Im (Mittleren)Osten nichts Neues

Afghanistan-Dossier Für die Afghanen steht nichts Überraschendes in den Wikileaks-Protokollen. Es würde sie nicht einmal wundern, wenn das Weiße Haus von deren Veröffentlichung gewusst hätte

Julian Assanges bemerkenswerte Verdienste um Wahrheit, Transparenz und Demokratie werden auch von den Menschen in Afghanistan begrüßt, es findet sich allerdings wenig in den Wikileaks-Enthüllungen, worüber die Afghanen besonders überrascht gewesen wären. Die nationalen Medien hielten sich weitgehend mit Kommentaren zurück und beschränkten ihre publizistische Arbeit in erster Linie auf die Berichterstattung über die Veröffentlichung der bis dato geheimen Dokumente.

Nur ein paar Zeitungen bemühten sich darum, eine klare Haltung zu der Geschichte einzunehmen. Diese Zurückhaltung kann man nun so oder so interpretieren. Angesichts der Tatsache, dass die Protokolle in erster Linie den Hauptverbündeten der afghanischen Regierung in Washington kompromittieren, indem sie zeigen, dass die US-Armee wenig Rücksicht auf zivile Opfer nimmt, könnte man vermuten, dass die Zeitungen einer möglichen Konfrontation mit der Kabuler Regierung aus dem Wege gehen wollten. Die gedämpfte Reaktion könnte aber auch die banale Ursache haben, dass für Afghanen schlicht nichts Neues in den Protokollen zu finden ist.

Wenn überhaupt, dann bestätigen die Wikileaks-Protokolle die oft geäußerte Sorge der afghanischen Behörden, dass die Nachbarstaaten eine Schlüsselrolle bei der systematischen Unterminierung der Nato-Anstrengungen spielen. Mit den Worten des Pressesprechers von Präsident Hamid Karsai, Wahid Omer: „Die schiere Zahl der Berichte mag überraschen, ihr Inhalt indes nicht. Für uns sind zwei Themen von Belang, die immer wieder in den Geheimdokumenten auftauchen: die Frage der zivilen Opfer und die Rolle des pakistanischen Geheimdienstes ISI bei der aktiven Destabilisierung der Sicherheitslage in Afghanistan.“

Ein ähnlicher Tenor ist von der regierungsfreundlichen Tageszeitung Heward zu vernehmen, in der zu lesen war, die Wikileaks-Enthüllungen bestätigten die Einschätzung der afghanischen Behörden, dass die eigentlichen Ursachen für den Terrorismus nicht in Afghanistan selbst, sondern außerhalb des Landes lägen und nur wenig dafür getan werde, das Leben und den Besitz der afghanischen Zivilisten zu schützen.

Eines der wenigen Blätter, die die Enthüllungen kommentierten, war die unabhängige Tageszeitung Hasht-e-Sobh. In einem Leitartikel mit der Überschrift „Die nicht allzu geheimen Geheimnisse“ war zu lesen: „Trotz des Wirbels, der weltweit um die Dokumente gemacht wird, ist in ihnen kaum etwas zu finden, das wir nicht schon wussten“ – die tatkräftige und bestimmte Unterstützung Islamabads für die Taliban und andere terroristische Gruppen, die in Afghanistan für schreckliche Akte der Gewalt verantwortlich sind; der Umstand, dass die Taliban mittlerweile Zugang zu modernen Waffen haben, oder die Tatsache, dass Mitarbeiter des ISI bei Zusammenkünften von Terroristen zugegen sind und diese logistisch, finanziell und moralisch unterstützen, sind alles Dinge, die sowohl die afghanischen Bürger wie auch die afghanischen Behörden schon lange vermutet haben, wenn sie nicht sogar Gewissheit darüber hatten. Mit den Worten von Hasht-e Sobh: „Wenn überhaupt, dann haben die pakistanischen Behörden nur wenig unternommen, dies geheim zu halten.“

Was wusste Washington?

