszog.“Ach ja, Don. Nachdem sie sich von ihrem ihr ergebenen Collegefreund, einem Komponisten namens Keeril, getrennt hat, zieht sie mit Don zusammen. Der übellaunige Sozialist und Möchtegernautor hat große Erwartungen an den Roman, an dem er arbeitet – so große, dass es ihm nicht in den Sinn kommt, sich einen richtigen Job zu suchen. Also muss Rakoff ihn finanzieren. Sie ziehen in eine Wohnung in Brooklyn, in der die Temperaturen im Winter unter null Grad sinken. Als sie ihre Vermieterin endlich dazu bringen, eine Heizung zu installieren, entströmt dieser so viel Gas, dass Rakoff einen Tag lang ausziehen muss. Don seinerseits neigt zur Untreue und kann bösartig werden. Dennoch bleibt sie bei ihm. Sie ist einsam und orientierungslos.„Es war schmerzhaft, in diese Zeit zurückzugehen. Ich bin mit 42 so viel glücklicher als mit 22“, sagt Rakoff. „Zudem schreibe ich nicht gern über mich selbst, und ich fühlte mich der Agentur gegenüber unloyal. Dabei hatte ich eigentlich gar nichts Schlimmes über sie zu sagen. Das erste Jahr, in dem ich an dem Buch arbeitete, betrieb ich lächerlich viel Recherche, um nicht mit dem Schreiben anfangen zu müssen. Aber dann geschahen zwei Dinge. Erstens entschied ich mich dafür, im Text keine richtigen Namen zu verwenden. Ich sagte mir, ich schreibe einen Roman – diese Leute waren also Charaktere. Das half. Zweitens wurde mir klar, dass es sich um eine universelle Geschichte handelt. Auf den ersten Seiten beschreibe ich all die jungen Frauen, die überall in Manhattan zur Arbeit gehen. Es geht nicht nur um mich. Es geht um Frauen, die allein sind in der Welt. Es geht um dieses Gefühl des Losgelöstseins.“Als sie zuerst einen Essay über ihre Zeit bei der Agentur veröffentlichte, berichtete man ihr, ihre Chefin habe ihn gelesen und amüsant gefunden. „Mein Verhältnis zur Agentur ist kompliziert“, sagt Rakoff. „Wenn ich damals eine Freundin in ihrem Büro mit all den kleinen Zellen im Großraum, mit Print-on-Demand-Büchern und endlosen E-Mail-Diskussionen besuchte, dachte ich: In der Agentur macht es mehr Spaß. Manchmal war mir aber auch schmerzlich bewusst, wie die Dinge draußen liefen.“Salingers Tod im Jahr 2010 bedeutete auch für Rakoff einen Einschnitt, obwohl sie die reale Person hinter dem großen Namen eigentlich nicht kannte. Als sie die Nachricht erhielt, brach sie zusammen. Damals war sie längst nicht mehr bei der Agentur und hatte Don verlassen. In ihrer Ehe mit einem Schriftsteller gab es aber auch Probleme. Sie sehnte sich nach der Trennung. Salingers Tod beschleunigte das noch. „Keeril, mein Freund aus dem College, kam nach New York, und ich brach in seine Armen zusammen. Ich sagte ihm, ich wolle mit ihm zusammen sein.“ Es dauerte aber noch Jahre, bis sie den Mut fand, ihren Mann zu verlassen und mit beiden Kindern nach Cambridge zu Keeril zu ziehen.Kein Tag vergehe heute, ohne dass sie nach Salinger gefragt werde. Oft sagten die Leute, sie hätten den Fänger im Roggen gemocht, als sie jung und zornig gewesen seien. Als sie ihn später wieder gelesen hätten, hätten sie ihn aber manieriert und nervig gefunden. Rakoff geht es nicht so. Sie hat die Texte Salingers erstmals als Erwachsene gelesen – und seitdem immer wieder, ohne jemals das Gefühl gehabt zu haben, ihnen entwachsen zu sein.Mit der Zeit wuchs ihre Skepsis gegenüber einer Literaturszene, die sich gegen jene wendet, die sich wie Salinger weigern, daran teilzunehmen. Jenen, die einwerfen, Salinger müsse die Aufmerksamkeit um seine Person irgendwie auch gewollt haben und habe sich durch sein Verhalten nur noch stärker exponiert, entgegnet Rakoff, kein anderer Roman habe eine so dramatische Rezeption erfahren wie Der Fänger im Roggen. „Es gibt nichts, was man damit vergleichen könnte“, sagt sie.Und überhaupt: Wer könnte J. D. Salinger schon guten Gewissens vorwerfen, dass seine Reaktion auf den Ruhm nicht immer logisch und konsequent war? Joanna Rakoff selbst ist in dieser Hinsicht nachsichtig. Lächelnd räumt sie ein, dass ihre eigene Haltung nicht frei von Scheinheiligkeit sei. Immerhin trägt ihr Buch ja Salingers Namen im Titel. Nach der Lektüre möchte man ihr das jedoch vergeben. Denn My Salinger Year ist ein Vergnügen, an dem selbst Jerry seine Freude gehabt haben könnte. Aber das ist natürlich auch nur wieder eine Spekulation.
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