Ich weiß genau, wie das war

Gedächtnis Der Glaube war bislang oft stärker, aber ein neuer Test könnte helfen, falsche von echten Erinnerungen zu unterscheiden

Unsere Erinnerungen sind nicht das, wofür wie sie halten. Jede Erinnerung ist ein rekonstruktiver Prozess, für den das Gehirn Erinnerungsfragmente neu zusammensetzt – anstatt dass es sie als fertiges Ganzes nur hervorzuholen bräuchte. Es ist deshalb unvermeidlich, dass sich Fehler einschleichen. In den meisten Fällen sind unsere Erinnerungen zwar trotzdem genau genug, um ihnen Vertrauen zu schenken. Aber manchmal eben auch nicht. Das eindrucksvollste Beispiel hierfür sind falsche Erinnerungen oder Pseudoerinnerungen, das heißt vollständig aus der Luft gegriffene Darstellungen von Dingen oder Begebenheiten, die man in Wahrheit nie gesehen hat oder die sich überhaupt nicht ereignet haben.

Das Gedächtnis lässt sich teilweise sehr leicht in die Irre führen. So werden Erinnerungen historischer Ereignisse durch bearbeitete Fotografien manipuliert; man weiß von Psychiatern, die ihren Patienten falsche Erinnerungen an sexuellen Missbrauch in der Kindheit und an satanische Rituale regelrecht eingeredet haben. Falsche Erinnerungen sind auch die wahrscheinlichste Erklärung für die nicht selten überlieferte Erfahrung, von Außerirdischen entführt worden zu sein. All das hat tief greifende und weitreichende Konsequenzen, aber bislang gab es keine zuverlässige Methode, um den Wahrheitsgehalt einer Erinnerung zu bestimmen.

Könnte sich das nun ändern? Wissenschaftler von der Universität Gießen haben jetzt erstmals von einem einfachen physiologischen Test berichtet, der es ermöglichen soll, zwischen falschen und echten Erinnerungen zu unterscheiden. Ali Baioui und seine Kollegen haben für ihren Test eine Variation des Deese-Roediger-McDermott (DRM)-Paradigmas benutzt. Es handelt sich dabei um eine etablierte Methode, im Rahmen eines Experiments verzerrte Erinnerungen zu erzeugen. In einer üblichen DRM-Studie bekommen die Teilnehmer zunächst eine Liste von 12 sachverwandten Wörtern (wie Bett, Kissen, Laken und so weiter), die sie sich einprägen sollen. Gleich danach erhalten sie eine zweite Liste, die neben einigen der vorher eingeprägten Wörter auch „Köder“ enthält: Begriffe, die rein assoziativ mit der ersten Wortliste verknüpft sind (Schlaf und Traum zum Beispiel). Schließlich werden die Versuchspersonen dazu aufgefordert, von den Begriffen der zweiten Liste jene zu nennen, die bereits auf der ersten gestanden hatten. Dabei kommt es für gewöhnlich zu einer großen Anzahl irriger Erinnerungen: Viele Teilnehmer behaupten, dass sich einige der Köder bereits auf der ersten Liste befunden hätten.

Köder im Bild

Die Gießener Wissenschaftler haben die Methode nun etwas verändert: Anstelle der Wortlisten verwenden die Forscher visuelle Anreize. Für ihre Studie teilten sie 60 Probanden in zwei Gruppen auf und zeigten ihnen 13 digitalisierte Abbildungen eines mittlerweile eingestellten amerikanischen Magazins namens The Saturday Evening Post, auf denen alltägliche Szenen aus dem Haushalt zu sehen waren. Um die wahre Absicht der Untersuchung zu verschleiern, sagte man den Teilnehmern, es gehe um eine Studie über soziale Wahrnehmung und Gefühl. Sie sollten jede Abbildung auf einer Skala von eins („sehr angenehm“) bis sieben („sehr unangenehm“) bewerten.

Den Teilnehmern der einen Gruppe wurden mit Photoshop manipulierte Versionen der Abbildungen gezeigt, in denen bestimmte Gegenstände entfernt worden waren, während die Mitglieder der Kontrollgruppe die unbearbeiteten Bilder zu sehen bekamen. Danach zeigte man beiden Gruppen sowohl abermals einzelne auf den Abbildungen enthaltene Gegenstände als auch auf den Bildern nicht vorhandene Köder, das heißt Gegenstände mit und ohne Bezug zu den Bild­inhalten, und fragte sie, ob sie diese zuvor schon auf den Abbildungen gesehen hätten. Während dieser Phase der Untersuchung wurden die Teilnehmer an Elektroden angeschlossen, die an ihren Fingern den elektrischen Leitungswiderstand der Haut, Atmung, Herzfrequenz und Puls maßen.

All diese gemessenen physiologischen Parameter werden unbewusst vom vegetativen Nervensystem kontrolliert und spiegeln Funktionen wie den Orientierungsreflex. Der Orientierungsreflex ist eine Reaktion auf kleine Veränderungen in der Umwelt, dessen Stärke von der Intensität, der Neuartigkeit und der Bedeutung des neuen Reizes abhängt. Die wiederholte Erfahrung eines Reizes macht ihn vertrauter und schwächt den Reflex und die entsprechenden Reaktionen zunehmend ab. Auf der anderen Seite führt jede Veränderung des Anreizes zu einem Reflex, der eine stärkere Reaktion hervorruft.

