Aschewolke Der Vulkanausbruch erinnert uns wie die Finanzkrise daran: Was dem Mensch einst half zu überleben, ist zur Gefahr geworden. Zukunft gibt es nur durch Vereinfachung
Der Mensch denkt, die Natur lenkt. Das Wunder des modernen Flugverkehrs befreit uns von den Fesseln der Schwerkraft, der Atmosphäre, einer bestimmten Kultur und Geographie. Wir fühlen uns überall zuhause, jeder Ort ist austauschbar geworden. Erst wenn die Natur uns in die Quere kommt, wird uns wieder bewusst, dass tausende von Kilometern zu überbrücken sind und die Gesetze der physischen Welt auch für uns nach wie vor volle Gültigkeit haben.
Komplexe, vernetzte Gesellschaften sind bis zu einem gewissen Punkt widerstandsfähiger als einfach strukturierte. Als Ostafrika in den Neunzigern von heftigen Dürrekatastrophen heimgesucht wurde, konnte ich mir aus nächster Nähe ein Bild davon machen, was Anthropologen und Ökonomen schon lange
hon lange vorhergesagt hatten: Diejenigen Menschen, die über die wenigsten Handelspartner verfügten, traf es am härtesten. Vernetzung bedeutete eine Art Lebensversicherung: Je größer das Gebiet war, aus dem sie Nahrungsmittel beziehen konnten, desto weniger konnten den Menschen örtlich auftretende Hungersnöte etwas anhaben.Die Gefahr der VernetzungAb einem bestimmten Punkt wird Vernetzung aber zu einer Gefahr. Je länger und komplexer die Kommunikationswege und je abhängiger wir von der Produktion und den Geschäften werden, die im Rest der Welt stattfinden, desto größer wird die Gefahr, dass es zu einer Störung kommt. Das ist eine der Lehren, die wir aus der Bankenkrise ziehen können. Verarmte Hypothekenschuldner in den USA haben – da wurde der eine Schlag des Schmetterlings über den Atlantik hinaus spürbar – die Wirtschaft der ganzen Welt beinahe zum Einstürzen gebracht. Der isländische Vulkan könnte in diesen unsicheren Zeiten, wenn er weiter speit, den gleichen Effekt erzielen.Es gibt viele Dinge, die uns in ähnlicher Weise verwundbar machen. Die größte Katastrophe bestünde in einem unvorhergesehenen Koronalen Massenauswurf – ein Sonnensturm, der eine Zunahme des Gleichstroms in unseren Stromnetzen verursachen und die Transformatoren durchbrennen lassen könnte. Das würde nur Sekunden dauern, die Behebung der Schäden aber bräuchte mehrere Jahre, falls wir uns überhaupt von solch einem Schlag erholen könnten. Schnell würde uns bewusst, wie abhängig wir von der Elektrizität sind – dem Sauerstoff vergleichbar bemerken wir sie nur, wenn sie fehlt.Im New Scientist kann man nachlesen, wie und warum ein solches Ereignis die meisten der Systeme lahm legen würde, die uns am Leben erhalten: Wasseraufbereitungsanlagen, Pumpstationen sowie Ölförderanalgen stünden still. Das wiederum würde schnell zu einem Rückgang der Lebensmittelversorgung führen. Krankenhäuser wären ebenso betroffen wie Finanzsysteme. Kaum eine Branche, nicht einmal ein Hersteller von Kerzen oder Petroleumlampen könnte mehr produzieren. Notstromaggregate würden nur Abhilfe schaffen, so lange das Öl reicht. Durchgebrannte Transformatoren können nicht repariert, sondern müssten ersetzt werden. In den vergangenen Jahren habe ich mich im Rahmen des Informationsfreiheitsgesetzes mehrmals bei verschiedenen Stromkonzernen nach deren Notfallplänen erkundigt. Haben sie Transformatoren auf Lager, um diese im Falle eines Sonnensturms schnell ersetzen zu können? Ich habe noch nicht von allen eine Antwort erhalten, aber die bisherigen Ergebnisse legen nahe, dass keine derartige Vorsorge getroffen wird.Komplexität braucht EnergieFür den Fall eines baldigen Erreichens der Öl-Höchstfördermenge wurden bislang ebenso wenig Vorkehrungen getroffen. Meine Nachfragen bei der britischen Regierung haben ergeben, dass diese über keinen Notfallplan verfügt, weil sie nicht davon ausgeht, dass dieser Fall eintreten wird. Also sind Armeeeinheiten wie die US Joint Forces Command die einzigen, die sich mit dem Thema beschäftigen. In deren jüngstem Bericht über mögliche Konfliktszenarien ist zu lesen, „eine ernstzunehmende Energiekrise“ sei „ohne ein massive Ausweitung der Förder- und Raffineriekapazitäten nicht zu vermeiden. ... Das Ende des Kapazitäsüberhanges bei der Ölförderung könnte schon 2012 erreicht sein, und bereits 2015 könnte der Rückgang der Fördermenge nahezu 10 Barrel pro Tag betragen.“Ein Rückgang der Förder- und Raffineriekapazitäten ist nicht das gleiche wie das Erreichen des globalen Ölfördermaximums, aber „selbst unter den günstigsten Voraussetzungen wird die Ölproduktion kaum mehr die künftige Nachfrage befriedigen können.