Nun dauert es nicht mehr lange, bis am 18. September die Sonne aufgeht und ein Tag anbricht, der über das Schicksal Schottlands entscheidet. Diese Gewissheit erreicht auch die Kampagnen vor diesem Referendum. Die Kontroversen werden immer giftiger ausgetragen. Besonders „Yes“ hat enorm an Fahrt aufgenommen. Wenn es ihr gelingt, weiter mit so viel Schwung zu agieren, dann werde ich am 18. September schon sehr traurig sein, dass alles vorbei ist. Ja, ich bin fast versucht, für ein „Nein“ zu werben, damit wir am 19. die Truppenteile neu ordnen und noch einmal von vorn anfangen können. Ich würde nicht sagen, dass die Kampagne droht, in einer Schlammschlacht zu versacken. Ich finde sie vielmehr höchst amüsant, anregend und vital.
Zuerst stolzierte Gordon Brown durch die schottischen Lande und beteuerte seine Liebe zur Heimat, die er sich während seiner unglücklichen Amtszeit als Labour-Premier in Westminster überhaupt nicht hatte anmerken lassen. Seinerzeit weigerte er sich beharrlich, auch nur über eine stärkere Regionalisierung mit sich reden zu lassen. Jetzt hingegen will er uns mit ganz außergewöhnlich neuen Befugnissen in die Selbstverwaltung – nicht aber die Unabhängigkeit – entlassen. Zumindest solange seine alten Kumpel in London die monetären Fäden weiter in den Händen halten. Sollten sich die Schotten dennoch für die Unabhängigkeit entscheiden, hätte Brown nicht wenig für diesen Triumph geleistet.
Bewundernswerte Mrs Lally
So richtig los ging die Unterhaltungsgala Mitte Juni. Beide Seiten starteten mit Veranstaltungen in den 100-Tage-Countdown bis zum 18. September. „Better Together“ (Nein zur Unabhängigkeit) richtete einen der Slapstick-Tage aus, an denen die Bühne ganz normalen Bürgern überlassen wird, die sich unbedingt für den Erhalt der Union aussprechen möchten.
Eine von ihnen war die zweifache Mutter Clare Lally. Sie erzählte vom staatlichen Gesundheitssystem NHS und was es für eines ihrer kranken Kinder geleistet habe. Die bewundernswerte Missis Lally unterstützte die Sache der Union mit größter Empathie und Eloquenz. Leider hatte die Vorstellung einen winzigen Schönheitsfehler: Indem sie die Dame als „gewöhnliche Hausfrau“ darstellte, machte sich „Better Together“ einer Irreführung der Öffentlichkeit schuldig. Clare Lally wurde erst kürzlich als Laienmitglied in Johanne Lamonts Labour-Schattenkabinett in Edinburgh berufen.
Campbell Gunn, der Medienberater des schottischen Ersten Ministers, Alex Salmond, wollte diese kleine Unterlassungssünde von „Better Together“ dem Daily Telegraph stecken und schrieb der Zeitung eine E-Mail. In deren Redaktion brannten daraufhin alle Sicherungen durch. Innerhalb von 24 Stunden wurde ein Erschießungskommando zusammengestellt und der renommierte ehemalige Politikredakteur der Sunday Post, der im Vorjahr einen Preis für sein Lebenswerk erhalten hatte, zum medialen Abschuss freigegeben. Beim Telegraph war man offenbar von der Möglichkeit, tatsächlich einmal eine eigene, exklusive Geschichte über Schottland bringen zu können, derart übermannt, dass man versuchte, Campbell Gunn als „niederträchtigen Cybernat“ darzustellen, wie die Onlinebefürworter der schottischen Unabhängigkeit in den britischen Medien abwertend genannt werden. Gunn schrecke nicht davor zurück, eine arme, kleine Hausfrau mit einem kranken Kind anzugreifen. Dabei hatte der Gescholtene nur seinen Job gemacht.
Beeindruckt vom künstlichen Sturm der Entrüstung, der folgte, zwang Salmond seinen Berater dazu, sich zu entschuldigen, in der Hoffnung, dies würde den Mob etwas beruhigen. Und er wusste doch so gut wie jeder andere, dass Gunn nichts getan hatte, wofür er sich hätte entschuldigen müssen.
Jedenfalls hat das Phänomen Cybernats ganz außerordentlich zum Unterhaltungswert der Kampagne gegen die Unabhängigkeit beigetragen. „Ja für Schottland“-Unterstützer werden als Bande unflätiger Sonderlinge dargestellt und mit gotteslästerlichen Blogs eingedeckt. Nur was soll man erwarten? Die sozialen Netzwerke ziehen nun einmal alle möglichen halbgebildeten Westgoten an, denen es wie jedem anderen Bürger und Steuerzahler offen steht, sich anonym zu jedem beliebigen Thema zu äußern. Was einige von Schottlands wichtigsten Fußballautoren wie etwa Graham Spiers und Tom English in den vergangenen Jahren auf Twitter zu erdulden hatten, übersteigt allerdings an Ausmaß und Intensität bei Weitem alles, was einem in der Kampagne zum Referendum bislang begegnet ist.
Da „Better Together“ weder über ein wirkliches Konzept noch allzu viele positive Argumente verfügt, verschlägt es ihre Herolde ins Reich der Fantasie. Von Verzweiflung heimgesucht, stellt die Kampagne jede Kritik an der Union als „üble Verleumdung“ durch die imaginierten Cybernats dar.
Operation Angst
Hinter den ganzen Frechheiten im Netz und der herrlich inszenierten Empörung über sie verbirgt sich freilich eine ernsthafte Warnung, die „Better Together“ schleunigst beherzigen sollte, wenn ihr daran gelegen ist, dass der Union Jack weiterhin die Farbe Blau enthält. Die Unionisten müssen sich klar machen, welche Folgen es hat, wenn sie die schottischen Nationalisten permanent als Wegelagerer mit hervorstechenden Augen und krankhafter Persönlichkeitsstörung darstellen, wie das in ihrer schlecht beratenen „Projekt Angst“-Kampagne der Fall ist. Bereits vor einiger Zeit hat der Sunday Herald darauf hingewiesen, dass die Aktivisten von „Better Together“ über keine Strategie verfügen. Stattdessen wird permanent die Furcht der Schotten vor den Ungewissheiten eines unabhängigen Landes geschürt. Und das mit allen Mitteln.
Spätestens im August, wenn die Bürger Schottlands leibhaftige Aktivisten der „Yes“-Kampagne an ihren Haustüren antreffen, werden sie feststellen, dass es sich um höfliche, wohlerzogene Menschen handelt, die ihr Land ebenso leidenschaftlich lieben wie die Anhänger von „Better Together“. Dann könnten viele überzeugt sein, dass es keinen Grund gibt, sich von Unionisten noch weiter vorführen zu lassen. Laut Meinungsumfragen, die vom Daily Record, der wichtigsten probritischen Zeitung Schottlands, inzwischen regelmäßig veröffentlicht werden, liegt die „Yes“-Front nur noch wenige Prozentpunkte hinter den Britannien-Enthusiasten. „Better Together“ sollte daher abwägen, welche Taktik man auf der Zielgeraden verfolgt. Momentan droht der Bewegung die Kampagne zu entgleiten.
Kevin McKenna ist Chefredakteur der Zeitung Daily Mail in Schottland
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.