Die Haut als Indikator

Ein Reiz, den man bereits kennt, erscheint einem deshalb auch viel bedeutsamer als ein völlig neuer Reiz – weil er ­tatsächlich vertrauter ist. Und diese Vertrautheit spiegelt sich in einer höheren elektrischen Leitfähigkeit der Haut. Für ihr Experiment schlossen die Forscher: Wer nur glaubt, sich an einen Reiz zu erinnern, nimmt ihn über das vegetative Nervensystem als neu und weniger bedeutsam wahr als einen tatsächlich vertrauten Reiz. Entsprechend geringer muss bei irrtümlich Erinnertem, das in Wahrheit völlig neu ist, die Leitfähigkeit der Haut sein. Genau das war in den Versuchen der Fall.

In Übereinstimmung mit früheren Ergebnissen war der Anteil an verzerrten Erinnerungen in der neuen Studie geringer als in jenen älteren DRM-Studien, für die Wortlisten verwendet worden waren. Wie erwartet, war bei Teilnehmern beider Gruppen die Anzahl der falsch erinnerten Gegenstände größer, wenn sie mit dem Bild inhaltlich in Verbindung standen, als wenn es gar keinen Zusammenhang gab. Einen signifikanten Unterschied fanden die Wissenschaftler zwischen den beiden Gruppen, als sie die Leitfähigkeit untersuchten: Anders als in der Kontrollgruppe ging in der Versuchsgruppe jede falsche Erinnerung mit einer geringeren Leitfähigkeit der Haut einher, während sich das echte Wiedererkennen von Gegenständen in einer höhten Leitfähigkeit der Haut widerspiegelte.

In Hinblick auf alle anderen Parameter, die ja ebenfalls unwillkürlich mit dem Nervensystem verbunden sind, war zwischen den beiden Gruppen allerdings kein Unterschied festzustellen. Die Gründe hierfür sind bislang nicht klar. Die Forscher vermuten jedoch, dass die relativ wenigen Fälle fälschlicherweise erinnerter Köder, die zu den Bildern in Beziehung standen, allgemein eine so geringe physiologische Reaktion ausgelöst haben, dass die Messung des Hautwiderstandes als einzige sensibel genug war, um eine Veränderung anzuzeigen.

Es handelt sich um die erste Studie, in der falsche Erinnerungen anhand physiologisch messbarer Parameter untersucht wurden. Und die Ergebnisse legen tatsächlich nahe, dass die messbaren unwillkürlichen Reaktionen des Körpers als Merkmal für die Unterscheidung von echten und falschen Erinnerungen genutzt werden können.

Implizites Wissen

Die größten Implikationen dürften die neuen Studienergebnisse für das Rechtssystem haben, insbesondere in Hinblick auf die Verwendung und Gültigkeit von Augenzeugenaussagen in Gerichtsverhandlungen. Da sich die experimentelle Versuchsanordnung, die für die Studie zur Anwendung kam, allerdings sehr von jeder Alltagssituation unterscheidet, ist es unwahrscheinlich, dass die neuen Erkenntnisse unter solchen Bedingungen bereits jetzt angewendet werden können.

Die Arbeit überschneidet sich auch mit einem anderen umstrittenen Forschungsgebiet. Im Zuge des in den vergangenen Jahren gestiegenen Interesses an den neurologischen Grundlagen der Täuschung haben die realtiv überschaubaren Fortschritte auf dem Gebiet die überzogene Erwartung beflügelt, dass Lügen auf Grundlage der Hirnaktivität von wahrheitsgetreuen Aussagen unterschieden werden könnten.

Es gibt allerdings einen wesentlichen Unterschied zwischen falschen Erinnerungen und echten Lügen, und das ist die Beteiligung des Bewusstseins: Wer sich falsch erinnert, kennt die Wahrheit selbst nicht und ist sich über seine Täuschung nicht im Klaren. Wer aber lügt oder belastende Informationen verschweigt, ist sich der Wahrheit sehr wohl bewusst.

In einigen Fällen allerdings wissen Menschen durchaus unbewusst über wahre Verhältnisse Bescheid: Sie verfügen über ein implizites Wissen, das Ergebnis ist Subzeption im Gegensatz zu Täuschung. Über diese Art der Erinnerung ist noch wenig bekannt. Die neuen Erkenntnisse aber können möglicherweise einmal dazu beitragen, solch implizites Wissen aufzuspüren, wofür es wichtige praktische Anwendungsgebiete gäbe. So wären physiologische Marker für echte und falsche Erinnerungen eines Tages vielleicht auch in der Rehabilitation von Amnesie-Patienten von Nutzen.

Mo Costandi ist Entwicklungsneurobiologe und Wissenschaftsjournalist. Er betreibt auf guardian.co.uk ein Neurophilosophieblog
Übersetzung: Holger Hutt

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Geschrieben von

Mo Costandi | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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