Moses Kamaras steht am Fuße der Freiheitsstatue von Lesbos, in seiner Linken hält er ein paar durchnässte Schuhe, über seiner rechten Schulter hängt ein Rucksack. Obwohl die Sonne gerade erst aufgeht, ist das Boot, das ihn und weitere 59 auf dieses erste Fleckchen Erde gebracht hat, das sie von Europa kennenlernen, bereits das vierte, das an diesem Tag an der Südküste der Insel anlandet. Bis Sonntagmittag werden zwei weitere Schiffe 127 Afghanen aus der Türkei in den Norden der ägäischen Insel gebracht haben.
„Ich hatte wirklich Angst“, sagt der 34-jährige Kamaras aus Sierra Leone. Er ist noch ganz benommen und orientierungslos von der Fahrt, sein Gesicht ist mit einer Operationsmaske bedeckt, die ihm die griechische Polizei gegeben hat. „Unser Motor war wirklich schwach, wir befanden uns vier Stunden im Boot und ich musste die ganze Zeit daran denken: Was, wenn ich sterbe“, murmelt er und hebt seine rechte Hand, an der alle fünf Finger fehlen. Das sei der Preis, den er während der Folter für seine politische Opposition bezahlt habe. „Doch ich habe sechs Monate in Istanbul verbracht. Ich habe lange auf diesen Tag gewartet.“
Die Gelegenheit, das Meer zu überqueren, kam für ihn in der vergangenen Woche, als der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdoğan, plötzlich erklärte, die Türen nach Europa für Migranten öffnen zu wollen, um sich dafür zu rächen, dass die Europäische Union sich weigere, ihm in Syrien beizustehen. Während tausende sich in Richtung der griechischen Landgrenze aufmachten, versuchten andere, wie Kamaras, ihr Glück auf dem Seeweg.
Erinnerungen an 2015
Erinnerungen an das Jahr 2015 werden wach, als fast eine Million vertriebener Syrer*innen sich über Lesbos und die umliegenden ägäischen Inseln nach Europa aufmachten. Gegenwärtig haben sich Schätzungen zufolge 150.000 an der türkischen Westküste versammelt, in der Hoffnung, heil auf die andere Seite zu gelangen.
Bei Einbruch der Dunkelheit hatte sich Berichten zufolge eine immer größere Zahl von Frauen und Kindern zu den Gruppen an den Stränden gegenüber den Außenposten gesellt, obwohl die griechische Regierung sich beeilte, einen Verteidigungsring aus Schiffen von Marine und Küstenwache um die Insel zu bilden.
Wachmeister Panaghiotis Fykias, der die Krise 2015 miterlebt hat, befürchtet das Schlimmste. Fykias, der der Einwanderungsbehörde der örtlichen Polizei unterstellt ist, unternimmt in seinem verwitterten Citroën jeden Tag unzählige Kontrollfahrten entlang der Küste von Lesbos. Was er am Sonntag, kaum eine Stunde nach Beginn seiner Schicht um 6:30 Uhr zu sehen bekam, war aber selbst für ihn eine Überraschung. „Eins nach dem anderen kamen die Boote an“, erzählt er, als er an dem Strand Halt macht, an dem die Überreste von Schlauchbooten, Rettungswesten, den Schläuchen von Autoreifen, Decken, Essensresten und Kleidungsstücken verstreut liegen.
„Um ehrlich zu sein, habe ich wenig Hoffnung. Heute fühlte ich mich zum ersten Mal in das Jahr 2015 zurückversetzt. Der Wind hat sich gelegt, das Wetter ist perfekt [für die Überfahrt], doch wenn der Zustrom weiter so anhält, ist das kein gutes Omen. Die Sache ist explosiv. Es leben bereits 27.000 Migrant*innen hier und die Einwohner*innen haben die Geduld verloren. Die Situation könnte leicht außer Kontrolle geraten.“
Erst Masken verteilen
Als erster Beamter, der vor Ort eintraf, als es Berichte darüber gab, dass ein Boot in der Nähe der Freiheitsstatue anlandet – der Vorzeige-Skulptur, nur wenige Meter vom Hafen von Mytilene, der Hauptstadt der Insel entfernt – traf Fykias auf Menschen, die ebenso begeistert waren wie erschöpft. „Da waren Schwangere unter ihnen, viele Kinder, Gesichter, die so unglaublich müde wirkten“, sagt er. „Doch aufgrund des Coronavirus müssen wir nun dem Protokoll folgen, erst Masken verteilen, die Leute zählen und sie dann in Busse verfrachten, die sie in das Lager nach Moria bringen.“
Angesichts der zunehmenden Spannungen auf der Insel scheint dies nun alles andere als einfach. Entrüstet über den Anblick von weiteren Ankömmlingen haben Einheimische bereits Straßensperren errichtet, um sie davon abzuhalten, in das bereits aus allen Nähten platzende Lager zu gelangen. Andere griffen sogar Freiwillige einer Hilfsorganisation an und verprügelten sie am helllichten Tag. „Wenn wir einen Bus durchlassen, ist das der Anfang vom Ende“, sagte Yannis Mastroyiannis, der Gemeindevorsteher des nahe des Lagers gelegenen Dorfes.
Vierzehn Stunden nachdem er auf Lesbos angekommen ist, ist Kamaras nicht weiter als ein paar Meter von der Statue weggekommen. Sein Bus wurde wie andere durch Straßensperren aufgehalten und kehrte daraufhin in das bewachte Gebiet am Hafen zurück. Das war sein erster Vorgeschmack auf das gelobte Europa.
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