“ Ein weltweiter Ölmangel würde die Schwächen unseres komplexen Wirtschaftssystems schnell offen legen. Wie der Kulturanthropologe Joseph Tainter gezeigt hat, ist ihre Abhängigkeit von hohem Energieverbrauch einer der Faktoren, die komplexe Gesellschaften verwundbar machen.Tainters Arbeit half die alte Annahme zu überwinden, die Komplexität einer Gesellschaft sei eine Folge ihres Kapazitätsüberhanges. Er folgt der umgekehrten These: Komplexität erhöht den Energieverbrauch. Während sie viele Probleme, wie beispielsweise die Abhängigkeit von einem lokalen Lebensmittelmarkt beseitige, sei sie gleichzeitig dem Gesetz des abnehmenden Ertragszuwachses unterworfen. In extremen Fällen verursachen die Reproduktionskosten solcher Systeme deren Zusammenbruch.Rom vs. ByzanzTainter verweist auf das Beispiel des Weströmischen Reiches. Im dritten und vierten Jahrhundert nach unserer Zeitrechung versuchten die Feldherren Diokletian und Konstantin, ihre kleiner gewordenen Herrschaftsgebiete wieder zu vergrößern: „Die Strategie des späten römischen Reiches bestand darin, der nahezu schicksalshaften Herausforderung, die sich ihm im dritten Jahrhundert stellte, mit einer Erhöhung der Größe, Komplexität, Macht und Kostenträchtigkeit der Regierung und ihrer Armee zu begegnen .... Das Kosten-Nutzen-Verhältnis der Verwaltung des Imperiums nahm ab. Am Ende konnte das Weströmische Reich sich seine eigene Existenz nicht mehr leisten.“ Die Steuern und Abgaben, die Diokletian und Konstantin erheben mussten, um ihr gewaltiges System zu finanzieren, ruinierten das Imperium. Feindliche Invasionen und schließlich der Zusammenbruch waren die unvermeidlichen Folgen.Dem stellt Tainter die Strategien entgegen, die im Byzantinischen Reich ab dem siebten Jahrhundert verfolgt wurden. Auf die Schwächung durch Seuchen und Invasionen reagierte der Staat mit einer systematischen Vereinfachungsstrategie. Anstatt wie gewohnt weiter eine Armee unterhalten zu müssen, garantierte man den Soldaten Land, wenn sie sich und ihre Nachkommen zum Militärdienst verpflichteten: Von da an mussten sie selbst für ihren Unterhalt aufkommen. Der Grad der Komplexität der Verwaltung wurde auf diese Weise reduziert, die Menschen wurden sich selbst überlassen, das Reich aber überlebte und expandierte sogar.Vereinfachung statt VerschlankungEin vergleichbarer Prozess ist gegenwärtig in Großbritannien zu beobachten: die Verschlankung des Staates als Reaktion auf die Krise. Während aber der öffentliche Sektor zurückgefahren wird, soll die Privatwirtschaft stetig und endlos wachsen. Wenn wir es nur mit der Finanzkrise zu tun hätten, wäre diese Strategie vielleicht sogar sinnvoll. Aber Energiekosten, Auswirkungen auf die Umwelt und die erhebliche Störungsanfälligkeit haben mittlerweile bestimmt schon zu dem Punkt geführt, wo sie die Vorteile zunehmender Komplexität übertreffen.Zum dritten Mal innerhalb von zwei Jahren musste Großbritannien erfahren, dass der Flugverkehr eines der schwächsten Glieder des überlasteten Systems darstellt. Im Jahr 2008 zwangen die steigenden Treibstoffpreise mehrere Fluggesellschaften zum Aufgeben. Die Wirtschaftskrise vergrößerte den Schaden noch, der Vulkan tut das seine. Weitere Fluggesellschaften werden Pleite gehen. Energieintensiv, wetterabhängig, leicht zu behindern – eine große Luftfahrtindustrie ist für eine Gesellschaft mit am schwersten zu unterhalten, insbesondere wenn sie mit einer Reihe von Krisen fertig werden muss. Je größer unsere Abhängigkeit vom Flugverkehr, desto größer unsere Verletzlichkeit.In den vergangenen Tagen haben die Menschen, die in den Einflugschneisen der Flughäfen leben, einen Blick in die Zukunft werfen dürfen, der ihnen mit Sicherheit gefallen hat. Der Stand der weltweiten Ölvorräte, die gesellschaftlichen und ökologischen Kosten des Flugverkehrs sowie seine extreme Störungsanfälligkeit bedeuten, dass das gegenwärtige Flugaufkommen nicht ewig aufrechterhalten werden, geschweige denn in dem Maße erhöht werden kann, wie die Pläne der Regierungen dies vorsehen. Aber wir haben die Wahl. Wir können die Branche langsam zurückfahren, solange noch Zeit dafür ist, und gleichzeitig Wege finden, wie wir auch mit weniger davon glücklich leben können. Die Alternative wäre, darauf zu warten, bis die Gewalt der Naturkräfte die Komplexität des Systems auf ihre eigene brutale Weise reduziert.
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