Für die Afghanen besteht die drängendere Frage, die die Wikileaks-Enthüllungen aufwerfen, darin, in welchem Maß Kabuls internationale Verbündete über das Engagement Pakistans bei der Vereitelung eines Erfolges der Nato-Truppen Bescheid wussten. Hasht-e Sobh zeigte sich hier in Bezug auf Washingtons Unschuld äußerst skeptisch: „Es ist geradezu albern zu glauben, Pakistan habe Washington mit derartigen Geheimaktionen an der Nase herumzuführen wollen.“ Was aber ist mit dem Rest der Nato-Mitgliedsstaaten, deren Soldaten gegenwärtig in Afghanistan stationiert sind? Hasht-e Sobh: „Wenn man bedenkt, dass in all den Jahren des Dschihads gegen die Sowjetunion die internationale Gemeinschaft Informationen ausgetauscht und Pakistan dafür bestimmt hatte, an ihrer Stelle in Afghanistan gegen die Sowjets zu kämpfen, fällt es uns schwer zu glauben, dass die Enthüllungen sie völlig überrascht haben.“

Wie Hasht-e Sobh vermutet auch die Tageszeitung Khedmatgar, dass die Protokolle, entgegen allem Anschein, mit der Zustimmung Washingtons veröffentlicht wurden und den Versuch darstellen, Islamabad unter Druck zu setzen, die Verbindungen zu den Taliban abzubrechen. Die Zeitung wies darauf hin, dass US-Außenministerin Hillary Clinton schon vor den Wikileaks-Enthüllungen öffentlich erklärt habe, dass die al Qaida-Führung und das Haqqani-Netzwerk sich in Pakistan versteckten. Kehdmatgar unterstellt, dass solche Ankündigungen auf die bevorstehenden Enthüllungen durch WikiLeaks vorbereiten sollten. Mit anderen Worten, Washingtons Verurteilung von Wikileaks habe nur als Deckmantel für eine Kampagne gedient, mit der Pakistan moralisch unter Druck gesetzt werden solle, endlich über sein doppeltes Spiel ins Reine zu kommen.

Besorgnis und Erleichterung zugleich

Vor dem Hintergrund, dass zuletzt sowohl die afghanische Regierung als auch die afghanische Bevölkerung im Allgemeinen allein für das Scheitern des Demokratisierungsprozesses in ihrem Land verantwortlich gemacht wurden, geben die Wikileaks-Protokolle den meisten Afghanen Anlass zur Besorgnis und Erleichterung zugleich. Besorgnis, weil die Berichte zeigen, dass der Ausgang des Krieges mit großer Wahrscheinlichkeit von feindlichen Regionalmächten bestimmt wird, die wenig Interesse an einem stabilen Afghanistan haben, das von der internationalen Gemeinschaft unterstützt wird. Erleichterung, weil die Berichte zeigen, dass die Vorstellung, die kriegerische und zum Extremismus neigende Natur der Afgahnen sei allein für die Gewalt verantwortlich, einer kritischen Überprüfung nicht standhält.

Derlei kulturrelativistische Theorien hatten immer mehr an Zustimmung gewonnen, insbesondere in der linksliberalen Presse der USA und Europas. Die Wikileaks-Berichte zeigen jedoch, dass, obwohl die Korruption in Afghanistan mit Sicherheit zur Destabilisierung des Landes beiträgt, die finanzielle und logistische Unterstützung zur Tötung ausländischer Soldaten aus Staaten erfolgt, die ein Interesse am Scheitern der Nato-Mission in Afghanistan haben. Mit anderen Worten: Auch wenn die Afghanen eine Mitschuld an ihrer eigenen Misere tragen, kommt die aktive Unterstützung für den Krieg von außerhalb.

Afghanistan hat schon immer einen hohen Preis für seine geostrategische Lage bezahlt – auch das ist für die Afghanen schon seit langem nichts Neues mehr.

Zum Erscheinen der "Kriegsprotokolle" auf Wikileaks, in Guardian, New York Times und Spiegel am Montag:

Nick Davies und David Leigh: Ein Bild des Scheiterns

Zur Jagd nach der Quelle:

Nick Davies: Scoop des Jahrhunderts

Zur Strategie von Wikileaks:

Steffen Kraft: Der Doppelschlag




Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Nushin Arbabzadah | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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