Im Auge des Sturms

Hausbesuch In der Twitter-Zentrale in San Francisco fällt vor allem eines auf: die große Ruhe. Von dem Hype, der anderswo um das neue Medium gemacht wird, fehlt hier jede Spur

Ein sonniger Nachmittag in San Francisco. Ich betrete das Büro eines der zahllosen Web-Unternehmen der Stadt. Als erstes fällt auf, dass die großen, offenen Räume sich nicht von denen anderer Dotcoms unterscheiden. Es gibt einen riesigen Fernseher, auf dem Angestellte in ihren Pausen Videospiele daddeln. In einer Ecke steht eine rote Telefonzelle, in einer anderen stehen zwei lebensgroße, grüne Plastik­rehe.

Wüsste man es nicht besser, könnte man meinen, dass es bei diesem Unternehmen nicht besonders gut läuft. Es ist an diesem Wochentag so still, als wäre es Wochenende – das einzige Geräusch ist das Murmeln von drei Mitarbeitern, die mit ihren Laptops auf einem Sofa sitzen.

Das ist die Zentrale des wichtigsten Internet-Startups der Welt? Hier halten 52 Mitarbeiter den Microblogging-Dienst Twitter am Laufen. Sie sind für eine Webseite verantwortlich, über die mehr als 35 Millionen Menschen jeden Tag gewaltige Massen an Texten rund um den Globus feuern.

Mehr als ein Spielzeug

Der rasante Aufstieg von Twitter begann, wie hippe, junge I-Phoner es lieben – netzaffine Menschen fühlten sich als Avantgarde, weil sie per Handy auf der Twitter-Seite Kurzbotschaften posteten. Dann entdeckten Prominente wie Talkmasterin Oprah Winfrey und Basketballstar Shaquille O’Neal den Dienst. Und schließlich wurde Twitter ein wichtiges Medium in politischen Krisen, weil es dazu diente, Informationen aus Ländern herauszubekommen, deren Behörden den Nachrichtenfluss zensieren. Spätestens während der Proteste im Iran mauserte sich der Onlinedienst von einem Spielzeug zu einem Instrument des sozialen Wandels.

Wie fühlt es sich an, im Zentrum all dessen zu stehen? „Ein bisschen wie im Auge des Sturms. Es ist an sich nicht hektisch“, sagt Biz Stone. Der 36-jährige Designer ist einer der drei Twitter-Gründer.

2006 arbeitete Stone zusammen mit Jack Dorsey und Evan Williams an einem Projekt für die Softwarefirma Odeo, sie kamen nur schleppend voran. Während eines Brainstormings hatte der Programmierer Dorsey plötzlich einen Einfall, der in eine ganz andere Richtung ging: Ein Schnellnachrichten-System, mit dessen Hilfe man Kurzbotschaften mit möglichst vielen Menschen teilen kann. Die Geburtsstunde von Twitter.

Das Irritierende an der Stille in der Unternehmenszentrale ist, dass sie das genaue Gegenteil der rauschhaften Lebhaftigkeit auf der Webseite ist. Jeden Augenblick schicken Menschen von ihren Computern und Handys Nachrichten oder lesen Kurztexte, die andere gerade hinterlassen haben. Die virtuellen Unterhaltungen werden meist öffentlich geführt, sodass jeder auf Nachrichten anderer verweisen kann oder interessante, lustige oder politisch wichtige Botschaften weiterverbreiten kann.

„Uns ist bewusst, dass solche Dinge in die Höhe schießen, aber auch wieder abstürzen“, sagt Stone. „Wir wollen nicht wie ein Kinderstar werden, der es früh zu Erfolg gebracht hat und dann völlig verrückt wird.“ So lässt sich auch keiner der Mitarbeiter in San Francisco als besonders schrill beschreiben. Stone trägt, wie die meisten, die unscheinbare Uniform der neuen Medien: T-Shirt, sorgsam verwuschelte Haare und eine Brille mit schwarzem Rahmen.

Einkünfte kann Twitter noch nicht verbuchen. Dennoch hat das Unternehmen 55 Millionen Dollar Vertrauensvorschuss von Investoren bekommen. Kein Geld zu machen, ist schließlich nicht ungewöhnlich in der Welt der Internetfirmen. Netzwerken wie Facebook und StudiVZ geht es da ähnlich. Bei Twitter konzentriert man sich auf den Aufbau einer großen Nutzergemeinde und setzt darauf, dass irgendwann Geld fließen wird. Damit haben Google, Yahoo und Amazon Erfolg gehabt. Allerdings erstreckt sich der Friedhof der gescheiterten Web-Startups gerade in der Umgebung von San Francisco auch kilometerweit.

Mit ihrem 55-Millionen-Konto haben Stone und seine Kollegen allerdings einigen Spielraum – und sie haben große Ambitionen: „Es gibt vier Milliarden Handynutzer in der Welt, die alle Twitter-fähige Geräte mit sich herumtragen.“ Noch viel Platz zum Wachsen. Man möchte gern eines Tages unverzichtbar sein.

Aber ist es nicht beängstigend, wenn einen, wie bei den Iran-Protesten geschehen, das US-Außenministerium anfleht, seine Webseite unter allen Umständen online zu lassen? „Es passiert jede Woche etwas Unglaubliches,“ sagt Stone. „Wir nehmen mittlerweile auf der globalen Bühne einen Platz ein. Es ist einschüchternd, und großartig.“

Motor der Beschleunigung?

Dann räumt er ein, dass es im Zentrum des Sturms doch nicht ganz so ruhig ist, wie es zunächst den Anschein hat. „Bei Twitter geht alles schneller. Es ist schneller gewachsen als herkömmliche Unternehmen, wir bewegen uns schneller.“ Damit sei Twitter ganz ein Kind seiner Zeit, sagt Stone: „Wir sind gerade in ein Zeitalter eingetreten, in dem die Dinge einfach schneller laufen.“ Daher brauche man Instrumente, um mit dieser allgemeinen Beschleunigung Schritt zu halten – Instrumente wie Twitter.

Das ist aber nicht die ganze Geschichte. Twitters bisheriger Erfolg mag ein Symptom der Zeit sein. Das neue Medium gestaltet aber zunehmend aktiv die Welt mit, der es entsprungen ist. Vielleicht ist Twitter nicht nur Symptom der Beschleunigung, sondern trägt zu dieser selbst massiv bei?

Biz Stone lächelt. „Vielleicht ist das so. Aber kommt es Ihnen nicht auch so vor, als wenn in Ihrem Leben plötzlich einfach alles schneller gehen würde?“


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Übersetzung der gekürzten Fassung: Zilla Hofmann
Geschrieben von

Bobby Johnson, The Guardian | The Guardian

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